Nr. 54/2010
Wahrheit / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen / Unabhängigkeit

(Juso Luzern c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 15. Juli 2010 berichtete Zentralschweizkorrespondent Martin Merki unter dem Titel «Die Eidgenossen haben ausgedient» in der «Neuen Zürcher Zeitung», der bisherige, jährliche Umzug zum Gedenken an die Schlacht von Sempach von 1386 solle ab 2011 zum «Dialog-Anlass» umgebaut werden. «Ziel der Neuorientierung ist es, die Rechtsextremen abzuhalten.» Der seit Jahrzehnten durchgeführte «Zug von historisch eingepackten Kriegern vom ‹Städtli› Sempach zum Winkelried-Denkmal oben auf der Anhöhe» werde «zu einem Mittelalterfest mit Mittelaltermarkt in Sempach ausgebaut, vielleicht sogar mit einer Bühne auf dem Sempachersee.»

Ziel der Neugestaltung sei ein «Paradigmenwechsel: Neu stehen gemäss Regierungsrat das Gedenken an die Ursprünge des Territorialstaates Luzern und das Nachdenken über Gegenwart und Zukunft im Zentrum. Statt Mythen sollen neue historische Erkenntnisse fruchtbar gemacht werden. Wie genau dies geschehen soll, ist offen.»

Grund für die Neuorientierung sei, «dass in den letzten Jahren Rechtsextreme mitmarschierten und nach der offiziellen Feier einen eigenen Kranz niederlegten. Für staatspolitische Reden oder die Darbietungen von Schulkindern schienen sie sich ebenso wenig zu interessieren wie die Linksextremen, denen ein Dorn im Auge ist, dass die Polizei die ‹Rechten› nicht stärker in die Schranken weist. Vor einem Jahr konnte nur ein massives Polizeiaufgebot für Ruhe zwischen Rechts- und Linksextremen sorgen».

B. Am 19. Juli 2010 gelangten Nina Laky, Grossrätin SP/Juso, und David Roth, Grossrat SP/Juso, namens der Jungsozialisten (Juso) Luzern mit einer Beschwerde gegen den obengenanten Bericht an den Presserat und rügten, dieser verstosse gegen die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Unabhängigkeit) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

Am 27. Juni 2009 habe die Juso Luzern eine Kundgebung gegen die Präsenz Rechtsextremer an der Sempacher Schlachtfeier durchgeführt. Der Anlass sei bewilligt gewesen und friedlich verlaufen. Rund ein Jahr später habe der Regierungsrat ein neues Konzept präsentiert, das Rechtsextreme von der Feier fernhalten soll. Im Bericht über dieses neue Konzept insinuiere Merki in verunglimpfender Weise, dass die Juso eine linksextremistische Partei sei.

Extremismus werde gemeinhin so verstanden, wie er auch vom EJPD im Extremismusbericht von 2004 definiert wird: «Unter Extremismus werden diejenigen politischen Richtungen verstanden, welche die Werte der freiheitlichen Demokratie und des Rechtsstaats ablehnen. (…) Extremistisch werden diese Positionen erst, sobald jemand von der Randposition aus den Anspruch erhebt, für eine grössere Menge oder sogar für alle zu sprechen, und dementsprechend einzeln oder zusammen mit anderen beginnt, seine oft einseitigen Ansprüche gegen die Mehrheit zu stellen und auch gewaltsam durchzusetzen.» Dies treffe weder auf die Juso noch auf die einzelnen Teilnehmer/innen der Gegendemonstration zu. Noch ein Jahr zuvor habe die NZZ eine SDA-Meldung über eine «bewilligte Kundgebung der Jungsozialisten» abgedruckt.

Besonders störend an der aktuellen, nicht wahrheitsgemässen Berichterstattung sei, dass Martin Merki seine journalistische Position ausnütze, «um seine politischen Gegner in die Extremismusecke zu drängen». Merki gehöre seit Anfang 2010 dem Luzerner Grossstadtrat an und sei kürzlich Chef der FDP-Fraktion geworden. Drei andere Mitglieder dieses Parlaments hätten an der Juso-Demonstration vom 27. Juni 2009 teilgenommen, «darunter auch Mitorganisator David Roth».

