Nr. 12/1999
Quellen der Unfallberichterstattung / Erforderliche Zurückhaltung

(Engelhart c. „Blick“) Stellungnahme des Presserates vom 15. August 1999

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I. Sachverhalt

A. Am 29. Januar 1999 ereignete sich auf der Autobahn A 1 zwischen Coppet VD und Nyon VD ein schwerer Unfall. Ein Lastwagen rammte einen auf dem Pannenstreifen stehenden Personenwagen. Das Auto wurde zusammengedrückt, zirka 20 Meter weggestossen und fing Feuer. Der Fahrer des Personenwagens kam ums Leben.

B. Der „Blick“ berichtete in seiner Ausgabe vom 1. Februar 1999 über den schweren Verkehrsunfall – mit Foto des demolierten Autos. Die Überschrift lautete „Während Fahrt: Chauffeur studierte Stassenkarte . . . 1 Toter!“. Im Lead stand: „Feuerhölle auf der Autobahn. Ein 60jähriger Autofahrer verbrannte in seinem Wrack, nachdem er auf dem Pannenstreifen von einem Lastwagen gerammt worden war (…). Im von Fredy Herren gezeichneten Artikel wurde u.a. ausgeführt: „(…) Hilflos müssen sie zusehen, wie der eingeklemmte Genfer lebendigen Leibes verbrennt. Die Feuerwehr muss das Wrack aufschneiden, um die verkohlte Leiche zu bergen. (…)“.

C. Mit Brief vom 22. Februar 1999 wandte sich Christian Engelhart, Schwiegersohn des Getöteten, mit einer Beschwerde an den Presserat. Er und weitere Angehörige stossen sich vor allem an der Aussage, wonach das eingeklemmte Opfer lebendigen Leibes verbrannt sei. Der Gerichtsmediziner vom Genfer Institut de la Medicine legale habe der Familie mitgeteilt, dass der Verunglückte nach dem Aufprall des Lastwagens mit grösster Wahrscheinlichkeit sofort tot gewesen sei. Für die Angehörigen sei der „Blick“-Artikel dennoch „sehr belastend und löst Bilder aus, die in ihnen noch tagelang aufsteigen“. Es habe unter den Zeugen niemanden gegeben, der der Waadtländer Polizei gesagt habe, der Mann im brennenden Fahrzeug habe noch gelebt. Weiter schreibe der „Blick“ von einem weissen VW Passat. Auch diese Aussage sei falsch. Das Fahrzeug sei bordeauxrot gewesen. Christian Engelhart vertritt die Meinung, der „Blick“ habe gegen Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten“ verstossen.

D. Mit Schreiben vom 6. April 1999 nahm der stellvertretende Chefredaktor des „Blick“ nach Rücksprache mit dem Redaktor Fredy Herren wie folgt zur Beschwerde Stellung: Die Aussage, der 60jährige Autolenker sei im Auto verbrannt, habe am Tag nach dem Unfall ein Waadtländer Polizeibeamter gegenüber Fredy Herren gemacht. Zu beachten sei, dass auch die Gerichtsmedizin nur davon ausgehe, dass der Verunglückte mit grösster Wahrscheinlichkeit sofort tot war. Die Formulierung „mit grösster Wahrscheinlichkeit“ lasse die Möglichkeit zu, dass der Verunglückte bei lebendigem Leib verbrannte. Im übrigen habe auch die Schweizerische Depeschenagentur gemeldet, der Fahrer sei in den Flammen verbrannt. Am Tag der Publikation des Artikels habe sich die Tochter des Verunglückten bei Fredy Herren gemeldet. Herren sei bei seiner Darstellung geblieben, habe aber klargestellt, dass er es bedaure, falls mit dem Artikel Gefühle von Angehörigen verletzt wurden. Dass das bordeauxrote Auto als weiss bezeichnet wurde, sei ein Fehler gewesen. Ein Verstoss gegen Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten sei nicht zu sehen, weshalb die Beschwerde abzuweisen sei.

E. Der Presserat übertrug den Fall seiner 1. Kammer, der Roger Blum als Präsident sowie Sylvie Arsever, Sandra Baumeler, Enrico Morresi und Edi Salmina als Mitglieder angehören. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 20. Mai 1999 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ lautet wie folgt: „Sie veröffentlichen nur Informationen, Dokumente und Bilder, deren Quellen ihnen bekannt sind. Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente und Bilder noch von anderen geäusserte Meinungen. Sie bezeichnen unbestätigte Meldungen und Bildmontagen ausdrücklich als solche (…).

