Nr. 37/2010
Wahrheit / Trennung von Fakten und Kommentar / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Spuhler c. «Tages-Anzeiger»)

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 27. Februar 2010 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» in seinem Zürich-Bund einen Artikel mit dem Titel «Spuhlers exklusive Unterstützung». Untertitel: «Was hat das Zürcher Tram mit dem Stadtratswahlkampf zu tun? Eine Geschichte über Wahlkomitees.» Darin wird im Kontext der Frage, wie und von wem Parteien und Politiker im Wahlkampf finanziert werden, in einem ersten Teil das Beispiel des Unternehmer- und Ehepaars Daniela und Peter Spuhler-Hoffmann ausgeführt.

Im Wahlkomitee des freisinnigen Stadtrats Andres Türler finde sich unter 120 Namen auch derjenige von Daniela Spuhler-Hoffmann. Sie sei Inhaberin einer Zürcher Bauunternehmung, «die kürzlich für 64,4 Mio Franken das städtische Schulhaus Leutschenbach gebaut hat». Und sie sei die Ehefrau des Unternehmers und SVP-Nationalrates Peter Spuhler, dessen Stadler Rail Group Schienenfahrzeuge herstellt. Stadler Rail ist im Rennen für den Auftrag der Stadt Zürich für ein neues Tram, der nächstes Jahr ausgeschrieben werden wird und in dem es um ein Auftragsvolumen von 200 bis 300 Millionen Franken geht. Die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) unterstehen dem Departement der industriellen Betriebe; dessen Vorsteher ist Andres Türler.

Wie kommt es, fragt der Autor des Artikels zuerst sich – und daran anschliessend Frau Spuhler direkt – dass sie als SVP-Mitglied den Freisinnigen unterstütze und nicht den Parteikollegen ihres Mannes (und ihrer eigenen Partei)? Zufall, dass sie zudem exklusiv jenen Stadtrat unterstützt, dem die VBZ unterstehen, und nicht auch noch die beiden andern freisinnigen Kandidaten? Frau Spuhler antwortet kurz und bündig: Sie tue es aus langjähriger Freundschaft zu Türler, «mein Mann ist mein Mann und ich bin ich», sie lobbyiere nicht für Stadler Rail, und die Höhe der Wahlkampfspende sei ihre «Privatsache».

Der zweite Teil des Artikels befasst sich allgemein mit dem Thema «Wahlkampfspenden». Diverse Mitglieder anderer Parteien und politischer PR-Büros geben Meinungen, Beispiele und Stellungnahmen ab: Dass Spender eine politische Gegenleistung erwarten, könne man nie beweisen, aber natürlich würden Beziehungen geknüpft, die später von Nutzen sein könnten. Problematisch sei die Intransparenz. Die Wählerinnen und Wähler sollten wissen, wer wem wie viel Geld gibt und was für mögliche Abhängigkeitsverhältnisse daraus entstehen könnten.

B. Am 16. März 2010 gelangten die anwaltlich vertretenen Daniela und Peter Spuhler-Hoffmann an den Presserat mit der Beschwerde, der Artikel verletze die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Aussagen wie diejenigen über die Baufirma Barizzi stimmten nicht. Die Firma habe damals noch den Eltern von Frau Spuhler gehört und der auf die Barizzi AG entfallende Teil des Auftragsvolumens für das Schulhaus Leutschenbach sei deutlich weniger als zehn Millionen gewesen). Ausserdem unterstütze ein beachtlicher Teil der Baubranche ebenfalls Stadtrat Türler. Der Artikel spreche einen Generalverdacht aus, dass das Ehepaar Spuhler und die Stadler Rail Group einen Politiker bezahle beziehungsweise «schmiere». Zudem habe Daniela Spuhler-Hoffmann das Interview nicht gegenlesen und autorisieren können und Peter Spuhler sei zu den gegen ihn erhobenen schweren Vorwürfen nicht befragt worden.