C. In ihrer Beschwerdeantwort vom 20. August 2010 beantragten Chefredaktor Markus Spillmann und Rechtskonsulentin Claudia Schoch namens der Redaktion NZZ und NZZ-Korrespondent Martin Merki, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Die beiden Beschwerdeunterzeichner seien als SP/Juso-Grossräte des Kantons Luzern ohne entsprechende Vollmacht nicht automatisch legitimiert, im Namen der Juso Luzern Beschwerde zu führen.

In der Sache bestreitet die NZZ, dass der Bericht ihres Zentralschweizer Korrespondenten über das neue Konzept der Sempacher Schlachtfeier eine Gleichsetzung der Juso Luzern mit Linksextremen vornimmt. Der Text habe weder die Juso noch deren 2009 durchgeführte Kundgebung erwähnt, welche vor der Schlachtfeier und ausserhalb der abgeriegelten Altstadt durchgeführt worden sei. An den Schlachtfeiern selber seien hingegen in den letzten Jahren jeweils sowohl Rechts- wie Linksradikale anwesend gewesen. Allein darauf habe der Bericht im letzten Abschnitt verwiesen. Zum Beleg dieser Auseinandersetzungen führt die NZZ verschiedene Medienberichte und weitere Quellen an. Der Vorwurf der wahrheitswidrigen Berichterstattung und der Verbreitung sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen entbehre deshalb jeglicher Grundlage.

Ebenso wenig missbrauche Martin Merki seine journalistische Funktion dazu, seine politischen Gegner in die «Extremismusecke» zu drängen. Der Korrespondent habe sich in einer schriftlichen Vereinbarung mit der Redaktion verpflichtet, sein politisches Mandat klar von seiner journalistischen Arbeit zu trennen und sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte entstehen. «Für Berichterstattungen in der NZZ über politische Auseinandersetzungen in der Stadt Luzern tritt Martin Merki in den Ausstand und organisiert eine professionelle Stellvertretung. Ferner vermeidet er jede parteipolitische Voreingenommenheit. Die getroffene Vereinbarung trage der Richtlinie 2.4 zur «Erklärung» Rechnung, wonach die Funktionen strikt zu trennen seien und dem Publikum die politische Funktion zur Kenntnis gebracht werden müsse. «Martin Merki musste in einer Volkswahl in den Grossen Stadtrat Luzern gewählt werden. Damit ist dem Publikum seine Funktion bekannt. Zudem sind die Volksvertreter in einer Stadt wie Luzern mit lediglich knapp 60’000 Einwohner weitgehend bekannt. Kommt noch dazu, dass Merki als Fraktionschef der FDP zusätzlich öffentlich wahrgenommen wird. Im konkreten Fall habe weder eine Nähe zum Gegenstand der Berichterstattung bestanden, noch wäre die Nennung der politischen Funktion verhältnismässig gewesen.

D. Am 11. Oktober 2010 reichten die beiden Beschwerdeunterzeichner eine von der Präsidentin Priska Lorenz unterzeichnete Vollmacht des Vorstands der Juso Kanton Luzern nach.

E. Am 13. Oktober 2010 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Dezember 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 6 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserats braucht es für die Einreichung einer Beschwerde keine besondere Legitimation. Entsprechend ist es für den Presserat nicht entscheidend, ob die Juso Kanton Luzern sich als eigenständiger Verein konstituiert haben oder ob sie rechtlich als einfache Gesellschaft zu betrachten sind (vgl. dazu zuletzt die Stellungnahme 63/2009). Für das Presseratsverfahren genügt es, dass sich die beiden Unterzeichner der Beschwerde mit der nachgereichten Vollmacht dahingehend ausweisen, dass sie ihre Beschwerde mit Ermächtigung des Vorstands der Juso Kanton Luzern eingereicht haben, als deren Beschwerde sie mithin zu behandeln ist.

2.a) Die Beschwerde wirft der NZZ im Hauptpunkt vor, der beanstandete Artikel bezeichne die Juso fälschlicherweise als «Linksextreme» und versuche so, sie in die Extremismusecke zu drängen. Dabei ist zwischen den Parteien unbestritten, dass diese Wertung unangemessen erscheint. Im Gegenteil macht die NZZ unter Hinweis auf andere Berichte geltend, sie habe immer deutlich zwischen Juso und Linksextremen unterschieden.

b) Zwischen den Parteien umstritten ist hingegen, ob der Bericht vom 15. Juli 2010 diese Gleichsetzung macht. Auch wenn dies aus Sicht der Beschwerdeführer subjektiv so erscheinen mag, ist für den Presserat bei nüchterner Betrachtung des Artikels «Die Eidgenossen haben ausgedient» keinerlei Bezugnahme auf die Juso zu erkennen. Im Bericht ist lediglich von Auseinandersetzungen zwischen «Rechtsextremen» und «Linksextremen» die Rede, welche zur geplanten Neuorientierung der Sempacher Schlachtfeier Anlass gegeben habe.

