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Nichteintreten wegen Parallelverfahren: Was heisst das? Wann gibt es Ausnahmen?

Edito von Susan Boos, Präsidentin Schweizer Presserat

Manchmal tritt der Presserat auf eine Beschwerde nicht ein, weil es ein sogenanntes «Parallelverfahren» gibt. Für Leute, die eine Beschwerde eingereicht haben, ist die Logik dahinter mitunter schwer nachvollziehbar. Am Beispiel der Beschwerde eines Abts (vgl. Stellungnahme 23/2024) lässt sich die Logik illustrieren: Einem Westschweizer Medium unterläuft ein wirklich grober Fehler. Es publiziert eine Geschichte zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Dabei verwechselt die Redaktion den unbescholtenen Abt mit einem Priester, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Der Abt reicht eine Strafanzeige und gleichzeitig eine Beschwerde beim Presserat ein. In einem solchen Fall beschäftigt sich der Presserat für gewöhnlich nicht mit dem Inhalt einer Beschwerde – oder wie es das Geschäftsreglement umschreibt: Nicht eingetreten wird, «wenn ein Parallelverfahren (insbesondere bei Gerichten oder bei der UBI) eingeleitet wurde oder vorgesehen ist». Nun gibt es aber Ausnahmen von dieser Regel. Die sind ebenfalls im Geschäftsreglement formuliert. Demnach kann sich der Presserat trotz Parallelverfahren mit einer Beschwerde beschäftigen, wenn sich zum Beispiel «berufsethische Grundsatzfragen» stellen.

Es sind unter anderem prozessökonomische Gründe, dass der Presserat sich nicht parallel zu einem Gericht oder zur UBI mit einem Fall beschäftigt. In früheren Stellungnahmen wurde vor allem argumentiert, man wolle das Gericht nicht beeinflussen oder auch verhindern, dass zum Beispiel ein Beschwerdeführer den Presserat missbrauche, um an Beweismittel zu gelangen, an die er auf anderem Wege nicht gelangen könnte (Stellungnahme 46/2007). Heute fokussiert der Presserat mehr auf die Frage, ob sich eine «medienethische Grundsatzfrage» stellt – und zwar eine Grundsatzfrage, die bislang vom Presserat noch nie beantwortet worden ist.

Im Fall des Abtes ist es offenkundig: Der Fehler des Mediums ist gravierend, das ist unbestritten. Der Presserat hat aber schon diverse Mal in anderen Fällen entschieden, bei denen es um grobe Fehler ging – zum Beispiel vor einem Jahr, als der «Blick» einen ursprünglich korrekten Text falsch kürzte und danach fälschlicherweise schrieb, 20’000 Menschen seien beim «Atom-Gau» in Japan ums Leben gekommen. Grund für den Tod der Menschen waren aber das Erdbeben und die nachfolgende Flutwelle (Stellungnahme 24/2023).

Doch wann handelt es sich um eine neue medienethische Grundsatzfrage? Aktuell ist beim Presserat eine Beschwerde hängig, die das anschaulich macht: Eine Person wird von einem Medium beschuldigt, gravierende Fehler gemacht zu haben, weshalb Menschen zu Schaden kamen. Die Person erhält vor der Publikation vom Journalisten eine Liste mit Fragen und Vorwürfen. Die Person hatte einige Stunden Zeit, dazu Stellung zu nehmen. Der Artikel erscheint, die Person reicht Strafanzeige und eine Beschwerde beim Presserat ein. Vom Presserat will sie nur eine Frage beantwortet haben: Ist es fair, wenn man als beschuldigte Person nur so kurz Zeit hat, um einen so langen Fragenkatalog zu beantworten? In Richtlinie 3.8 heisst es zum Thema «Anhörung bei schweren Vorwürfen»: Den von schweren Vorwürfen Betroffenen ist «angemessen Zeit zu geben, um Stellung zu nehmen». Wie lange ist «angemessen»? Eine gute Frage, die im Detail vom Presserat noch nicht beantwortet worden ist. Deshalb ist der Presserat trotz Parallelverfahren auf die Beschwerde eingetreten. Die Frage wird zurzeit von einer Kammer diskutiert. Die Stellungnahme liegt noch nicht vor. Man darf gespannt sein.