Nr. 11/2001
Informantenschutz

(Narconon c. Tages-Anzeiger) Stellungnahme des Presserates vom 19. Januar 200

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I. Sachverhalt

A. Am 16. September 2000 erschien im „Tages-Anzeiger” unter dem Titel „Scientologische Rosskur beim Drogenentzug” ein Artikel von Hugo Stamm. Darin berichtet er über die Erfahrungen einer namentlich nicht genannten „45-jährigen Zürcherin mit Alkoholproblemen”, die beim Verein Narconon in dessen Rehabilitationszentrum Waldstatt AR eine halbjährige Drogenentziehungskur bzw. -therapie antrat, diese aber vorzeitig abbrach, weil ihr die dort angewandten Methoden nicht zusagten. Die „Zürcherin” wird ausführlich zitiert. So habe sie erst nach einer Woche gemerkt, dass das Zentrum mit Scientology zu tun habe und die Methoden von Ron Hubbard anwende. Die Leiterin des Zentrums, welche sie darauf ansprach, habe einen Zusammenhang zwischen Narconon und Scientology aber verneint. Im weiteren wird geschildert, dass die „Zürcherin” Kommunikationsübungen habe machen müssen, die sie als Zeitverschwendung empfunden habe, dass sie fast täglich Hausarbeit habe leisten müssen, dass sie im Rahmen eines Reinigungsprogramms täglich vier bis viereinviertel Stunden in der Sauna ausharren sowie riesige Mengen von Vitamintabletten habe schlucken müssen. Die überlangen Saunabesuche und der Tablettenkonsum hätten zu gesundheitlichen Problemen und Gewichtsverlust geführt, so dass sich die „Zürcherin” entschlossen habe, die Therapie abzubrechen. Sie sei aber von den Scientologen bearbeitet worden, die Therapie fortzusetzen, dies auch noch, nachdem sie das Zentrum längst verlassen hatte. In zwei Passagen des Artikels wird die Haltung der Präsidentin von Narconon-Deutschschweiz, Ursula Süss, wiedergegeben. Diese machte gegenüber dem „Tages-Anzeiger” geltend, den Teilnehmern das Narconon-Programms würde mitgeteilt, das Narconon mit Methoden des Scientologygründers Hubbard arbeite. Weiter machte sie geltend, entgegen den Angaben der Informantin beschränke sich die Arbeitszeit auf eine Stunde täglich.

B. Mit Schreiben vom 4. November 2000 reichte Ursula Süss in ihrer Funktion als Präsidentin von Narconon Deutschschweiz (nachfolgend: Beschwerdeführerin) gegen diese Berichterstattung des „Tages-Anzeiger” beim Presserat Beschwerde ein. Sie erachtete Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), Ziffer 3 (Quellenbearbeitung), Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) und Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten” als verletzt. Insbesondere warf die Beschwerdeführerin Hugo Stamm vor, dass er zur zitierten Person gar keinen direkten Kontakt gehabt habe, sondern über eine Beratungsstelle zu den entsprechenden Informationen gekommen sei. Die Beschwerdeführerin machte geltend, nach der Publikation des Artikels herausgefunden zu haben, um wen es darin gehe. Auf ihre Rückfrage hin habe die entsprechende Person in Abrede gestellt, mit Hugo Stamm jemals in Kontakt gestanden zu sein. Die im Artikel wiedergegebenen Zitate seien deshalb nicht echt. Stamm habe den direkten Kontakt nur vorgegaukelt, um von Narconon Informationen zu erhalten. Indem er intimste Details aus der Privatsphäre der zitierten Person veröffentlichte, habe Stamm ausserdem gegen den Persönlichkeitsschutz verstossen. Zudem beklagte die Beschwerdeführerin, dass der Artikel verschiedene falsche Aussagen beinhalte. Konkret sei die „Zürcherin” darüber informiert gewesen, dass Narconon mit den Methoden Hubbards arbeite, auch sei sie nicht geflüchtet, sondern das Programm sei im gegenseitigen Einverständnis abgebrochen worden, und es stimme nicht, dass die „Zürcherin” täglich während vier bis viereinhalb Stunden in der Sauna habe ausharren müssen. In einem letzten Punkt beanstandete die Beschwerdeführerin, dass der „Tages-Anzeiger” seine Berichtigungspflicht nicht wahrgenommen habe, weil er einen Leserbrief, den sie in dieser Angelegenheit am 21. September 2000 an den TA-Chefredaktor sandte, nicht abgedruckt habe.

C. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Roger Blum als Präsident und Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli, Silvana Ianetta, Philip Kübler, Kathrin Lüthi und Edy Salmina als Mitglieder angehören.

D. Mit Schreiben vom 10. Januar 2001 wies der „Tages-Anzeiger” die Beschwerde als unbegründet zurück. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin habe Hugo Stamm mit der Informantin nachgewiesenermassen persönlich Kontakt gehabt. Die Informantin sei im Anschluss an die Publikation des Artikels Belästigungen durch Exponenten aus dem Umfeld von Narconon und Scientology ausgesetzt gewesen. Diesen Sachverhalt habe sie nach Eingang der Beschwerde beim Presserat gegenüber den Beschwerdegegnern schriftlich bestätigt und zudem Hugo Stamm für das Verfahren vor dem Presserat von der Pflicht zur Wahrung des Redaktionsgeheimnisses befreit. Dementsprechend stehe nachgewiesenermassen fest, dass Hugo Stamm der Beschwerdeführerin im Vorfeld der Publikation ausschliesslich Fragen gestellt habe, die sich aus den Gesprächen mit der Informantin ergeben hätten. Der Beschwerdeführerin sei nichts vorgegaukelt worden, um Informationen zu erhalten. Hugo Stamm habe mit der Informantin auch mündlich Kontakt gehabt. Alle Zitate stammten von Gesprächen mit der Informantin und seien mit deren Einwilligung abgedruckt worden. Der Leserbrief der Beschwerdeführerin sei nicht abgedruckt worden, weil bei der Leserschaft des „Tages-Anzeigers” nicht der tatsachenwidrige Eindruck erweckt werden sollte, Hugo Stamm sei effektiv so unkorrekt vorgegangen, wie dies von der Beschwerdeführerin behauptet wurde. Die Leserbriefredaktion habe den Hintergrund verschwiegen, der zur Ablehnung des Abdrucks des Leserbriefs geführt habe, weil zum damaligen Zeitpunkt der der Informantin garantierte Quellenschutz Vorrang gehabt habe.

Der „Tages-Anzeiger” belegt die von ihm behauptete Tatsachendarstellung u.a. mit Korrespondenzen und Handnotizen von Hugo Stamm über zwei mit der Informantin geführte Gespräche. In diesem Zusammenhang beantragte der „Tages-Anzeiger”, die die Informantin betreffenden Aktenstücke seien in keinem Fall der Beschwerdeführerin herauszugeben, damit die Informantin bestmöglich vor weiteren Repressalien geschützt werde. Weiter beantragte der „Tages-Anzeiger”, die Beschwerdegegner seien rechtzeitig im Voraus über den Zeitpunkt zu informieren, an dem die Beschwerdeführerin den Standpunkt der Beschwerdegegner erfährt. Es gehe darum, der Informantin Hilfestellungen bereit zu halten, falls sie erneut belästigt werden sollte.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 19. Januar 2001 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziff. 4 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten” (nachfolgend „Erklärung”) gebietet den Medienschaffenden, sich bei der Beschaffung von Informationen keiner unlauterer Methoden zu bedienen. Unlauter ist die Informationsbeschaffung – vorbehältlich einer ausnahmsweise zulässigen verdeckten Recherche – u.a. dann, wenn eine Auskunftsperson unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zur Bekanntgabe von Informationen veranlasst wird.

