Nr. 1/2012
Identifizierung

(X. c. «Aargauer Zeitung») Stellungnahme des Presserates vom 8. Februar 2012

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Zusammenfassung

Kombination von Informationen ermöglicht Identifizierung
Ein Buchhalter, der vor Gericht der Veruntreuung angeklagt war, beschwerte sich beim Presserat: Die «Aargauerzeitung» habe ihn in ihrer Gerichtsberichterstattung indirekt identifiziert. Der Presserat heisst die Beschwerde gut. Die Nennung des Wohnorts des Angeklagten sowie die Erwähnung der früheren ehrenamtlichen Tätigkeit für einen namentlich genannten Sportverbands sei für die Berichterstattung nicht zwingend gewesen. Ein regionaler Bezug hätte auch mit der Erwähnung der Wohnregion hergestellt werden können und für das Verständnis des Delikts sei die genaue Bezeichnis des Verbands nicht entscheidend. Die «Aargauerzeitung» habe deshalb die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Identifizierung) verletzt.

Résumé

< La combinaison d’informations permet une identification Un comptable accusé de détournement devant un tribunal s’est plaint au Conseil de la presse: l’«Aargauer Zeitung» aurait indirectement dévoilé son identité dans son compte rendu judiciaire. Le Conseil de la presse approuve cette plainte. La mention du lieu de domicile de l’accusé ainsi que de son activité bénévole passée pour une association sportive citée nommément n’étaient pas indispensables à la compréhension de l’affaire. Une mention de la région où il habite aurait été suffisante. Quant à l’indication précise de l’association elle n’était pas pertinente, car elle n’avait aucun lien avec le délit. L’«Aargauer Zeitung» dès lors contrevient au chiffre 7 de la «Déclaration des devoirs et des droits de la/du journaliste» portant sur l’identification. < br />

Riassunto

< Quando i particolari facilitano l‘identificazione Un contabile accusato in giudizio di amministrazione infedele si è rivolto al Consiglio della stampa per denunciare il modo subdolo con cui la «Aargauerzeitung» l’aveva reso riconoscibile pubblicando la cronaca del processo. Il reclamo è stato accolto. La menzione del luogo dove abita, come pure quella di una sua precedente attività non retribuita come dirigente sportivo, lo hanno reso in pratica riconoscibile. Sarebbe bastato citare la regione; e la menzione della società sportiva per cui era stato attivo non era essenziale. L’«Aargauerzeitung» ha dunque contravvenuto alle prescrizioni della «Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista» in materia di identificazioni.

I. Sachverhalt

A. Am 29. Oktober 2010 berichtete Attila Szenogrady in der «Aargauer Zeitung» über einen Strafprozess wegen gewerbsmässigem Betrug und Veruntreuung vor dem Bezirksgericht Zürich (Titel: «Buchhalter einer Zürcher Stahlfirma muss hinter Gitter»). Der Lead des Artikels lautet: «Bellikon. Ein Buchhalter zweigte knapp eine Million Franken aus der Firmenkasse ab. Dafür muss er nun ein Jahr ins Gefängnis.» Der Verurteilte habe während 12 Jahren Geldbeträge aus der Firmenkasse veruntreut und sein Nebenamt als Kassier eines gesamtschweizerischen – von der «Aargauer Zeitung» namentlich genannten – Sportverbands dazu missbraucht, um einen Teil des Gelds «illegal zu waschen».

B. Am 22. November 2011 beschwerte sich X. beim Presserat über den «identifizierenden» Artikel der «Aargauer Zeitung», der die Richtlinien 7.2 (Identifizierung) und 7.4 (Resozialisierung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletze. Da ihm sein ehemaliger Arbeitgeber 2009 – verständlicherweise – gekündigt habe, sei er heute als selbstständiger Buchalter tätig. Deshalb sei er darauf angewiesen, dass die Verurteilung nicht über sein näheres soziales Umfeld hinaus bekannt werde.

Nach der Gerichtsverhandlung vom 26. Oktober 2011 sei in «20 Minuten Online» und «Aargauer Zeitung Online» je ein identischer, anonymisierter Bericht erschienen, der jedoch seinen Wohnort und die Herkunft seiner Frau erwähnt habe. Nach mehreren Interventionen bei den beiden Redaktionen seien diese Angaben wieder entfernt worden. Umso mehr habe ihn danach der Bericht in der Printausgabe der «Aargauer Zeitung» schockiert, da dieser nicht nur seinen Wohnort Bellikon (1500 Einwohner), sondern auch die frühere Tätigkeit als Kassier eines Sportverbands nenne. Beide Angaben seien für das Verständnis der Leserschaft nicht relevant.

