Nr. 65/2010
Recht der Öffentlichkeit auf Kenntnis der Tatsachen / Journalistische Weisungen

(Demokratiebewegung Liechtenstein c. «Liechtensteiner Vaterland»)

I. Sachverhalt

A. A. Am 18. Juni 2010 präsentiert die Tageszeitung «Liechtensteiner Vaterland» auf Seite 7 die Herbstvorschau des Verlags Van Eck. Neben dem betreffenden Dreispalter ist eine Fotografie des Programms und – fast sechs Zentimeter hoch – die Titelillustration der Neuerscheinung «Die Entführung» von Armin Öhri zu sehen. Ein Sechstel des Textes ist dem Erzählband gewidmet:

«Nach dem Erfolg von ‹Das Nachtvolk› präsentiert der junge Romanautor Armin Öhri diesen Herbst ‹Die Entführung›, ein(en) Stoff aus der liechtensteinischen Krisenzeit, nämlich die Vorgänge rund um die geplante Entführung der Gebrüder Rotter im April 1933. Eine spannende Erzählung über die schockierenden Ereignisse, die als ‹Rotter-Affäre› bekannt wurden.»

B. Am 19. August 2010 veröffentlicht das «Liechtensteiner Volksblatt» einen Artikel von Jessica Nigg über die anstehende Veröffentlichung des neuen Buches von Armin Öhri (Titel: «Rotes Tuch für ‹rote Herren›»; Untertitel: «Eine noch nicht erschienene Erzählung um die ‹Rotter-Affäre› erhitzt die Gemüter»). Das Buch schlage hohe Wellen, noch bevor es erschienen ist. «Es geht um Abwendung, Boykott und Drohungen.» Im Gegensatz zur letzten Erzählung Öhris habe «Die Entführung» beim Vaduzer Medienhaus (Herausgeber des «Liechtensteiner Vaterland)» und bei anderen Kulturinstitutionen nur ein absolutes Minimum an Unterstützung gefunden. «Offenbar habe man sich nicht die Finger verbrennen wollen, mutmassen Autor und Verleger.»

Das «Vaterland» habe Öhri mitgeteilt, es werde das Buch weder rezensieren noch ein Interview mit dem Autor machen. «Die ‹Rotter-Affäre› sei ein Tabu. Bei nochmaligem Nachfragen wurde die hartnäckige Weigerung, dieses Thema anzugehen, in einer E-Mail mit ‹den alten roten Herren› in der Chefetage des Medienhauses begründet, die (noch) am längeren Hebel sässen. Es sei nicht persönlich gemeint, es wollten einfach alle ihren Job behalten, heisst es darin weiter (E-Mail liegt der Redaktion vor).» Auch einzelne Kulturinstitutionen hätten blockiert und zum Beispiel Lesungen verweigert. Hinzu seien anonyme E-Mails gekommen.

C. Tags darauf, eine Woche vor dem geplanten Erscheinungstermin der «Entführung», druckt das «Vaterland» einen fünfspaltigen Leitartikel seines Chefredaktors Günther Fritz. Darin verwahrt sich dieser mit Nachdruck dagegen, dass ihm und seinem Blatt von aussen oktroyiert werden solle, was es zu veröffentlichen habe:

«Bis jetzt ging der Autor dieses Leitartikels davon aus, dass eine Redaktion mit Blick auf das Leserinteresse immer noch selber entscheiden kann, wie und in welchem Umfang über eine Buchneuerscheinung berichtet wird. Im Fall des Autors Armin Öhri und seines Buches «Die Entführung» hat das ‹Vaterland› bereits am 18. Juni auf die interessante Neuerscheinung, von der auch das Cover abgebildet wurde, hingewiesen. Von einem Boykott kann also keine Rede sein.»

Zugleich wehrt sich Fritz gegen die Unterstellungen in der vom «Volksblatt» zitierten E-Mail: «Richtig ist, dass der Chefredaktor des ‹Vaterland› die Redaktion angewiesen hat, dem Ansuchen von Armin Öhri, mit ihm ein Interview zu führen und eine Buchrezension zu schreiben, nicht zu entsprechen. Als Entscheidungsgrundlage für diesen einsamen und mit niemandem sonst abgesprochenen Entscheid dienten dem Chefredaktor seine Erfahrungen, die er mit (…) Beiträgen über die ‹Rotter-Affäre› in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht hat. Die entsprechende Kritik vonseiten vieler Leserinnen und Leser, der Redaktion fehle bei solchen historischen Themen die notwendige Sensibilität, hat ihn gelehrt, Zurückhaltung zu üben.»

Weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart habe das Befassen mit der «Rotter-Affäre» jemanden beinahe den Job gekostet. «Die vom ‹Volksblatt› genüsslich ausgebreitete Verschwörungstheorie, dass die VU [Vaterländische Union] heute Mühe habe, sich mit der ‹Rotter-Affäre› auseinanderzusetzen, entbehrt somit jeglicher Grundlage.»