Die Beschwerdeführerin erhebt mit der Behauptung, der Journalist sei mit der zitierten Person nie in direktem Kontakt gestanden und habe diesen nur vorgegaukelt, um an Informationen von Narconon heranzukommen, eben diesen Vorwurf. Aufgrund der dem Presserat vom „Tages-Anzeiger” vorgelegten Beweismittel steht jedoch fest, dass der Vorwurf nicht den Tatsachen entspricht, sondern dass Hugo Stamm selber mit der Informantin gesprochen hat. Wenn Hugo Stamm in der Folge die Beschwerdeführerin mit den schwersten Vorwürfen der Informantin konfrontierte und die wichtigsten Antworten in seinen Artikel hat einfliessen lassen, handelte er berufsethisch korrekt (Prinzip des „audiatur et altera pars”). Eine Verletzung von Ziff. 4 der „Erklärung” ist dementsprechend offensichtlich zu verneinen.

2. Aufgrund von Ziff. 6 der „Erklärung
” („Sie wahren das Berufsgeheimnis und geben die Quellen vertraulicher Informationen nicht preis”) weigerte sich Stamm zudem zu Recht, die Identität der Informantin gegenüber der Beschwerdeführerin offenzulegen. Wie der Presserat eben erst in seiner Stellungnahme 6/2001 i.S. Leutenegger c. „Tages-Anzeiger” vom 19. Januar 2001 ausgeführt hat, ist bei einem Interessenkonflikt zwischen dem berufsetisch gebotenen Bestreben nach einer möglichst genauen Quellenangabe und der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses eine Interessenabwägung vorzunehmen. Vorliegend war es der Beschwerdeführerin auch ohne genaue Kenntnis der Informationsquelle ohne weiteres möglich, zu den gegen ihre Organisation gerichteten Vorwürfen Stellung zu nehmen und diese zu dementieren. Demgegenüber legen die Beschwerdegegner glaubhaft dar, dass die Informantin mit Belästigungen rechnen muss, wenn ihre Identität bekanntgegeben werden sollte. Dass die Informantin ursprünglich die Zustimmung zur Veröffentlichung der von ihr zugetragenen Informationen an die Gewährleistung des Quellenschutzes knüpfte, geht aus den dem Presserat vorliegenden Beweismitteln hervor. Die Publikation der Vorwürfe der Informantin, an der ein öffentliches Interesse bestand, war dementsprechend nur unter der Voraussetzung der Wahrung des Redaktionsgeheimnisses möglich. Aus den vom „Tages-Anzeiger” eingereichten Beweismitteln geht zudem hervor, dass Hugo Stamm diejenigen Aussagen der Informantin, mit denen er nicht die Beschwerdeführerin direkt konfrontierte, auf anderem Wege überprüfte. Hugo Stamm hat die erhaltenen Auskünfte also – wie es die journalistische Berufsethik vorschreibt – soweit möglich auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Glaubwürdigkeit überprüft.

4. Soweit die Beschwerdeführerin darüber hinaus geltend macht, der beanstandete Artikel habe wesentliche Falschinformationen enthalten (Verletzung von Ziff. 1 der „Erklärung”), ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Aufgabe des Presserates sein kann, diese Behauptung in einem förmlichen Beweisverfahren näher abzuklären. Bezüglich der von der Beschwerdeführerin explizit als tatsachenwidrig gerügten Aussagen des Artikels (Zeitpunkt der Aufklärung der Informantin über den Zusammenhang zwischen Scientology und Narconon; Flucht oder gemeinsamer Entscheid über Therapieabbruch? Dauer der täglichen Saunabesuche) wurde hinsichtlich des Zeitpunkts der Aufklärung im beanstandeten Artikel das Dementi der Beschwerdeführerin wiedergegeben. Ob der Abbruch der Therapie als Flucht oder als gemeinsamer Entscheid angesehen wird, ist letztlich eine Frage der unterschiedlichen subjektiven Wertungen. Schliesslich wird die Darstellung der Informantin über die Dauer der Sauna-Aufenthalte auch durch eine von den Beschwerdegegnern als Beweismittel vorgelegte Publikation bestätigt, die von Narconon selber vertrieben wird. Bei einer Gesamtwürdigung ist dementsprechend festzuhalten, dass dem Presserat keine Anhaltspunkte vorliegen, die die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Verletzung von Ziff. 1 der „Erklärung zu belegen vermöchten.

