Nr. 28/2010
Wahrheits- und Berichtigungspflicht

( Kessler c. SDA/«20 Minuten»/«Tages-Anzeiger Online»)

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 24. November 2009, spätabends, verbreitete die Schweizerische Depeschenagentur (nachfolgend: SDA) eine Meldung über einen Strafprozess vor dem Bezirksgericht Arbon. Dieses habe einen 63-jährigen Tierhalter und Viehhändler aus dem Kanton Thurgau wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Drohung zum Nachteil des Tierschützers Erwin Kessler verurteilt. Dieser habe den Hof des Tierhalters aufgesucht und den Stall betreten, um sich ein Bild von den Zuständen zu machen. «Als der Tierhalter den ungebetenen Besucher entdeckte, verprügelte er ihn unter anderem mit einer Peitsche. Dabei drohte der Tierhalter, Kessler das Genick zu brechen, ihn umzubringen und ihn in eine Jauchegrube zu werfen. Brille und Kamera gingen zu Bruch.»

Während des Prozesses habe Kessler wiederholt davon gesprochen, die Attacke sei ein «Mordversuch» gewesen. «Sein Anwalt verlangte eine Zurückweisung an den Staatsanwalt und eine Anklage wegen versuchter Tötung. Von einem Tötungsdelikt sei man ‹meilenweit entfernt›, sagte dagegen der zuständige Richter. Neben der Prügelei muss sich der Tierhalter, ebenso wie ein mitangeklagter Hufschmied, wegen Tierquälerei verantworten.»

B. Bloss wenige Minuten später verbreitete «20 Minuten Online» die Meldung unter dem Titel «Tierquäler peitschte Tierschützer aus» unverändert weiter.

C. Am anderen Morgen, den 25. November 2009, übernahm auch die Online-Ausgabe des «Tages-Anzeiger» die SDA-Meldung in leicht bearbeiteter Form. Der Titel lautete hier: «Weshalb Tierschützer Erwin Kessler im Thurgau Prügel einstecken musste». Zudem fügte die Website folgende Einleitung dazu: «Der Chef des Vereins gegen Tierfabriken betrat in Hefenhofen einen Bauernhof. Was dann folgte, führte nun zum Prozess vor dem Bezirksgericht Arbon.» Unverändert übernahm «tages-anzeiger.ch» die Passage zum Vorwurf Kesslers wegen versuchter Tötung und dem Zitat des Richters, von einem Tötungsdelikt sei man «meilenweit entfernt» gewesen.

D. Am 1. Dezember 2009 gelangte Erwin Kessler, Tuttwil, mit einer Beschwerde gegen die obengenannte Meldung der SDA an den Presserat. Die Behauptung, der zuständige Richter habe gesagt, von einem Tötungsdelikt sei man meilenweit entfernt, sei unwahr. Im Gegenteil habe der Gerichtsvorsitzende sinngemäss ausgeführt, der Vorwurf des Tötungsversuches sei nicht abwegig, es gebe dafür tatsächlich objektive Anhaltspunkte. Trotzdem habe das Gericht schliesslich nach dem Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» bloss auf Körperverletzung erkannt.

Sein Rechtsvertreter habe sich anlässlich der öffentlichen Urteilsbegründung folgende Notizen gemacht: «Warum liegt nach Auffassung des Gerichts kein Tötungsversuch vor: Die Meinung des Opfers ist nicht abwegig. Da kann man sich mit Recht fragen, ob da nicht ein Vorsatz dahinter gestanden hat. Der Angeklagte wäre nicht der erste, der in einem Ausnahmezustand etwas macht, das ihm nachher leid tut. Es gab schon Anhaltspunkte für einen Versuch (…) Aber aufgrund der Aussage des Opfers, dass die Schläge mehr oder weniger wirkungslos gewesen seien, haben wir doch Zweifel (…) Aber nochmals: ein Tötungsvorsatz ist nicht abwegig, er scheitert schlussendlich jedoch an den objektiven Umständen, so dass wir schliesslich in dubio pro reo auf Freispruch erkennen.»