C. Am 14. April 2010 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeiger» die Beschwerde als unbegründet zurück. Kein einziges Faktum des Artikels sei zu beanstanden. Der Autor unterstelle den Beschwerdeführern keine strafbare Handlung, sondern erwäge lediglich einen möglichen Zusammenhang zwischen Unterstützung und Trambeschaffung. Denn das Verhalten von Parteimitgliedern, die die politische Konkurrenz unterstützten, sei sehr ungewöhnlich.

Die mangelnde Autorisierung des Interviews habe mit der Kürze des geführten Telefongesprächs zu tun: Frau Spuhler habe die Fragen in weniger als einer Minute beantwortet, knapp und klar. Es habe keinerlei Potential für Missverständnisse bestanden. Die Anhörung von Peter Spuhler habe sich nicht aufgedrängt, da ihm überhaupt keine Vorwürfe gemacht würden.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Klaus Lange, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 26. August 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Wie Politiker und Parteien finanziert werden, ist eine Frage, welche die Medien immer wieder beschäftigt. Solange nicht transparent gemacht wird, wer wem wie viel Geld gibt, bestehen Grauzonen, die einen Nährboden für Zweifel, Vermutungen und Verdächtigungen bilden. In eine solche Grauzone leuchtet der Artikel des «Tages-Anzeiger» mit der Frage, «was (…) das Zürcher Tram mit dem Stadtratswahlkampf zu tun» haben könnte. Eine mögliche Antwort findet der Autor in seinem Text mit dem Untertitel «Eine Geschichte über Wahlkomitees».

Nun nennen heutige Journalisten zwar alles «eine Geschichte», von der seriösen Reportage bis zur High-Heels-Fotostrecke in den Lifestyle-Blättern. Die Parteienfinanzierung aber ist, unter den Umständen der politisch akzeptierten Intransparenz, sozusagen eine never-ending story, die journalistisch mit fiktiven Elementen erzählt wird. Wer sich mit dem Thema befasst, wie der hier zur Debatte stehende Artikel, ist gezwungenermassen auf Mutmassungen angewiesen.

Von daher ist es journalistisch legitim, mögliche Interessen-Verbandelungen und Abhängigkeiten auszuleuchten mit Fragen, auf die sich mangels Transparenz faktisch keine genauen Antworten geben lassen, sondern eben nur Vermutungen. Und hier beginnt auch die Grauzone: Wo endet die demokratische Wachhund-Funktion der Medien, wo schlägt sie um in eine mögliche Rufschädigung? Und wo führt sie, wie in diesem Fall, zu einer möglichen Sippenhaftung?

2. Rufschädigend wäre es beispielsweise, wenn der «Tages-Anzeiger» – wie dies die Beschwerde beanstandet – den Beschwerdeführern tatsächlich unterstellte, sie versuchten Stadtrat Türler im Hinblick auf die anstehende Trambeschaffung zu «schmieren». Für den Presserat ist diese Lesart des beanstandeten Artikels jedoch nicht haltbar.

René Staubli stellt Frau Spuhler-Hoffmann, die wie ihr Mann der SVP angehört, die Fragen, weshalb sie ausgerechnet einen Kandidaten der politischen Konkurrenz mit einer Wahlkampfspende unterstütze und ob dies allenfalls etwas mit der anstehenden Trambeschaffung zu tun habe. Diese Fragen sind weder rufschädigend noch unterstellt der Journalist allein damit schon Tatsachenwidriges.

Vor allem aber hatte Frau Spuhler-Hoffmann die Möglichkeit, sich dazu zu erklären und die Fakten zu bestreiten oder zu korrigieren. Und sie tat dies in souveräner Weise: «Mein Mann ist mein Mann und ich bin ich», sie sei schon lange mit Türler befreundet und mit der Trambeschaffung habe dies nichts zu tun. Über die als solche zulässige Frage nach den Beweggründen der zumindest auf den ersten Blick ungewöhnlich wirkenden Wahlunterstützung hinaus bleibt nach diesen klaren Antworten nichts Ehrenrühriges übrig. Zumal der «Tages-Anzeiger» das Beispiel der Beschwerdeführer textlich in einen Kontext einbettet, der klarmacht, dass es um politische Spenden und nicht um Schmiergelder geht. Eine rufschädigende Unterstellung ist unter diesen Umständen zu verneinen.

