Nr. 3/2010
Fairness / Wahrheit / Unterschlagung von Informationen / Anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(Regierungsrat des Kantons Bern c.«Der Bund»)

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I. Sachverhalt

A. Am 25. April 2009 berichtete «Der Bund» über das Projekt «Zukunft Bahnhof Bern» (nachfolgend: ZBB). Kanton Bern, Stadt Bern, SBB und RBS (Regionalverkehr Bern-Solothurn) planen mit dem Projekt, den Bahnhof Bern mit zwei neuen Tiefbahnhöfen für SBB und RBS zu er-weitern, um bestehende Platz- und Kapazitätsprobleme zu lösen und künftige Pendlerströme zu bewältigen.

In seinen Beiträgen «Bahnhofprojekt bemängelt» und «Doch kein neuer RBS-Tiefbahnhof» und «Kritik jahrelang ignoriert» bezieht sich Richard Aschinger auf einen ersten Zwischenbericht ei-nes Gutachtens des Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH, in den er Einsicht hatte. Der Zwischenbericht stelle die bisherige Planung in Frage. Nach Einschätzung des Gutachters sei der Bedarf für einen neuen RBS-Tiefbahnhof nicht erwiesen und die Finanzierung zudem «hoch riskant».

Die im ETH-Zwischenbericht geäusserte Kritik an der Bahnhofplanung sei nicht neu. Die berni-schen Behörden hätten «Kritik jahrelang ignoriert» und erst unter Druck des Bundesamtes für Raumentwicklung und von Verkehrspolitikern im eidgenössischen Parlament in das ETH-Gutachten eingewilligt. «Insider berichten, die bernischen Behörden hätten sich bis zuletzt gegen eine Überprüfung ihrer Planung durch eine unabhängige Instanz gewehrt.»

Im einem Kommentar («Eine Nummer zu gross?») folgert der Journalist: «Die Tatsache, dass die Bundesbehörden im letzten Herbst Regierungsrätin Barbara Egger das Einverständnis zu einer unabhängigen Überprüfung der Planung abgerungen haben, ist Gold wert. Falls das Projekt nun noch einmal aufgeschnürt werden müsste, besteht nun eine glaubwürdige, transparente Basis.»

B. Am 12. Juni 2009 setzte sich Richard Aschinger im «Bund» erneut in zwei Berichten («Bahnhofplanung wankt» und «Bahnhofprojekt steht auf der Kippe») kritisch mit dem Projekt auseinander. Der ETH-Gutachter habe seine im Zwischenbericht formulierten Einwände im Schlussbericht bestätigt. Durch die bevorstehende Publikation des Gutachtens sei der Druck gewachsen, das bisherige Konzept zu überdenken. Jetzt schon zeichne sich ab, dass wichtige Partner vom Projekt abrückten. «Bei der Stadt wird ein Planungskredit blockiert. Bei den SBB will der Präsi-dent eine Überarbeitung des Projekts, ohne Verkehrsdirektorin Barbara Egger blosszustellen.» Kritische Fragen stelle auch der Präsident der nationalrätlichen Verkehrskommission. Schliesslich meldeten Bundesparlamentarier «nach einem Gespräch Signale, dass der neue SBB-Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi das Projekt mit den zwei Tiefbahnhöfen auf Kosten und Folgekosten überprüft sehen will». Laut einem «Kadermann» der SBB habe diese jedoch kein Interesse daran, die Berner Verkehrsdirektorin zu «brüskieren», da Bern der zweitwichtigste Pendler-Markt des Landes sei.

C. Am 24. Juni 2009 gelangte der Regierungsrat des Kantons Bern mit einer Beschwerde gegen den «Bund» an den Presserat.

Entgegen der Darstellung in den Berichten vom 25. April 2009 hätten die Projektverantwortlichen, insbesondere die Berner Regierungsrätin Barbara Egger, das externe Gutachten von sich aus und nicht erst auf Druck der Bundesbehörden veranlasst. Die vom Kanton Bern geleiteten Organe hätten seit längerem erwogen, eine Second Opinion ausarbeiten zu lassen und die ETH bereits im Mai 2008 kontaktiert. Richard Aschinger habe den Vorwurf am 25. April 2009 wie-derholt, obwohl er bereits Mitte November 2008 auf den Fehler hingewiesen worden sei.

