Nr. 24/2023
Wahrheitssuche / Berichtigungspflicht

(X. / Y. c. «Blick»)

Drucken

Zusammenfassung

Mit dem Artikel «Weltweiter Ausstieg vom Atomausstieg» vom 13. März 2023 hat der «Blick» den Journalistenkodex verletzt. Der Schweizer Presserat heisst eine entsprechende Beschwerde gut, wonach der Einstieg des Textes falsch sei, genauer genommen die Sätze: «Am Samstag hat Japan der Opfer der Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es seit dem Atom-GAU her, der 20’000 Menschen das Leben gekostet hat.» Aus Sicht des Presserats ist die Wahrheitspflicht mit dem zweiten Satz verletzt. Es waren nachweislich die Flutwellen (Tsunami) des Tohoku-Erdbebens vom 11. März, die Tausenden Japanerinnen und Japanern das Leben kostete. Bei einem Ereignis, das weltweit derart für Schlagzeilen sorgte, ist Präzision zwingend. Auch ist die Diskussion um Kernenergie und Atomkraft von zu grosser politischer Relevanz, als dass einfach angenommen werden darf, wie vom «Blick» geltend gemacht, dass der Ausdruck «Atom-GAU» von DurchschnittsleserInnen auch im Sinne eines Überbegriffs für die Fukushima-Katastrophe verstanden werde. Bei so wichtigen wie umstrittenen Themen müssen die Fakten stimmen – sie sind wesentlich, nicht nur für die Artikel selbst, sondern insgesamt für die Diskussion. Verletzt hat der «Blick» den Journalistenkodex auch, weil er die falsche Formulierung zwar nach wenigen Stunden bemerkt und online korrigiert hat, jedoch auf ein Korrigendum in einer der nächsten Print-Ausgaben verzichtet hat. Dieses wäre zwingend gewesen.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse considère que « Blick » a enfreint le code déontologique dans son article « Weltweiter Ausstieg vom Atomausstieg » (fin de la sortie du nucléaire à l’échelon mondial). Il a admis une plainte portant sur la partie introductive du texte, considérée comme fausse. En particulier, les phrases suivantes sont soumises à caution « Am Samstag hat Japan der Opfer der Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es seit dem Atom-GAU her, der 20’000 Menschen das Leben gekostet hat. » (Samedi, le Japon a rendu hommage aux victimes de la catastrophe de Fukushima. Elle est survenue il y a douze ans et 20 000 personnes ont trouvé la mort dans cet accident nucléaire majeur.). De l’avis du Conseil suisse de la presse, la deuxième phrase contrevient au principe de recherche de la vérité. Ce sont dans les faits le tsunami causé par le tremblement de terre du 11 mars 2011, dont l’épicentre se trouvait dans la région du Tohoku, qui a coûté la vie à des milliers de Japonais. La précision est de mise lorsqu’il s’agit d’un événement qui a fait les gros titres dans le monde entier. De plus, le débat sur l’énergie atomique est un enjeu politique trop important pour que l’on puisse admettre que le lecteur moyen, comme s’en défend « Blick », comprend lui aussi l’expression « Atom-GAU » (accident nucléaire majeur) comme un terme générique pour évoquer la catastrophe de Fukushima. Des thèmes aussi primordiaux et controversés méritent d’être traités avec exactitude ; c’est essentiel pour les articles eux-mêmes, mais aussi et surtout pour la discussion publique. « Blick » a également enfreint le code déontologique du fait qu’il a corrigé la version en ligne de l’article quelques heures après sa publication, mais a renoncé à faire un erratum dans l’une de ses prochaines éditions papier, alors même qu’un tel correctif s’imposait.

Riassunto

Con l’articolo «Weltweiter Ausstieg vom Atomausstieg» (Abbandono globale del nucleare), il «Blick» ha violato il codice dei giornalisti. Il Consiglio svizzero della stampa ha accolto un reclamo secondo cui l’inizio del testo è errato. Si riferisce in particolare alle frasi «Am Samstag hat Japan der Opfer der Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es seit dem Atom-GAU her, der 20’000 Menschen das Leben gekostet hat.» (Sabato il Giappone ha commemorato le vittime del disastro nucleare di Fukushima. Sono passati dodici anni dal disastro nucleare che ha causato la morte di 20.000 persone). Il Consiglio della stampa ritiene che la seconda frase violi il dovere di dire la verità. È accertato come sia stato lo tsunami generato dal terremoto di Tohoku dell’11 marzo 2011 a costare la vita a migliaia di giapponesi. Con un evento che ha fatto notizia in tutto il mondo, la precisione è imperativa. Dal punto di vista politico, il dibattito sull’energia nucleare e sull’energia atomica è inoltre troppo rilevante per poter semplicemente supporre, come sostiene il «Blick», che l’espressione «Atom-GAU» (disastro nucleare), venga intesa anche dal lettore medio come un termine generico che include la catastrofe di Fukushima. Quando si trattano argomenti così importanti e controversi, i fatti devono essere corretti; sono essenziali, non solo per gli articoli stessi, ma per la discussione nel suo insieme. Il «Blick» ha violato il codice dei giornalisti anche perché, pur essendosi accorto della formulazione inesatta a distanza di poche ore, e avendola corretta online, si è astenuto dal pubblicare un’errata corrige in una delle successive edizioni cartacee. Questo sarebbe stato d’obbligo.

I. Sachverhalt

A. Am 13. März 2023 veröffentlichte der «Blick» einen Print-Artikel mit dem Titel «Weltweiter Ausstieg vom Atomausstieg». Er beginnt mit den Sätzen: «Am Samstag hat Japan der Opfer der Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es seit dem Atom-GAU her, der 20’000 Menschen das Leben gekostet hat.»

