Nr. 3/2003
Namensnennung bei schweren Verbrechen

(X. c. «Blick») Stellungnahme des Presserates vom 7. Februar 2003

I. Sachverhalt

A. In seiner Ausgabe vom 12. November 2002 berichtete «Blick» unter dem Titel «Mord; Schwulenhasser muss 15 Jahre ins Zuchthaus» über die Verurteilung des Angeschuldigten im sog. Mordfall von Zollikon zu 15 Jahren Zuchthaus. Der Bericht nannte den Angeschuldigten, X., mit vollem Namen.

B. Am 19. November 2002 gelangte der anwaltlich vertretene X. mit einer Beschwerde an den Presserat und rügte, der «Blick»-Artikel vom 12. November habe die Richtlinien 7.1, 7.5 und 7.6 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Zudem verstosse «die interne ÐBlick?-Weisung, generell nach einem Urteil den vollen Namen des Betroffenen zu veröffentlichen, grundsätzlich gegen diese Ziffern der Richtlinien».

C. In einer Stellungnahme vom 31. Dezember 2002 beantragte die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion die Abweisung der Beschwerde. Die Berichterstattung des «Blick» vom 12. November sei einschliesslich der Namensnennung korrekt und die in der Beschwerde behauptete «interne Blick-Weisung» gebe es nicht.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 10. Januar 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt. Gleichzeitig wiesen die beiden Vizepräsidenten ein von der «Blick»-Redaktion gegen den Presseratspräsidenten Peter Studer gerichtetes Ablehnungsbegehren mit folgender Begründung ab: «Die in der Beschwerdeantwort vom 31. Dezember 2002 gerügte Auffassung des Presseratspräsidenten, eine Namensnennung bei Straftätern sei – im Grundsatz – unzulässig, entspricht der geltenden Praxis des Presserates, war nicht auf den vorliegenden Fall bezogen und erscheint dementsprechend nicht geeignet, Peter Studer im Sinne von Art. 12 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates als befangen erscheinen zu lassen.»

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 7. Februar 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» ist die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält fest, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden». Die Richtlinie nennt allerdings auch Ausnahmen von dieser Grundregel:

– Überwiegendes öffentliches Interesse (inhaltlich unbestimmte «Generalklausel»); – Nennung eines politischen oder amtlichen Funktionsträgers, soweit das Delikt einen Bezug zu dieser Funktion hat; – Gefahr von Verwechslungen, falls der Name nicht genannt wird; – Wenn die Person bereits allgemein bekannt ist – wobei meist die Medien im konkreten Fall für die Bekanntheit gesorgt haben, weshalb diese Ausnahme mit besonderer Zurückhaltung anzuwenden ist; – Ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen.

Schliesslich bekräftigt die Richtlinie 7.5 zur «Erklärung», dass bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen ist. «Nach einer eventuellen Verurteilung haben Journalistinnen und Journalisten auf die Familie und die Angehörigen der / des Verurteilten, wie auch auf die Resozialisierungschancen Rücksicht zu nehmen.»

2. Von den in der Richtlinie 7.6. genannten Ausnahmen fällt vorliegend offensichtlich einzig die Generalklausel des überwiegenden öffentlichen Interesses in Betracht:

a) Ein solches macht die «Blick»-Redaktion zusammengefasst mit folgender Argumentation geltend: Der Beschwerdeführer sei wegen Mord und damit wegen einem der schwersten Delikte zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Die Privatsphäre des Beschwerdeführers sei etwas anderes als Mord und die vom Angeschuldigten bestrittene Vergewaltigung. Denn «der öffentliche Strafprozess für Schwerverbrechen steht quasi kontrapunktisch zur Privatsphäre». «Wenn der Täter mit Namen vor dem Gericht in öffentlicher Verhandlung steht, dann darf er auch mit seinem Namen in der Zeitung stehen. Es ist mit nichts zu rechtfertigen, dass die Gerichtsberichterstattung in diesem Zusammenhang weit hinter die Gerichtsöffentlichkeit zurückfallen müsste.»

b) Diesem vielleicht theoretisch denkbaren Standpunkt ist entgegenzuhalten: Wenn man wie die Beschwerdegegner Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit faktisch gleichsetzen und aus der Gerichtsöffentlichkeit unmittelbar das Recht auf Namensnennung des Täters in der Gerichtsberichterstattung ableiten würde, wären jegliche berufsethische Regeln zur Namensnennung in diesem Bereich von vornherein entbehrlich. Da die Prangerwirkung einer identifizifizierenden Veröffentlichung in einem Medium mit grosser Reichweite jedoch unvergleichlich grösser ist als diejenige der blossen Gerichtsöffentlichkeit, kann sich der Presserat nicht auf eine derartige Extremposition einlassen. Ebenso unhaltbar ist für den Presserat zudem die Auffassung der Beschwerdeführer, durch eine identifizierende Berichterstattung über ein Strafverfahren werde die Privatsphäre des Angeschuldigten von vornherein nicht berührt. Denn die Pflicht zur Respektierung der Privatsphäre im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung» zielt offensichtlich nicht nur auf den Schutz des häuslichen Bereichs des Individuums, sondern analog zum Zivilrecht generell auf den Schutz der gesamten Persönlichkeit ab. Auch die wahrheitsgemässe identifizierende Berichterstattung über ein Strafverfahren kann für den Betroffenen negative Folgen haben. Sie ist deshalb im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung» und entsprechend der Generalklausel der Richtlinie 7.6 zu Recht nur dann zulässig, wenn sie ausnahmsweise durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist.