Indem die SDA das Gegenteil behaupte, was der Richter tatsächlich sagte, habe sie die Wahrheits- und Berichtigungspflicht verletzt (Ziffern 1 und 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»).

E. Am 5. Dezember 2009 erhob der Beschwerdeführer in der gleichen Sache Beschwerde gegen «20 Minuten Online» und «Tages-Anzeiger Online» wegen Verletzung der Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung»). Am 26. respektive 30. November 2009 habe er von den beiden Publikationen die Veröffentlichung einer berichtigenden Gegendarstellung verlangt. Die beiden Medien hätten zu seinem Begehren weder Stellung genommen, noch diesem Folge geleistet.

F. Am 22. Dezember 2009 und 5. Januar 2009 wiesen die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretenen Redaktionen von «Tages-Anzeiger Online» und «20 Minuten» die Beschwerde als unbegründet zurück. Grundlage der beanstandeten Berichte sei eine SDA-Meldung. Ob die beanstandete Passage der Berichte wahr sei oder nicht, könne allein von den an der Gerichtsverhandlung anwesenden Personen klargestellt werden. Die eingereichten Verhandlungsnotizen des Anwalts des Beschwerdeführers stellten keinen genügenden Beweis dar.

G. In der Beschwerdeantwort der SDA vom 8. Januar 2010 führt Chefredaktor Bernhard Maissen an, die Aussage «Von einem Tötungsdelikt sei man ‹meilenweit› entfernt» sei an der Gerichtsverhandlung tatsächlich gefallen. Allerdings sei es der Staatsanwalt und nicht der Richter gewesen, der sich so geäussert habe. «Mit anderen Worten: Die SDA-Meldung enthielt eine falsche Zuordnung des Zitats.» Da die SDA erst aufgrund der Presseratsbeschwerde vom Fehler Kenntnis genommen habe, sei es ihr nicht möglich gewesen, ihn früher zu berichtigen. Eine Korrektur in der Datenbank sei jedoch in die Wege geleitet. «Wir entschuldigen uns bei Herrn Kessler für die fehlerhafte Darstellung. Auf der anderen Seite weisen wir darauf hin, dass die SDA den Vorfall selbst korrekt dargestellt hat und die Stellungnahme von Herrn Kessler in unserer Meldung gebührend berücksichtigt worden ist.»

H. Am 13. Januar 2010 teilte der Presserat den Parteien mit, die beiden Beschwerden würden gemeinsam vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

I. Am 14. Januar 2010 reichte der Beschwerdeführer dem Presserat die schriftliche Urteilsbegründung nach. Diese enthält auf Seite 15 folgenden Satz: «Die Auffassung des Opfers, wonach es sich bei diesem Angriff um ein versuchtes Tötungsdelikt gehandelt habe, ist daher grundsätzlich nicht abwegig.»

J. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 25. Juni 2010 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Vorab stellt der Presserat fest, dass der relevante Sachverhalt zwischen den Parteien nicht umstritten ist. Wie sich einerseits aus der Beschwerdeantwort der SDA, anderseits aus den Ausführungen des Beschwerdeführers sowie der nachträglich eingereichten Urteilsbegründung des Bezirksgerichts Arbon vom 11. Januar 2010 ergibt, vertritt das Gericht die Auffassung, der Vorwurf Kesslers, der Angriff gegen ihn sei ein Tötungsversuch gewesen, sei zwar grundsätzlich nicht abwegig. Aufgrund der konkreten Umstände sei aber – auch in Anwendung der Unschuldsvermutung – zu schliessen, dass es dem Angeklagten letztlich nicht darum ging, Kessler zu töten. Noch deutlicher äusserte sich hingegen offenbar die Staatsanwaltschaft, von der laut SDA die vom Beschwerdeführer kritisierte Aussage stammt, von einem Tötungsdelikt sei man «meilenweit» entfernt.

