Nr. 55/2010
Wahrheits- und Berichtigungspflicht / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Unschuldsvermutung / Identifizierung

(Handel c. «Sonntag»)

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Dieses Zeug muss endlich weg» berichtete Toni Widmer am 27. Juni 2010 im «Sonntag», zwei Aargauer Richter wehrten sich in einem Pilotprozess gegen «Persönlichkeitsverletzungen im Internet». Der Lead lautet: «Guido Marbet, Vizepräsident des Aargauer Obergerichts, und Peter Turnherr, Präsident des Bezirksgerichts Bremgarten, haben genug. Sie klagen gegen diffamierende Einträge auf verschiedenen Internetseiten, die vom Thurgauer Michael Handel betrieben werden.»

Handel veröffentliche auf seiner Website «Kinder ohne Rechte» unter anderem Berichte über Kindsmisshandlungen sowie Kritik an Entscheiden von Justiz, kantonalen und kommunalen Behörden, bei denen es um das Sorgerecht oder die Platzierung von Kindern gehe. Personen, die nicht in seinem Sinn entschieden hätten, prange Handel auf einer «schwarzen Liste» an. «Mit Bild, vollständiger Geschäfts- und Privatadresse und meist auch der Handynummer.» Aus dem Aargau seien zur Zeit fünf Personen auf dieser Liste aufgeführt, darunter die Richter Marbet und Turnherr.

Handel gehe geschickt vor und behaupte nicht direkt, die Leute auf der schwarzen Liste hätten sich eines Vergehens schuldig gemacht. «Er verlinkt bloss ihre Namen mit kritischen Artikeln aus verschiedensten, zum Teil auch obskuren Quellen. Weil Handels Homepage auch über Adressen wie ‹Chindlifresser›, ‹Kinderhandel› oder ‹Kinderklau› erreichbar ist, sind die Auswirkungen für die Betroffenen dennoch fatal. Bei Aussenstehenden kann der Eindruck entstehen, die Namen auf der schwarzen Liste stünden direkt oder indirekt im Zusammenhang mit Kindsmisshandlungen.» Die beiden Richter Marbet und Turnherr hätten weder Kinder misshandelt, noch ihre berufliche Stellung missbraucht, sondern lediglich Kinder betreffende Urteile gefällt, vollstreckt oder nach aussen vertreten.

Den beiden Richtern sei nun ob der andauernden Verunglimpfung der Kragen geplatzt. Sie verlangten auf dem Rechtsweg, dass alle sie betreffenden Einträge auf den Websites von Handel gelöscht werde. Der Prozess habe zumindest für den Kanton Aargau Pilotcharakter. «Kommen sie mit ihrer Klage durch, dann wartet auf Michael Handel eine ganze Menge Arbeit.»

B. Am 27. August 2010 beschwerte sich Michael Handel beim Presserat gegen den obengenannten Bericht, der die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5 (Berichtigung) und 7 (Unschuldsvermutung; Identifizierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletze.

«Sonntag» habe im Bericht vom 27. Juni 2010 schwere und sachlich nicht gerechtfertigte Vorwürfe ohne vorgängige Anhörung erhoben. Das im Artikel enthaltene Dementi, die Richter Marbet und Turnherr hätten keine Kinder misshandelt, suggeriere der Leserschaft zudem fälschlicherweise, der Beschwerdeführer habe derartige Vorwürfe erhoben. Insgesamt werde der Leserschaft durch den beanstandeten Bericht suggeriert, der Beschwerdeführer betreibe Rufmord, was ebenfalls nicht zutreffe. Er habe die Redaktion «Sonntag» am 29. und 30. Juni 2010 per E-Mail auf eine ganze Reihe von weiteren im Artikel enthaltenen Unwahrheiten hingewiesen und um eine Stellungnahme gebeten. Eine solche sei jedoch ausgeblieben. Ebenso wenig habe die Redaktion eine Berichtigung veröffentlicht.

Darüber hinaus verletzte der Bericht das Gebot der Unschuldsvermutung. Bis jetzt habe sich noch kein Gericht mit der Klage befasst, geschweige denn eine Persönlichkeitsverletzung festgestellt. Und schliesslich nenne «Sonntag» ihn wider seinen Willen mit vollem Namen.