Und auch wenn der Presserat den der Berichterstattung zugrunde liegenden Sachverhalt gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht abschliessend beurteilen kann, geht aus den durch die NZZ ihrer Beschwerdeantwort beigelegten Berichten anderer Medien zumindest hervor, dass bei den jüngsten Schlachtfeiern nicht nur Personen aus dem «linken Lager», wie die Beschwerdeführer, sondern auch gewaltbereite «Linksextreme» gegen die Instrumentalisierung des Anlasses durch Rechtsextreme protestiert haben.

3. a) Gemäss Ziffer 2 der «Erklärung» verteidigen die Journalistinnen und Journalisten die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen des Berufs. Dazu führt die Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen) zur «Erklärung» aus: «Die Ausübung des Berufs der Journalistin, des Journalisten ist grundsätzlich nicht mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion vereinbar. Wird eine politische Tätigkeit aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise wahrgenommen, ist auf eine strikte Trennung der Funktionen zu achten. Zudem muss die politische Funktion dem Publikum zur Kenntnis gebracht werden. Interessenkonflikte schaden dem Ansehen der Medien und der Würde des Berufs.»

b) Der Presserat hat sich in seiner Praxis verschiedentlich zu Fragen der beruflichen Unabhängigkeit und zu Interessenkonflikten geäussert. Bereits in der Stellungnahme 7/1996 forderte der Presserat die Trennung zwischen politischem Amt und journalistischer Tätigkeit. «Um ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit zu erhalten, sollten Journalistinnen und Journalisten Distanz wahren und Doppelfunktionen vermeiden. Deshalb ist eine strikte Trennung zwischen politischem Amt und journalistischer Tätigkeit insbesondere bei Medien mit regionaler Monopolstellung anzustreben. (…) Besteht bei der Behandlung eines Themas eine ‹grosse Nähe›, sollten Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder über das Thema berichten noch kommentieren. Zumindest aber sollten sie Transparenz gegenüber dem Publikum herstellen.»

Ebenso hat der Presserat in der Stellungnahme 13/1998 betont, berufliche und politische Funktionen seien zu trennen und transparent zu machen. «Dabei genügt es nicht, dass politische Funktionen nur innerhalb der Redaktion offen gelegt werden.» In der Stellungnahme 31/2001 präzisierte der Presserat, dass nicht jegliche politische Tätigkeit zu Interessenkonflikten führt und zu deklarieren ist. Zwar könne die Tätigkeit im Vorstand einer gesellschaftspolitisch tätigen Organisation «die berufsethisch gebotene Unabhängigkeit von Medienschaffenden beeinträchtigen. Die öffentliche Nennung dieser Funktion ist aber nur dann unabdingbar, wenn sie in direktem Zusammenhang zum Gegenstand einer Berichterstattung steht.»

c) Zwar ist den Beschwerdeführern zuzugestehen, dass es gerade bei einem Lokal- oder Regionalkorrespondent nicht gerade glücklich erscheint, wenn dieser eine politische Funktion ausübt, selbst wenn sie wie vorliegend klar von der journalistischen Tätigkeit getrennt wird. Ebenso genügt es gemäss der Praxis des Presserates zur Herstellung der erforderlichen Transparenz nicht, darauf zu vertrauen, dass eine politische Funktion eines Journalisten der Leserschaft allgemein bekannt ist (Stellungnahme 64/2009).

Im konkreten Fall bestand aber keine derartige Nähe zwischen dem Gegenstand der Berichterstattung und der politischen Tätigkeit von Martin Merki, die eine ausdrückliche Deklaration oder gar den Ausstand erfordert hätte. Deshalb ist die Beschwerde auch in diesem Punkt abzuweisen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Die Eidgenossen haben ausgedient» die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Unabhängigkeit) und 7 (sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.