D. Am 2. September 2010 beschwert sich Jochen Hadermann, Präsident der Demokratiebewegung Liechtenstein, beim Schweizer Presserat über den Leitartikel von Günther Fritz. «Wir sind empört, dass ein Chefredaktor so weit geht und Leser/innenhaltungen vorweg nimmt, um sie für seine Ablehnung zu benutzen», schreibt Hadermann.

Die Demokratiebewegung empfinde dieses «Vorgehen des Chefredaktors unangemessen und einer Zeitung unwürdig. Wir sind der Auffassung, dass die Medien als vierte Macht im Staat die Pflicht haben, unzensiert und unvoreingenommen zu berichten und dass es nicht im Ermessen eines Chefredaktors liegen kann, zu entscheiden, ob eine Buchbesprechung ein ‹sensibles Thema› berührt oder nicht.»

E. Am 13. Oktober 2010 weist Günther Fritz die Beschwerde namens der Redaktion des «Liechtensteiner Vaterland» als unbegründet zurück. Die «Rotter-Affäre» gehöre zweifellos zu den dunkelsten Kapiteln in der liechtensteinischen Geschichte. Seine Zeitung habe in den vergangenen zehn Jahren regelmässig darüber berichtet, obwohl die Affäre heute «als historisch aufgearbeitet» gelte – und obwohl es «einen kleinen Kreis von ‹Vaterland›-Stammleserinnen und -Stammlesern immer noch belastet und emotional aufrührt». Die Fakten seien nun hinreichend bekannt und es sei unnötig, diese Geschichte immer wieder aufzuwärmen, fasst Fritz die Stimmungslage in diesem Teil seiner Leserschaft zusammen und betont: «Dennoch haben wir dieses Thema nie tabuisiert.»

Seine Zeitung habe das Erscheinen des Buches «Die Entführung» keineswegs verschwiegen: «Auf das Ersuchen des Verlegers, im Hinblick auf die Publikation am 27. August 2010 mit dem Autor Armin Öhri ein Interview zu führen oder eine ausführliche Buchrezension zu verfassen, bin ich jedoch nicht eingegangen.» Er, Fritz, folge dabei seiner «Überzeugung, dass die ‹Rotter-Affäre› immer noch ein sehr ernstes und sensibles Thema ist und sich deshalb wenig dazu eignet, um in der Form eines halbfiktiven Kriminalromans einen Beitrag zur sachlichen Aufarbeitung der unguten Vorfälle in den 30-er Jahren leisten.»

Fritz schildert weiter, wie sich Autor und Verleger immer wieder an die Redaktion gewandt hätten und mit grosser Dringlichkeit zu erfahren suchten, «wer denn genau hinter der ablehnenden Haltung der Redaktion stecke (…) Die sich dabei entwickelnde Eigendynamik erreichte dann ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung eines vertraulichen E-Mails eines unserer Redaktionsmitglieder an den Buchautor in unserem Konkurrenz-Printmedium, dem ‹Liechtensteiner Volksblatt›», am 19. August 2010.

In seinem Leitartikel vom 20. August 2010 habe er seinen Entscheid, dem Autor kein Interview zu gewähren und auf eine ausführliche Buchrezension zu verzichten, öffentlich begründet. Insbesondere habe er dargelegt, dass für diesen Entscheid ausschliesslich er als Chefredaktor verantwortlich sei.

Hingegen habe das «Vaterland» eine öffentliche Lesung des mittlerweile erschienenen Kriminalromans zum Anlass genommen, um am 20. September 2010 erneut über Werk und Autor zu berichten: «In diesen Bericht haben wir überdies eine Buchrezension integriert.»

F. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Klaus Lange, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 16. Dezember 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. In seiner bisherigen Praxis hat der Schweizer Presserat eine grenzüberschreitende Ausdehnung seiner Zuständigkeit auf ausländische Medien abgelehnt (Stellungnahmen 36/2004, 34/2005, 12/2007). Daran ist grundsätzlich festzuhalten. Bei liechtensteinischen Medien ist allerdings insofern eine Ausnahme zu machen, als sowohl die beiden Tageszeitungen «Vaterland» und «Volksblatt» Mitglieder des Verbands Schweizer Medien, einem der Träger der Stiftung «Schweizer Presserat» sind, als auch viele Liechtensteiner Journalistinnen und Journalisten einem der schweizerischen Journalistenverbände angehören. Das «Liechtensteiner Vaterland» hat sich denn auch vorbehaltlos auf die Beschwerde der Demokratiebewegung Liechtenstein eingelassen.

2. Soweit die Beschwerdeführerin vom Schweizer Presserat erwartet, «in dieser Angelegenheit direkt auf das ‹Liechtensteiner Vaterland›» einzuwirken und dieses dazu zu verpflichten, «die Angelegenheit auch öffentlich zu machen», ist auf Art. 16 Abs. 4 des Geschäftsreglements des Presserats hinzuweisen. Danach kann der Presserat in seinen Stellungnahmen Feststellungen treffen und Empfehlungen erlassen. Er kann aber weder Sanktionen verfügen noch den Redaktionen Weisungen erteilen.