C. Am 20. Oktober 2010 wiesen Chefredaktor Patrik Müller und der Autor des beanstandeten Berichts, Toni Widmer, die Beschwerde namens der Redaktion von «Sonntag» als unbegründet zurück. Toni Widmer sei nicht etwa von den beiden Richtern auf die Angelegenheit aufmerksam gemacht worden. Vielmehr sei ihm die Klage von Richter Marbet auf dem Umfeld des Beschwerdeführers zugespielt worden, «in der ausdrücklichen Hoffnung, er würde sie in ihrem Kampf gegen die ihrer Ansicht nach kinderfeindlichen und unfähigen Richter unterstützen». Der «Sonntag» habe sich jedoch nicht von einer ursprünglichen Quelle instrumentalisieren lassen, sondern habe den Sachverhalt umfassend recherchiert und «objektiv» berichtet. «Das ist ein möglicher Grund für die Reaktion von Michael Handel, der sich wohl eine andere Stossrichtung erhoffte.»

Toni Widmer habe in seinem Artikel nicht primär die Aktivitäten und Beweggründe von Michel Handel beleuchtet, sondern die Umstände und Gründe beschrieben, die letztlich die beiden Richter bewogen haben, Klage einzureichen. «Der Journalist erachtete es nicht als opportun, Michael Handel zu den Anklagepunkten zu befragen. Das erachtet er als Sache der Richter, welche besagte Klage(n) zu beurteilen haben werden.»

Bezüglich Wahrheitssuche verweist «Sonntag» auf die im Artikel aufgeführten Web-Adressen. Im Artikel würden bezüglich Michael Handel keine Fakten zitiert, die sich dort nicht zweifelsfrei nachprüfen lassen würden. Bei einem Einbezug des Beschwerdeführers in die Recherchen hätte die «Eventualität» bestanden, dass der Inhalt der Websites kurzfristig «angepasst» worden wäre und der Artikel am Erscheinungstag nicht mehr in allen Teilen den (aktuellen) Tatsachen entsprochen hätte. Weiter sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer dem Journalisten kaum andere Argumente geliefert hätte als auf seiner Homepage. Schliesslich dürfte auch das Verhalten von Michael Handel eine Rolle beim Vorgehen von Toni Widmer gespielt haben. «Der Journalist war insbesondere überrascht, wie Personen auf einer schwarzen Liste aufgeführt werden, ohne Möglichkeit zur Stellungnahme, mit Namen, detaillierter Adresse (mit Plan) sowie teilweise sogar Handy-Nummer. Es scheint, als möchte sich hier jemand zum ‹Opfer› machen, der mit höchst fragwürdigen Methoden andere Personen an den Pranger stellt.»

D. Am 1. Dezember 2010 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. Dezember 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1.a) Journalistinnen und Journalisten sind verpflichtet, «sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen» zu halten und sich «sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten» zu lassen, «die Wahrheit zu erfahren» (Ziffer 1 der «Erklärung»). Medienschaffende sind zudem verpflichtet, jede von ihnen veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist (Ziffer 5 der «Erklärung»).

b) Enthält der vom Beschwerdeführer beanstandete Bericht Unwahrheiten und Fehler, welche «Sonntag» spätestens gestützt auf die von Michael Handel per E-Mail zugestellten Hinweise hätte berichtigen müssen? Soweit dies der Presserat gestützt auf die ihm unterbreiteten Unterlagen überhaupt beurteilen kann, ist dies zu verneinen.

Für die Leserschaft von «Sonntag» ist ersichtlich, welche Vorwürfe die beiden Richter gegen den Beschwerdeführer erheben, weshalb und wie sie gerichtlich vorgehen wollen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers macht der Bericht zudem deutlich, dass Michael Handel den auf der «schwarzen Liste» aufgeführten Amtspersonen keine Misshandlung von Kindern vorwirft. Toni Widmer führt dazu vielmehr aus, aufgrund der Art und Weise der Darstellung auf der Website könne bei Dritten der Eindruck entstehen, «die Namen auf der schwarzen Liste stünden direkt oder indirekt im Zusammenhang mit Kindsmisshandlungen».

Diese kommentierende Einschätzung des Journalisten bewegt sich nach Auffassung des Presserates im Rahmen der Kommentarfreiheit. Auf den Websites des Beschwerdeführers werden Behördenentscheide scharf kritisiert – beispielsweise als «Justizwillkür» oder «durch den Staat sanktionierte Kindsmisshandlung». In diesem Kontext erscheint weiter auch die kommentierende Wertung des Journalisten ohne Weiteres zulässig, auf der «schwarzen Liste» von Michael Handel würden Personen angeprangert, «die nicht im Sinne des Beschwerdeführers entschieden haben».

