Newsletter #2: Bussen wegen geheimer Informationen – weg mit Artikel 293 StGB!

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Edito Susan Boos, Präsidentin Schweizer Presserat

Indiskretionen elektrisieren journalistische Gemüter. Aber dürfen JournalistInnen geheimes Material in jedem Fall veröffentlichen? Das Statthalteramt des Bezirks Zürich befand im Frühling 2021: Nein – und stellte drei Journalisten der Tamedia-Zeitungen und der NZZ einen Strafbefehl aus. Sie sollten Bussen von 400 bis 800 Franken bezahlen. Es ging um das Bauprojekt Rosengarten in der Stadt Zürich. Der ehemalige Stadtpräsident von Zürich hatte im Vorfeld der Rosengartenabstimmung geheime Informationen an die Journalisten weitergegeben. Auch er erhielt einen Strafbefehl und sollte wegen «Gehilfenschaft zur Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen» eine Busse von 800 Franken bezahlen.

Inzwischen sind alle vier Strafbefehle aufgehoben, die Journalisten werden nicht gebüsst, der ehemalige Stadtpräsident auch nicht. Doch wo ist die Grenze? Welche Regeln gelten, wenn JournalistInnen geheimes Material zugespielt bekommen?

Die Frage stellte sich auch bei den Coronaleaks, als die «Schweiz am Wochenende» über den Mailwechsel von Bundesrat Bersets Kommunikationschef mit dem Ringier-CEO berichtet. Die Mails stammten aus einer noch laufenden Ermittlung. Darf man daraus berichten? Was sagt der JournalistInnenkodex dazu?

Die meisten medienethischen Fragen werden in den Richtlinien 1 bis 10 erörtert und beziehen sich auf die Pflichten der JournalistInnen. Die Frage, wie mit Indiskretionen umzugehen ist, wird aber in «Richtlinie a.1» abgehandelt. Den wenigsten JournalistInnen ist diese Richtlinie geläufig. Das «a» steht für die Rechte der JournalistInnen, weil der Kodex eben nicht nur aus Pflichten, sondern auch aus Rechten besteht.

Die «Richtlinie a.1 – Indiskretionen» besagt:  

«Medien dürfen Informationen veröffentlichen, die ihnen durch Indiskretionen bekanntgeworden sind, sofern:

  • die Informationsquelle dem Medium bekannt ist;
  • das Thema von öffentlichem Interesse ist;
  • die Veröffentlichung keine äusserst wichtigen Interessen wie z.B. schützenswerte Rechte, Geheimnisse usw. tangiert;
  • es keine überwiegenden Gründe gibt, mit der Publikation zuzuwarten;
  • die Indiskretion durch die Informantin / den Informanten absichtlich und freiwillig erfolgt ist.»

Sowohl bei der Rosengarten-Geschichte wie bei den Coronaleaks gab es unbestritten ein öffentliches Interesse. Die Informationsquelle war im Fall Rosengarten offensichtlich, im Fall der Coronaleaks kann man davon ausgehen, dass sie den Autoren bekannt ist.

Aus journalistischer Sicht ist klar: Beide Geschichten durften und mussten publiziert werden. Trotzdem riskieren JournalistInnen, verurteilt zu werden, wenn sie über relevante Indiskretionen berichten. Und das liegt an Artikel 293 StGB, der schon 1937 in die erste Version des Schweizerischen Strafgesetzbuches reingeschrieben wurde. Er besagt: «Wer aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, die durch Gesetz oder durch einen gesetzmässigen Beschluss der Behörde als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit bringt, wird mit Busse bestraft.» Und: «Die Gehilfenschaft ist strafbar.»

Der Artikel gilt seit Jahren als fragwürdig. In den 1990er Jahren gab es ernsthafte Bemühungen, ihn abzuschaffen. In einer Botschaft schrieb damals der Bundesrat: «Die umstrittene Strafvorschrift über die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) soll ersatzlos aufgehoben werden. Die Streichung der Norm gründet insbesondere auf der Überlegung, dass es unbillig ist, den Journalisten, der vertrauliche Informationen veröffentlicht, zu bestrafen, während der Beamte oder Behördenvertreter, der ihm die Publikation überhaupt erst ermöglicht hat, regelmässig straflos ausgeht, da seine Identität nicht ermittelt werden kann.»

Aus der Abschaffung wurde aber nichts, der Artikel steht heute noch im StGB. Vor gut zehn Jahren gab es im Nationalrat allerdings nochmals einen Anlauf, ihn abzuschaffen. Erneut gelang es nicht. Immerhin hat das Parlament Art. 293 StGB durch einen Absatz ergänzt: «Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Veröffentlichung kein überwiegendes öffentliches oder privates Interesse entgegengestanden hat.»

Dank dieses Zusatzes wurden die anfänglich ausgesprochenen Bussen im Fall Rosengarten von den Gerichten aufgehoben. Trotzdem gehört Art. 293 StGB grundsätzlich abgeschafft, weil sonst JournalistInnen ständig damit rechnen müssen, eben doch für die Veröffentlichung einer Indiskretion verurteilt zu werden. Selbst wenn die Betroffenen am Ende freigesprochen werden, absorbieren solche Verfahren viel Energie und wirken einschüchternd.

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