c) Sinngemäss machen die Beschwerdegegner zwar ein derartiges überwiegendes öffentliches Interesse geltend. Denn dieses bestehe quasi automatisch bei der Gerichtsberichterstattung über besonders schwere Verbrechen. Einen ähnlichen Standpunkt nimmt offenbar auch der Deutsche Presserat ein, der jüngst eine Beschwerde gegen eine Namensnennung mit dem Argument abgewiesen hat, bei der Tat habe es sich um ein schweres Verbrechen gehandelt, dessen Aufklärung in der Öffentlichkeit auf grosses Interesse gestossen sei (Jahrbuch 2001, S. 270). Diese Abwägung vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil das Interesse einer grossen Öffentlichkeit nicht mit einem öffentlichen Interesse zu verwechseln ist (Stellungnahme 62/02 i.S. Borer-Fielding / «Blick» / «SonntagsBlick») und weil die Information der Öffentlichkeit über die Aufklärung eines Kapitalverbrechens oder ein entsprechendes Gerichtsurteil nicht von vornherein zwingend eine identifizierende Berichterstattung impliziert.

Schon eher scheint – zumindest auf den ersten Blick – eine andere Überlegung bedenkenswert: Je schwerer ein Verstoss gegen die öffentliche (strafrechtliche) Ordnung zu bewerten ist, umso eher erscheint ein Eingriff in die Privatsphäre eines Angeschuldigten gerechtfertigt. Doch führt auch diese Überlegung letztlich meistens zu keinem anderen Ergebnis der Interessenabwägung, weil in der Regel bei sog. Kapitalverbrechen auch die öffentliche Aufmerksamkeit entsprechend grösser sein wird und damit auch der beim Betroffenen und bei seinen eventuellen Angehör
igen durch eine identifizierende Berichterstattung verursachte Eingriff in die Persönlichkeit. Zurückhaltung erscheint deshalb selbst bei der Berichterstattung über Kapitalverbrechen zumindest dann geboten, wenn der Angeschuldigte und seine Angehörigen im Verbreitungsgebiet eines Mediums leben. In diesem Sinne hält der Presserat am bereits in der Stellungnahme 8/94 i.S. D. / «Blick» formulierten Grundsatz fest, wonach ein Täter sowie seine indirekt betroffenen Angehörigen ungeachtet der Verwerflichkeit und Abscheulichkeit einer Tat ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre haben und sie deshalb durch die Medien nicht an den Pranger gestellt werden dürfen.

d) Dementsprechend war die Namensnennung auch bei der Berichterstattung des «Blick» über den sog. Mordfall von Zollikon nicht bereits allein aufgrund der blossen Schwere der Tat ausnahmsweise zulässig. Über das immer bestehende Interesse einer breiten Öffentlichkeit an der Berichterstattung über ein sog. Kapitalverbrechen hinaus sind vorliegend keinerlei besondere öffentliche Interessen ersichtlich und werden von der «Blick»-Redaktion auch nicht geltend gemacht, die bei einer Interessenabwägung zusätzlich für die Namensnennung ins Gewicht fallen würden. Demgegenüber zeigen die vorangegangenen Berichte des «Blick» über das Strafverfahren des Beschwerdeführers vom 7. Februar 2001 und 29. August 2002, dass die Zeitung ihre Leserschaft auch ohne Nennung des vollen Namens des Angeschuldigten zufriedenstellend informieren konnte. Die volle Namensnennung im Artikel vom 12. November 2002 erscheint deshalb nach einer Abwägung der zur Diskussion stehenden Interessen als unverhältnismässig.

3. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus eine Verletzung der Richtlinien 7.1 (Schutz des Privatlebens) und 7.5 (Unschuldsvermutung) geltend macht, braucht der Presserat nach dem oben Ausgeführten auf diese Rügen nicht näher einzugehen. Denn die Frage, ob «Blick» die strafrechtliche Unschuldsvermutung ungenügend respektiert hat, würde vor allem dann relevant, wenn die identifizierende Berichterstattung berufsethisch als zulässig zu erachten wäre. Ebenso kann unter diesen Umständen die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage nach dem Bestehen einer – von der Beschwerdegegnerin ohnehin bestrittenen – internen «Blick»-Richtlinie offengelassen werden, wonach die Namen der Angeschuldigten ungeachtet des Einzelfalles nach dem Urteil generell zu nennen seien. Eine derartige Richtlinie würde den berufsethischen Grundsätzen der Namensnennung jedenfalls offensichtlich widersprechen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist.

2. Ein Täter sowie seine indirekt durch eine Gerichtsberichterstattung betroffenen Angehörigen haben ungeachtet der Verwerflichkeit und Abscheulichkeit einer Tat ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. Deshalb dürfen sie durch die Medien nicht an den Pranger gestellt werden. Und eine identifizierende Gerichtsberichterstattung ist nicht bereits allein aufgrund der blossen Schwere einer Tat ausnahmsweise zulässig.