2. „Blick“ beruft sich zur Rechtfertigung der Veröffentlichung der Aussage, das Unfallopfer sei bei lebendigem Leibe verbrannt, schwergewichtig auf zwei Quellen: Auf eine Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) sowie auf eine Aussage eines Waadtländer Kantonspolizisten. Die dem Presserat vorliegende SDA-Meldungen vom 29. bzw. 30. Januar 1999 lauten wie folgt: „Lausanne, 29. Jan. (sda); Eine Genfer Automobilistin ist am Freitag morgen gegen 10.50 Uhr bei einem Unfall auf der Autobahn A1 zwischen Coppet VD und Nyon VD ums Leben gekommen. Nach einem Aufprall mit einem Lastwagen ging ihr Fahrzeug in Flammen auf. Die Frau konnte sich nicht aus dem Wrack befreien. (…)“ und „Genf, 30. Jan. (sda) 1999; Der Chauffeur las offenbar eine Karte als sein Lastwagen auf dem Autobahnteilstück zwischen Coppet und Nyon im Waadtland auf den Pannenstreifen geriet. Dort kollidierte der Camion mit einem abgestellten Personenwagen, der sofort in Flammen aufging. Die Insassin des Personenwagens konnte sich nicht mehr befreien.“

Die per Telefon abrufbare Medienmitteilung der Waadtländer Kantonspolizei vom 29. Januar 1999 lautet wie folgt: „Am Freitag, 29. Januar 1999, gegen 10.50 Uhr, ereignete sich ein tödlicher Verkehrsunfall auf der Autobahn Genf-Lausanne (…). Ein Lastwagen (…) kollidierte mit einem Genfer Auto, das auf den Pannenstreifen angehalten hatte, 20 Meter fortgeschleudert wurde und danach in Flammen aufging. Die Führerin wurde im Fahrzeug eingeklemmt.“

3. Bei Würdigung dieser nachprüfbaren Quellen – daneben wird seitens von „Blick“ ein namentlich nicht bekannter Waadtländer Polizeibeamter genannt, der gegenüber Fredy Herren die Aussage gemacht habe, wonach das Unfallopfer im Auto verbrannt sei – ist festzustellen, das weder im Pressecommuniqué der Waadtländer Polizei noch in den Meldungen der SDA eindeutig vom einen Tod durch Verbrennung die Rede ist. Spekulationen in dieser Richtung erlaubt allenfalls der letzte Satz in der SDA-Meldung vom 30. Januar 1999, wonach sich das Unfallopfer nicht mehr habe befreien können, was logisch voraussetzen würde, dass es nach der Kollision noch am Leben gewesen wäre. Insgesamt lässt der Wortlaut der Meldungen aber zumindest offen, ob das Opfer bei lebendigem Leibe verbrannt ist oder nicht. Wenn darüber hinaus ein Waadtländer Polizeibeamter die These des Verbrennungstodes gegenüber „Blick“ bestätigte, kann der Zeitung unter dem Gesichtspunkt von Ziff. 3 der „Erklärung“ kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie sich in ihrem Bericht darauf abstützte. Die wichtigsten Quellen in der Unfallberichterstattung sind die Polizei und allfällige Zeugen. Es wäre unrealistisch, von den Medienschaffenden zu verlangen, dass sie nach jedem Unfall noch nach weiteren Quellen suchten. Insgesamt ist deshalb die Berichterstattung des „Blick“ im Lichte von Ziff. 3 der „Erklärung“ als korrekt zu werten, auch wenn eine genauere Bezeichnung der Quelle wünschbar gewesen wäre.

2. Ist davon auszugehen, dass die These des Verbrennungstodes im Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels gestützt auf die verfügbaren Quellen vertretbar war, ist unter dem Gesichtspunkt von Ziff. 7 der „Erklärung“ „Sie respektieren die Privatsphäre des Einzelnen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt (…)“ weiter die Art und Weise der Berichterstattung des „Blick“ näher zu prüfen.