C. Am 3. Januar 2012 wies Chefredaktor Christian Dorer die Beschwerde namens der «Aargauer Zeitung» als unbegründet zurück. Der Artikel respektiere die Richtlinien 7.2 und 7.4 zur «Erklärung». Ohne den regionalen Bezug hätte die «Aargauer Zeitung» nicht über einen Zürcher Gerichtsprozess berichtet. Die Nennung des Wohnorts sei deshalb notwendig gewesen. Da der Bericht zudem weder Namen noch Initialen nenne, sei kaum davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer über sein näheres Umfeld hinaus erkennbar sei. Die frühere Tätigkeit von X. als Kassier eines Sportverbands sei für die ihm vorgeworfenen Delikte relevant, weil er in dieser Funktion einen Teil der veruntreuten Geldbeträge über die Verbands-Konten habe fliessen lassen. Da diese Tätigkeit sechs Jahre zurück liege, wirke ihre Nennung in der breiten Öffentlichkeit jedoch kaum mehr identifizierend. Zudem handle es sich um eine «gesellschaftlich leitende Funktion» im Sinne der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung», so dass eine identifizierende Berichterstattung in diesem Zusammenhang ohnehin gerechtfertigt wäre.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören.

E.
Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 8. Februar 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Gemäss der Ziffer 7 zur «Erklärung» respektieren die Medienschaffenden «die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die zugehörige Richtlinie 7.2 (Identifizierung) verlangt, dass die Medienschaffenden «die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig» abwägen. Eine identifizierende Berichterstattung ist zulässig, «sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht (…) Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.»

Richtlinie 7.4 ergänzt dazu, dass bei einer Gerichtsberichterstattung Namensnennung und andere Identifizierung besonders sorgfältig abzuwägen sind. Ausserdem ist bei einer Verurteilung auf die Familie sowie auf die Resozialisierungschancen des Verurteilten Rücksicht zu nehmen.

2. Der Beschwerdeführer beanstandet lediglich zwei Informationselemente, die aus seiner Sicht die Identifizierung ermöglichen. Dazu wendet die «Aargauer Zeitung» ein, die Nennung des Wohnorts sei für den regionalen Bezug und diejenige des Sportverbands für das Verständnis des Delikts notwendig.

Der Presserat kommt in seiner Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung und dem Interesse des Beschwerdeführers am Schutz seiner Privatsphäre und an seinem wirtschaftlichen Fortkommen zum gegenteiligen Ergebnis. Hätte die «Aargauer Zeitung» darauf verzichtet, den Sportverband namentlich zu benennen, wäre der Beschwerdeführer trotz der geringen Einwohnerzahl seines Wohnorts kaum über sein engeres soziales Umfeld hinaus erkennbar. Zumal die Verbandstätigkeit doch schon einige Jahre zurückliegt. Ebenso gälte dies tendenziell bei einem Verzicht auf die Angabe des Wohnorts. Mit der Kombination der beiden Elemente erhöht sich hingegen die Gefahr beträchtlich, dass X.  für einen grösseren Kreis der Leserschaft identifizierbar ist, die ohne den Bericht kaum von seiner Verurteilung erfahren würde.

War eine identifizierende Berichterstattung – wie dies die «Aargauer Zeitung» einwendet – aber nicht ohnehin gerechtfertigt, weil der Beschwerdeführer als Kassier eines gesamtschweizerischen Sportverbands eine wichtige gesellschaftliche Funktion innehatte und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht? Nach Auffassung des Presserats wäre dies dann zu bejahen und die Nennung des Sportverbands dann gerechtfertigt, wäre dieser durch die deliktische Tätigkeit unmittelbar geschädigt worden. Vorliegend scheint es hingegen kaum entscheidend, um welchen Verband es sich handelte. Auch wäre es möglich gewesen, einen regionalen Bezug des Gerichtsberichts herzustellen, wenn die «Aargauer Zeitung» die Wohnregion statt den genauen Wohnort genannt hätte. Im Ergebnis erscheint die Kombination der Nennung von Wohnort und Sportverband deshalb als unverhältnismässig und sie verstösst damit gegen die Ziffer 7 der «Erklärung».

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die «Aargauer Zeitung» hat mit dem Bericht «Buchhalter einer Zürcher Stahlfirma muss hinter Gitter» vom 29. Oktober 2011 die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Identifizierung) verletzt. Die Kombination der Nennung von Wohnort und der früheren Tätigkeit als Kassier eines gesamtschweizerischen Sportverbands ermöglichte eine über das nähere familiäre und soziale Umfeld hinausgehende Identifizierung und war im konkreten Fall unverhältnismässig.