3. a) Laut der Präambel der «Erklärung» sichern die Journalistinnen und Journalisten den gesellschaftlichen Diskurs. Gemäss Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten» lassen sie sich dabei vom «Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren». Der Entscheid darüber, welche Sachverhalte zum Gegenstand dieses Diskurses gemacht werden, stellt eine der verantwortungsvollsten Aufgaben der Medienschaffenden dar. Diese sind dabei berufsethisch verpflichtet, allein nach journalistischen Kriterien, namentlich nach Aktualität, Originalität und Relevanz einer Nachricht zu entscheiden, ob eine Information abgedruckt wird (vgl. dazu zuletzt die Stellungnahme 56/2010).

Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 1/1992 festgehalten, dass die Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen im Ermessen der einzelnen Medienredaktion liegt. Dasselbe gilt für den Abdruck von Medienmitteilungen (11/1998), Leserbriefen (vgl. unter vielen die Stellungnahme 5/2008) sowie von unverlangt eingesandten Berichten oder solchen von freien Journalisten (17/2006).

b) Gemäss der Stellungnahme 37/2005 ist das freie Ermessen der Redaktionen bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen in verhältnismässiger Weise auszuüben. Der Presserat hat es in diesem Entscheid als willkürlich angesehen, dass eine Redaktion einen persönlichen Konflikt zwischen einem Theatermann und dem Chefredaktor zum Anlass nahm, auf unbestimmte Zeit nicht mehr über eine Theatergruppe zu berichten. Es gehe berufsethisch nicht an, sich beim Entscheid über die Publikation einer Information von anderen als journalistischen Kriterien leiten zu lassen.

c) Für den Presserat ist gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht erstellt, dass der Entscheid von Chefredaktor Fritz, der Neuerscheinung von Armin Öhri keine Buchrezension zu widmen und kein Interview mit dem Autor zu veröffentlichen, allein dadurch begründet wäre, dass ein «dunkles Kapitel aus der Geschichte Liechtensteins» aus Rücksicht auf einen Teil der Leserschaft verschwiegen werden soll. Im Gegenteil zeugen die vom «Vaterland» eingereichten Belege davon, dass die Zeitung in den letzten Jahren regelmässig über die «Rotter-Affäre» berichtet hat. Ebenso ist für den Presserat eine Zensur von Autor und Buch nicht ersichtlich, nachdem das «Vaterland» bereits am 18. Juni 2010 auf die Neuerscheinung hingewiesen und zudem am 20. September 2010 – wenn auch nach Einreichung der Presseratsbeschwerde der Demokratiebewegung Liechtenstein – einen ausführlichen Bericht über eine öffentliche Lesung des Autors veröffentlicht hat.

Mithin lag es im freien Ermessen der Redaktion, ob sie darüber hinaus auch eine separate Buchrezension und/oder ein Interview mit Armin Öhri veröffentlichen wollte.

4.a) Wer aber entscheidet innerhalb einer Redaktion, über welche Themen, mit welcher Gewichtung ein Medium berichtet? Die «Erklärung» macht keine Vorgaben dazu, wie die Redaktionen intern zu organisieren sind. Die Ziffer 11 der «Erklärung der Pflichten» lautet: «Sie nehmen journalistische Weisungen nur von den hierfür als verantwortlich bezeichneten Mitgliedern ihrer Redaktion entgegen, und akzeptieren sie nur dann, wenn diese zur ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› nicht im Gegensatz stehen.

Die im Rahmen der Erweiterung der Trägerschaft der Stiftung «Schweizer Presserat» per 1. Juli 2008 vereinbarten Protokollerklärungen zum Journalistenkodex verdeutlichen dazu: «Die Redaktionen entscheiden im Rahmen der publizistischen Linie des Mediums selbständig über den Inhalt des redaktionellen Teils.» Gemeint ist damit in erster Linie, dass sich die Verleger – abgesehen von Geschäftsmitteilungen – nicht mit Einzelweisungen ins journalistische Tagesgeschäft einmischen.

Der Presserat hat in der Stellungnahme 72/2009 zudem darauf hingewiesen, dass sich die Redaktionen von internen oder externen Fachleuten beraten lassen dürfen. Wichtig sei aber, dass in jedem Fall die Redaktionsleitung letztlich über die Publikation entscheidet.

b) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin entspricht es also sowohl üblicher Medienpraxis als auch den berufsethischen Normen, dass in Redaktionen, die hierarchisch organisiert sind, in letzter Instanz der Chefredaktor entscheidet, ob und falls ja, mit welcher Intensität ein Medium über ein Thema berichtet.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Das «Liechtensteiner Vaterland» ist berufsethisch nicht verpflichtet, aus Anlass der Veröffentlichung des Romans «Die Entführung» eine Buchrezension und/oder ein Interview mit dem Autor zu veröffentlichen. Die Zeitung hat die Ziffern 1 (Recht der Öffentlichkeit auf Information) und 11 (journalistische Weisungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.