Ergänzend ist zur Befragung von Frau Spuhler-Hoffmann darauf hinzuweisen, dass bei diesem Recherchegespräch die Autorisierung der Zitate gemäss der Richtlinie 4.6 zur «Erklärung» nicht zwingend war, sofern sie dies nicht ausdrücklich verlangte. Dies im Gegensatz zu einem verabredeten, gestalteten Interview, das im Normalfall zu autorisieren ist.

3. War es angesichts des überzeugenden Dementis von Daniela Spuhler-Hoffmann hingegen verhältnismässig, den Artikel mit dem mehrdeutigen Titel «Spuhlers exklusive Unterstützung» und dem Untertitel «Was hat das Zürcher Tram mit dem Stadtratswahlkampf zu tun» und einem relativ grossen Bild des Ehepaars Spuhler-Hoffmann aufzumachen? Der Presserat kann den Ärger der Beschwerdeführer darüber zwar ein Stück weit nachvollziehen. Gleichzeitig hält er aber in ständiger Praxis daran fest, dass die Auswahl und Gewichtung der einzelnen Information im alleinigen Ermessen der Redaktionen steht (vgl. bereits die Stellungnahme 1/1992).

4. Gegen Peter Spuhler werden im beanstandeten Artikel keine schweren Vorwürfe erhoben, vielmehr ist er darin nur indirekt (als Ehemann von Daniela Spuhler-Hoffmann) ein Thema. Es wird ihm weder unterstellt, seine Ehefrau dazu bewogen zu haben, sich für die Wahl von Andres Türler einzusetzen, noch sonstwie versucht zu haben, die Behörden im Hinblick auf die anstehende Trambeschaffung der Stadt Zürich in unlauterer Weise zu beeinflussen. Entsprechend war der «Tages-Anzeiger» nicht verpflichtet, Peter Spuhler vor der Veröffentlichung des Berichts im Sinne der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» anzuhören.

5. Schliesslich enthält der Artikel von René Staubli nach Auffassung des Presserats weder «schwerwiegende, falsche und irreführende» Darstellungen noch eine für die Leserschaft nicht erkennbare Vermischung von Fakten und Kommentaren. Der Autor erhebt keineswegs den ausdrücklichen Vorwurf, die Wahlunterstützung von Daniela Spuhler-Hoffmann für Daniel Türler erfolge in Erwartung einer Gegenleistung des Begünstigten und sie unterstütze damit die Stadler Rail Group im Hinblick auf die anstehende Trambeschaffung der Verkehrsbetriebe Zürich. Ob die Firma Barizzi AG zum Zeitpunkt des Zuschlags für die Mitarbeit am Schulhaus Leutschenbach damals noch den Eltern von Daniela Spuhler-Hoffmann gehörte, ist für das Verständnis der Leserschaft ohne Belang.

Unpräzis ist hingegen die Formulierung, die Barizzi AG habe beim erwähnten Zuschlag einen Auftrag mit einem Volumen von 64 Millionen Franken erhalten, während der auf die Baumeisterarbeiten entfallende Teil, für welche die Firma den Zuschlag erhielt, weniger als 10 Millionen Franken ausmachte. Gemäss der neueren Praxis der Presserats zur Wahrheits- und Berichtigungspflicht (Ziffern 1 und 5 der «Erklärung»; vgl. dazu. z.B. die Stellungnahmen 10 und 26/2005, 5/2006, 6/2008, 53/ und 64/2009) ist nicht jede formale oder inhaltliche Ungenauigkeit bereits als Verletzung einer berufsethischen Norm zu werten. Vielmehr verlangt das Prinzip der Verhältnismässigkeit, dass einer Unkorrektheit eine gewisse Relevanz zukommt.

Auch wenn es sich rein rechnerisch um eine sehr grosse Differenz handelt, ist diese Voraussetzung vorliegend nicht erfüllt, weil die genaue Höhe des auf die Barizzi AG entfallenden Teils der gesamten Bausumme im Kontext des Berichts des «Tages-Anzeiger» für das Verständnis der Leserschaft nicht von Bedeutung erscheint.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.