2. Die SDA räumt mit anderen Worten ein, dass sie in der beanstandeten Meldung das umstrittene Zitat falsch zugeordnet und soweit inkorrekt berichtet hat. Ist dieser unbestrittene Fehler relevant genug, dass er als Verletzung der Wahrheitspflicht zu beanstanden ist? Nach Auffassung des Presserats ist dies im konkreten Fall zu bejahen. Der vom Beschwerdeführer im Strafverfahren gegen den Angreifer erhobene Vorwurf, dieser habe versucht, ihn zu töten, wiegt schwer. Auch wenn die Position Kesslers in der SDA-Meldung ebenfalls zu Wort kommt, erweckt der Hinweis, nach Auffassung des Gerichts sei der Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung abwegig, bei der Leserschaft den Eindruck, der als extremer Tierschützer bekannte Beschwerdeführer habe in der Sache wieder einmal völlig übertrieben. Demgegenüber kam das unabhängige Gericht – im Gegensatz zu der als Partei auftretenden
Staatsanwaltschaft – zum Schluss, der Vorwurf sei zwar nicht erstellt, aber zumindest auch nicht ganz abwegig, was die Vorwürfe des Beschwerdeführers in einem wesentlich anderen Licht erscheinen lässt.

3. Hat die SDA auch die Berichtigungspflicht verletzt? Soweit aus den dem Presserat eingerichteten Unterlagen ersichtlich hat sich der Beschwerdeführer je mit einem Begehren um «berichtigende Gegendarstellung» an «20 Minuten» und «Tages-Anzeiger Online» gewandt, nicht aber an die SDA. Gemäss der Richtlinie 5.1 zur «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, Berichtigungen unverzüglich von sich aus wahrzunehmen. Dies setzt allerdings voraus, dass Medienschaffende die Unrichtigkeit einer Information bewusst ist. Nach Darstellung der SDA hat sie erst aufgrund der Beschwerde von Erwin Kessler bemerkt, dass ihr Korrespondent das umstrittene Zitat falsch zugeordnet hat. Sie hat sich für diesen Fehler entschuldigt und zudem die entsprechende Korrektur in der Datenbank in die Wege geleitet. Entsprechend ist ihr unter dem Titel der Berichtigungspflicht kein Vorwurf zu machen. Auch wenn die falsche Zuordnung des Zitats wie ausgeführt nicht als unerheblicher Fehler zu werten ist, wäre es unverhältnismässig, von der SDA mehrere Wochen nach der Publikation der Meldung vom 24. November 2009 die Veröffentlichung einer Korrekturmeldung zu verlangen.

4. Ebenso verneint der Presserat eine Verletzung der Berichtigungspflicht durch «20 Minuten Online» und «Tages-Anzeiger Online». Die beiden Medien berufen sich in ihren Beschwerdeantworten zu recht auf die Stellungnahme 3/1992. Darin hat der Presserat festgehalten, dass Redaktionen nicht verpflichtet sind, Agenturmeldungen nachzurecherchieren und auf ihre inhaltliche Richtigkeit zu prüfen. Dasselbe gilt auch bei einem Berichtigungsbegehren, das sich auf eine Agenturmeldung bezieht. Entsprechend hätte sich der Beschwerdeführer zuerst an die SDA wenden sollen. Demgegenüber waren «20 Minuten Online» und «Tages-Anzeiger Online» nicht verpflichtet, dem Berichtigungsbegehren des Beschwerdeführers stattzugeben. Zumal dieser die materielle Unrichtigkeit der Meldung nicht eindeutig, sondern bloss mit den Notizen seines Anwalts belegte, der als Parteivertreter nicht zur Objektivität verpflichtet ist.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) wird teilweise gutgeheissen.

2. Die SDA hat mit der falschen Zuordnung des Zitats «Von einem Tötungsdelikt sei man ‹meilenweit entfernt›» in ihrer Meldung vom 24. November 2010 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheit) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde gegen die SDA abgewiesen.

4. Die SDA hat die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung) nicht verletzt.

5. Die Beschwerde gegen «20 Minuten Online» und «Tages-Anzeiger Online» wird abgewiesen.

6. «20 Minuten Online» und «Tages-Anzeiger Online» haben die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung) nicht verletzt