5. Ebensowenig haben die Beschwerdegegner Ziff. 7 der „Erklärung” („Sie respektieren die Privatsphäre des Einzelnen …”) verletzt, nachdem sie belegen können, dass die Informantin die Einwilligung zur anonymisierten Veröffentlichung ihrer Auskünfte erteilt hat.

6. Schliesslich war der „Tages-Anzeiger” auch nicht gehalten, den Leserbrief der Beschwerdeführerin zu veröffentlichen, da es gemäss ständiger Praxis des Presserates bekanntlich im Ermessen der einzelnen Redaktion liegt, ob ein Leserbrief veröffentlicht wird oder nicht (vgl. z.B. die Stellungnahme 16/2000 vom 16. Mai 2000 i.S. Oui à la vie c. „La Liberté” mit weiteren Verweisen). Da objektiv entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin nicht feststeht, dass der „Tages-Anzeiger” Falschinformationen veröffentlicht hat, waren die Beschwerdeführer auch nicht verpflichtet, eine Berichtigung abzudrucken. Die gerügte Verletzung von Ziff. 5 der „Erklärung” ist deshalb ebenfalls als unbegründet abzuweisen.

7. Schliesslich sind die Verfahrensanträge der Beschwerdegegner gutzuheissen. Zwar hat die Beschwerdeführerin gemäss Art. 10 Abs. 3 des Presseratsreglements Anspruch darauf, eine Kopie der Beschwerdeantwort zugestellt zu erhalten. Umgekehrt darf aber das Verfahren vor dem Presserat nicht dazu führen, dass der Quellenschutz in unverhältnismässiger Weise beeinträchtigt wird. In Abwägung der sich in diesem Fall gegenüberstehenden Interessen des vollständigen rechtlichen Gehörs auf der einen und der nachvollziehbaren Furcht der Informantin der Beschwerdegegner vor weiteren Belästigungen auf der anderen Seite hat der Presserat deshalb entschie den, der Beschwerdeführerin lediglich eine anonymisierte Fassung der Beschwerdeantwort, nicht dagegen die die Informantin betreffenden Beilagen zukommen zu lassen. Ebenso ist den Beschwerdeführern die Zustellung der Beschwerdeantwort an die Beschwerdeführerin eine Woche im voraus anzukündigen.

III. Feststellungen

1. Der „Tages-Anzeiger” hat die Ziffern 1, 3, 4, 5, 6 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte” der Journalistinnen und Journalisten” nicht verletzt. Die Beschwerde wird daher abgewiesen.

2. Der Quellenschutz geht der Verpflichtung zur vollständigen Offenlegung der Quellen vor, wenn die von den Vorwürfen eines Informanten Betroffenen auch ohne Kenntnis über die genaue Identität des Informanten in der Lage sind, dazu Stellung zu nehmen und wenn der Informant bei einer Preisgabe seiner Identität mit ernstzunehmenden Nachteilen rechnen müsste.

3. Die Einleitung eines Beschwerdeverfahrens vor dem Presserat darf nicht dazu führen, dass der berufsethisch gerechtfertigte Informantenschutz nachträglich in unverhältnismässiger Weise beeinträchtigt wird. Im Einzelfall ist dem berufsethischen Quellenschutz deshalb auch im Verfahren vor dem Presserat durch eine Interessenabwägung Rechnung zu tragen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör und auf vollständige Akteneinsicht kann ausnahmsweise insoweit eingeschränkt werden, als dies zur Wahrung der Anonymität eines Informanten erforderlich ist, der sich bei einer Preisgabe seiner Identität in nachvollziehbarer Weise vor Repressalien fürchtet.