Der Presserat hat in seiner Stellungnahme Nr. 2/98 vom 20. Februar 1998 i.S. Schock- und People-Bilder (Sammlung der Stellungnahmen des Presserates 1998, S. 29ff.) festgehalten, dass Journalistinnen und Journalisten die Menschenwürde respektieren sollten. „Die Berichterstattung in Wort und Bild über Krieg, Terror, Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenzen im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Zur Publikation von Unfallbildern führte der Presserat weiter aus:
„Gerade bei Unfallbildern ist aber zu fragen, wie weit ein solcher Schrecken tatsächlich gezeigt werden muss, wie nah an diesen Schrecken herangegangen werden soll. Zur Aufklärung und Mahnung genügt es, zerdrückte Autos zu zeigen. Ein jeder kann sich dabei ausmalen, was die Folgen sind. Insbesondere ist dabei auch daran zu denken, dass die Menschenwürde einer Person verletzt würde, wenn sie auf dem Bild als Individuum identifizierbar, somit unverwechselbar wäre. Dabei ist, vorab im engeren geografischen Raum, stets auch an Familienangehörige und Freunde der betroffenen Person zu denken.“

Was für Bilder gilt, hat grundsätzlich auch für Worte zu gelten. Auch bei Texten über Unfälle ist immer auch an das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu denken, weshalb eine generelle Zurückhaltung selbst dann angebracht ist, wenn die Betroffenen für eine breite Öffentlichkeit nicht identifizierbar sind. Diese Grundsätze sind auch für ein Boulevardmedium wie den „Blick“ anwendbar. Die Vorstellung, dass jemand Nahestehender bei lebendigem Leibe verbrannt, ist schrecklich. Die Verwendung einer die Angehörigen weniger verletzenden Formulierung wäre ohne weiteres möglich gewesen, weshalb festzustellen ist, dass der Unfalltod des Schwiegervaters des Beschwerdeführers von „Blick“ in einer unnötig reisserischen Art aufgemacht wurde.

3. Nach der Intervention der Tochter des Verstorbenen am Tag der Publikation des umstrittenen Berichts hatte „Blick“ Kenntnis davon, dass die Todesursache zumindest umstritten war. Es wäre deshalb im Lichte von Ziff. 5 der „Erklärung“ („Sie berichtigen jede von ihnen veröffentlichte Meldung, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist.“) angezeigt gewesen, dass der ursprünglich publizierte Sachverhalt zumindest ergänzt worden wäre. Denn es macht sowohl für die Betroffenen wie auch für das Publikum einen wesentlichen Unterschied aus, ob mit Sicherheit von einem Verbrennungstod auszugehen ist oder ob im Gegenteil mit grosser Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Tod bereits nach der Kollision eintrat. Der Presserat hat seinerzeit in der Stellungnahme vom 29. September 1987 i.S. B. c. „Blick“ (Sammlung der Stellungnahmen des Presserates 1983-1989, S. 56ff.) zudem festgehalten, dass in schweren Fällen neben einer Berichtigung auch eine Entschuldigung angebracht ist. Auch wenn der vorliegende Sachverhalt nicht ohne weiteres mit demjenigen der erwähnten Stellungnahme vergleichbar ist, wäre eine weitere Geste des „Blick“ gegenüber den Angehörigen des Unfallopfers – beispielsweise in Form eines Blumenstrausses und einer Beileidskarte – durchaus angebracht gewesen. Immerhin ist dem Autor des Artikels aber zugute zu halten, dass er es bedauert, Gefühle von Angehörigen verletzt zu haben.

III. Feststellungen

1. „Blick“ hat Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten nicht verletzt, da er sich auf die in der Unfallberichterstattung üblichen, ihm bekannten und grundsätzlich zuverlässigen Quellen abgestützt hat.

2. Bei der Berichterstattung über Unfälle ist immer auch an das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu denken. Deshalb ist eine generelle Zurückhaltung in der Wortwahl selbst dann angebracht, wenn die Betroffenen für eine breite Öffentlichkeit nicht identifizierbar sind.

3. Erhält eine Redaktion im Zusammenhang mit einer Unfallberichterstattung im Nachhinein davon Kenntnis, dass die von ihr dargestellte Todesursache nicht richtig bzw. eine andere wesentlich wahrscheinlicher ist, muss der ursprünglich publizierte Text zumindest ergänzt werden.