Der Beschwerdeführer bestandet darüber hinaus, seines Wissens sei nur eine Klage von Richter Marbet, nicht aber eine solche von Richter Turnherr hängig. Mangels entsprechender Unterlagen kann der Presserat diesen Punkt nicht beurteilen. Immerhin kann sich «Sonntag» auf eine zuverlässige Quelle berufen – den von Marbet und Turnherr offenbar gemeinsam beauftragten Anwalt. Zudem lässt die Formulierung von Michael Handel die Möglichkeit offen, dass er zum Zeitpunkt der Einreichung der Presseratsbeschwerde von der zweiten Gerichtsklage noch keine Kenntnis hatte. Soweit Michael Handel zudem rügt, das Rechtsbegehren der Klage von Richter Marbet werde im Bericht unzutreffend wiedergegeben, muss der Presserat mangels ihm vorliegender gerichtlicher Eingaben auch diese Fragen offen lassen. Ohnehin erscheinen diese vom Beschwerdeführer behaupteten «Falschinformationen» für das Verständnis der Leserschaft kaum als genügend relevant, um allenfalls die Feststellung einer Verletzung der Ziffern 1 und/oder 5 der «Erklärung» zu rechtfertigen (vgl. hierzu die Stellungnahmen 64/2009 und 20/2010).

2.a) Die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe zu befragen und deren Stellungnahme im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben.

b) «Sonntag» wirft Michael Handel vor, auf seinen verschiedenen Internetseiten, persönlichkeitsverletzende, diffamierende Vorwürfe zu verbreiten. Dieser Vorwurf wiegt schwer, unterstellt er dem Beschwerdeführer doch illegales Handeln. Weder das Argument von «Sonntag», der Journalist habe eine Kontaktnahme nicht als opportun erachtet, weil die Befragung zu den Vorwürfen dem Richter zu überlassen sei, noch der Einwand, der Beschwerdeführer hätte dem Journalisten kaum andere Argumente als diejenige auf seiner Homepage geliefert, vermögen einen ausnahmsweisen Verzicht auf die Anhörung zu rechtfertigen. Erst recht gilt dies für die sinngemässe Begründung, der Beschwerdeführer, der im Internet andere öffentlich anprangere, mache sich mit dieser Rüge vom Täter zum Opfer. Im Gegenteil, gerade weil dem Beschwerdeführer vorgeworfen wird, er prangere andere in persönlichkeitsverletzender Weise an, wäre die Anhörung zwingend gewesen.

3. a) Als offensichtlich unbegründet erscheint hingegen die gerügte Verletzung der Unschuldsvermutung. Gemäss der Praxis des Presserats zur Richtlinie 7.4 zur «Erklärung» (ehemals Richtlinie 7.5) tun Journalist/innen der Unschuldsvermutung Genüge, wenn aus dem Medienbericht deutlich wird, dass ein Strafverfahren noch hängig, und nicht etwa durch eine (rechtskräftige) Verurteilung bereits abgeschlossen ist.

b) Vorliegend geht es im Bericht von «Sonntag» einerseits soweit aus dem Bericht ersichtlich nicht um ein Strafverfahren, sondern um zwei zivilrechtliche Klagen wegen Persönlichkeitsverletzung. Zudem macht die Zeitung deutlich, dass die Prozesse noch bevorstehen, mithin die Verfahren noch nicht abgeschlossen sind.

4. Zur vom Beschwerdeführer gerügten Nennung seines vollen Namens stellt der Presserat schliesslich fest, dass Michael Handel, sich auf seinen diversen Websites ausdrücklich an «die Öffentlichkeit» wendet und gemäss eigener Darstellung «Öffentlichkeitsarbeit» betreibt. Tatsächlich tritt er im Zusammenhang mit kindesrechtlichen Themen seit mehreren Jahren regelmässig unter seinem Namen in den Medien auf. Im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit ist deshalb im Sinne der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung) ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Namensnennung zu bejahen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Sonntag» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Dieses Zeug muss endlich weg» vom 27. Juni 2010 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. «Sonntag» hat die Ziffern 1 (Wahrheit), 5 (Berichtigung) und 7 (Unschuldsvermutung; Identifizierung) der «Erklärung» nicht verletzt.