Zudem behaupte der Bund in den Berichten vom 12. Juni 2009, die SBB setze sich vom Projekt mit zwei Tiefbahnhöfen ab. Richard Aschinger habe im Vorfeld der Veröffentlichung des Textes jedoch mit keinem der beiden als Beispiele für die «Absetzbewegung» erwähnten SBB-Exponenten gesprochen, um seine Arbeitsthese zu verifizieren. Vielmehr habe er seine Behaup-tung aus Gesprächen mit Drittpersonen gefolgert. Die Aussagen des SBB-Vertreters im Projekt-leitungsorgan, Philippe Gauderon, Leiter Division Infrastruktur SBB, anlässlich der Medienkon-ferenz vom 15. Juni 2009 bezeugten zudem, dass die SBB entgegen der Darstellung des «Bund» nach wie vor hinter dem Gesamtprojekt stünden.

Mit der Veröffentlichung der beiden Berichte habe der «Bund» das Fairnessprinzip sowie die Zif-fern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen oder Entstellen von Informationen) und 7 (anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

D. Am 13. August 2009 beantragte die vom Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene «Bund»-Redaktion, die Beschwerde sei abzuweisen.

Regierungsrätin Barbara Egger habe Richard Aschinger zwar darauf hingewiesen, die Projektverantwortlichen hätten das wissenschaftliche Gutachten von sich aus in Auftrag gegeben. Und tatsächlich habe die Projektleitung bereits im Mai 2008 mit der ETH Kontakt aufgenommen. Danach habe aber monatelang Funkstille geherrscht, bevor es dann plötzlich sehr schnell habe gehen müssen. Gemäss dem «Bund» vorliegenden Informationen habe die Projektleitung einem unabhängigen, kritischen Gutachten erst dann zugestimmt, «als in der nationalrätlichen Verkehrskommission Ende Oktober 2008 ein Antrag auf dem Tisch lag, der die Bundesbehörde aufforderte, nötigenfalls selbst eine Expertise machen zu lassen». Die vom Beschwerdeführer eingereich-ten Protokolle der erweiterten Projektleitung machten klar, dass zuvor bloss eine Gefälligkeitsstudie mit vorab bekannter Hauptaussage geplant gewesen sei («Schlussaussage: Die Folgerichtigkeit der Variantenwahl ist richtig»). Da Richard Aschinger über dieses Seilziehen um ein unabhängiges Gutachten informiert gewesen sei, habe für den «Bund» keine Veranlassung bestanden, seine Sachdarstellung zu ändern, nachdem Regierungsrätin Egger diese als falsch bezeichnet hatte.

Zum zweiten Vorwurf der Beschwerde, der «Bund» konstruiere in der Ausgabe vom 12. Juni 2009 eine nicht belegte Distanzierung der SBB vom Projekt ZBB, räumen die Beschwerdegegner ein, es treffe zu, dass Richard Aschinger vor der Publikation nicht direkt mit dem SBB-Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi gesprochen habe. Die Auskunft von SBB-Kommunikationschef der SBB Danni Härry, wonach die SBB an der Medienkonferenz vom 15. Juni nur als «Gast» anwesend sein werde, «passe» jedoch zu «Signalen», welche Ulrich Gygi in einem Gespräch mit dem Tessiner Planer und Nationalrat Fabio Pedrina im Juni 2009 gegeben habe. Danach wolle letzterer «das Projekt mit den zwei Tiefbahnhöfen auf Kosten und Folgekos-ten überprüft sehen». Pressesprecher Härry habe diese Aussage aus einem «privaten Gespräch» zwar nicht kommentieren wollen. Dessen Reaktion habe jedoch den Eindruck bestätigt, den der Autor zuvor aus einem Kontakt mit einem weiteren langjährigen Kadermann der SBB erhalten habe. Dieser habe erklärt, die SBB hätten Zweifel an der Realisierbarkeit des Projekts, aber kein Interesse an einem offenen Konflikt mit dem Kanton Bern.

E. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Andrea Fiedler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch und Max Trossmann. Daniel Suter trat von sich aus in den Ausstand.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Januar 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Hat die ZBB-Projektleitung ein unabhängiges Gutachten von sich aus oder erst auf äusseren Druck in Auftrag gegeben? Der Presserat kann diese Frage anhand der ihm zur Verfügung ge-stellten Unterlagen nicht eindeutig beantworten. Zwar geht aus den vom Beschwerdeführer eingereichten Protokollen hervor, dass in der erweiterten Projektleitung bereits im Mai 2008 über ein externes Gutachten diskutiert und die ETH ein erstes Mal kontaktiert wurde. Insgesamt stüt-zen die Protokollauszüge aber eher die Sichtweise des «Bund», wonach ein externes Gutachten anfänglich vor allem als argumentative Unterstützung für die bevorzugte Projektvariante mit zwei Tiefbahnhöfen gedacht war. Zudem zeigen die Protokolle auch auf, dass die Auftragserteilung erst Ende 2008 erfolgte, also nach der Diskussion des Projekt in der nationalrätlichen Verkehrskommission. Wenn Richard Aschinger aus dieser zeitlichen Koinzidenz und aus weiteren Quellen folgerte, die ZBB-Projektleitung habe bei der Auftragserteilung für das Gutachten unter Druck des Bundesamtes für Raumentwicklung und Verkehrspolitikern gehandelt, verstösst diese wertende Interpretation der Fakten nach Auffassung des Presserates weder gegen das Fairness-prinzip noch gegen die Wahrheitspflicht, noch ist sie als anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigung im Sinne der Ziffer 7 der «Erklärung» zu beanstanden.

b) Wäre der «Bund» gestützt auf die Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagung/Entstellung von Tatsachen) hingegen zumindest verpflichtet gewesen, auf die abweichende Darstellung von Re-gierungsrätin Barbara Egger hinzuweisen, wonach sie bzw. die Projektleitung das Gutachten aus eigenem Antrieb und nicht auf Druck von aussen veranlasst habe?

Der Presserat hält in konstanter Praxis fest, dass aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver Berichterstattung» abgeleitet werden kann (vgl. hierzu zuletzt die Stellungnahmen 10, 52 und 54/2009). Danach war vorliegend auch eine etwas einseitige, der Projektleitung gegenüber kriti-sche Berichterstattung berufsethisch zulässig. Die gegen Regierungsrätin Egger und die Projekt-leitung im Zusammenhang mit der Auftragserteilung für das ETH-Gutachten erhobene Kritik ist nach Auffassung des Presserates zudem nicht als schwerer Vorwurf im Sinne der Richtlinie 3.8 zu werten, der eine Anhörung der Betroffenen und eine Wiedergabe ihres Standpunkts zwingend hätte erscheinen lassen. Die Kritik, Regierungsrätin Egger bzw. die Projektleitung habe erst rela-tiv spät, unter äusserem Druck in ein externes Gutachten eingewilligt, lässt die davon Betroffenen nicht in einem besonders schlechten Licht erscheinen, sondern bewegt sich im üblichen Rahmen der politischen Auseinandersetzung über eine komplexe Planung.

2. Durfte Richard Aschinger in den Berichten vom 12. Juni 2009 zudem schreiben, die SBB gehe auf Distanz zum Projekt mit zwei Tiefbahnhöfen? Nach Meinung des Presserates hat der «Bund» auch mit der Veröffentlichung dieser These weder wichtige Tatsachen im Sinne von Ziffer 3 der «Erklärung» entstellt, noch anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen im Sin-ne von Ziffer 7 erhoben.

Mit Formulierungen wie «es zeichnet sich ab, dass wichtige Partner vom Projekt abrücken», «ob nun alles so rund läuft scheint zweifelhaft»; «es scheint vorbei zu sein», (dass die Berner Bahn-hofplanung in der SBB-Konzernleitung noch kein Thema sei) und «Bundesparlamentarier mel-den nach einem Gespräch Signale», legt der Autor offen, dass er Einschätzungen und nicht fest-stehende Tatsachen wiedergibt. Der Artikel «Bahnhofprojekt steht auf der Kippe» nennt zudem die Quellen (SBB-Medienstelle, Bundesparlamentarier und ein SBB-Kadermann), auf die sich die These stützt, so dass die Leserschaft in die Lage versetzt wird, sowohl die Bedeutung der Information zu gewichten als auch deren Herkunft einzuordnen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «Der Bund» hat mit den Berichten zum Projekt «Zukunft Bahnhof Bern» vom 25. April 2009 («Bahnhofprojekt bemängelt»; «Doch kein neuer RBS-Tiefbahnhof»; «Kritik jahrelang ignoriert»; «Eine Nummer zu gross?») und vom 12. Juni 2009 («Bahnhofplanung wankt»; «Bahnhof-projekt steht auf der Kippe») das Fairnessprinzip und die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung oder Entstellung von Informationen) und 7 (anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschul-digungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.