B. Am 16. März 2023 reichten X. und Y. eine Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen den Artikel ein, genauer gesagt dessen Einstieg. Dieser verletze die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung»). Nicht das Reaktor-Unglück habe die 20’000 Toten gefordert, sondern «nachgewiesenermassen» das Erdbeben der Stärke 9 und der nachfolgende Tsunami am 11. März 2011. Die Beschwerdeführer verweisen auf einen Bericht des United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR, auf Deutsch: Wissenschaftlicher Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung), der beweise, dass beim Reaktor-Unglück in Fukushima niemand durch Strahlung geschädigt worden sei. Der Artikel verstosse zudem gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung», schreiben die Beschwerdeführenden weiter. Die Autorin habe «weder die verfügbaren und zugänglichen Daten beachtet noch die möglicherweise kursierenden falschen Angaben über die angeblichen Todesfälle überprüft». Verletzt sei – mangels Korrektur der falschen Fakten – auch die Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht).

Die Beschwerdeführer fordern den Presserat abschliessend auf, alle darauf hinzuweisen, dass die Aussage «20’000 Tote als Folge der Reaktorkatastrophe in Fukushima» in Zukunft unter Strafe gestellt werden müsse, da sie gegen die genannte(n) Ziffer bzw. Richtlinien der «Erklärung» verstosse.

C. Am 28. April 2023 nahm die Rechtsabteilung von Ringier für die Chefredaktion des «Blick» Stellung zur Beschwerde. Diese erweise sich als unbegründet und sei abzuweisen. Dies umso mehr, als es sich bei den Beschwerdeführenden um «zwei bekannte Atom-Lobbyisten» handle, welche sich «seit Jahren für Atomkraftwerke stark machen». Für eine gesamtheitliche Einordnung der Beschwerde müsse man diesen Hinweis mit einbeziehen.

Der beanstandete Artikel sei mit anderem Titel («Die Welt ist im Atomkraft-Fieber») und leicht unterschiedlichem Einstieg gleichentags auch online publiziert worden, schreibt «Blick». Der Einstieg habe wie folgt gelautet: «Am Samstag hat Japan der Opfer der Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es her seit dem Atom-GAU, der von einem Tsunami ausgelöst worden war, der 20’000 Menschen das Leben kostete.» Für die Print-Version sei der Nebensatz «(…), der von einem Tsunami ausgelöst worden war, (…)» aus Platzgründen gestrichen worden. Bei der bemängelten Formulierung handle es sich «zugegebenermassen» um eine journalistische Ungenauigkeit, aber keineswegs um eine Verletzung des Wahrheitsgebots im Sinne der «Erklärung» des Presserats, schreibt «Blick». Der Autorin liege es fern, eine falsche Tatsachenbehauptung in die Welt zu setzen. Darüber hinaus könne der Ausdruck «Atom-GAU» von DurchschnittsleserInnen auch im Sinne eines Überbegriffs für die Fukushima-Katastrophe verstanden werden.

Die Redaktion habe die «unpräzise» Formulierung des zweiten Satzes nach wenigen Stunden bemerkt und online «speditiv» wie folgt angepasst: «Am Samstag hat Japan der Opfer der Tsunami- und Reaktorkatastrophe von Fukushima gedacht. Zwölf Jahre ist es her seit dem Tsunami, der 20’000 Menschen das Leben kostete.» Die Kausalität zwischen dem Tsunami und den Todesfällen sei damit zweifelsfrei klargestellt worden.

Zu einer Berichtigung in der Printausgabe – etwa im Sinne eines Korrigendums – habe aus Sicht der Redaktion kein Anlass bestanden, schreibt «Blick». Zu berichtigen sei ein Fehler nach Presseratspraxis nämlich nur, wenn er eine gewisse Relevanz für die Aussagen im Artikel habe (vgl. Stellungnahmen 5/2005 und 74/2019). Wesentlich am beanstandeten «Blick»-Artikel sei, was die beiden Titel der Print- und Online-Ausgabe auf den Punkt brächten: «Weltweiter Ausstieg vom Atomausstieg» («Blick») und «Die Welt ist im Atomkraft-Fieber» («Blick.ch»). Es gehe darum, dass Kernenergie weltweit immer noch sehr stark verbreitet sei, obwohl es international eine Bewegung in Richtung Ausstieg aus der Atomenergie gebe. Nicht Thema des Artikels sei hingegen das Erdbeben und der Tsunami von 2011; der Hinweis auf den zwölften Jahrestag der Katastrophe erfolge nur als Einleitung in den Text. Der beanstandete zweite Satz des Artikels sei denn auch unwichtig für den Gesamtkontext. Er habe für die Aussagen des Artikels keine Relevanz. Es habe demnach keine Berichtigungspflicht bestanden. Und falls doch, was der «Blick» bestreite, gestehe der Presserat den Redaktionen einen Ermessensspielraum zu, wie sie die Berichtigung im Einzelfall konkret umsetzen (Stellungnahme 24/2011). In diesem Fall hätte die Redaktion die Online-Anpassung für ausreichend erachtet.

D. Das Präsidium des Presserates wies den Fall seiner 3. Kammer zu. Ihr gehören Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Christina Neuhaus, Simone Rau, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx an. Pascal Tischhauser trat von sich aus in den Ausstand.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 3. Juli 2023 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Journalistinnen und Journalisten halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich für sie ergebenden Folgen. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» hält die Wahrheitssuche als Ausgangspunkt der Informationstätigkeit fest. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus.

Der von den Beschwerdeführenden beanstandete Satz «Zwölf Jahre ist es seit dem Atom-GAU her, der 20’000 Menschen das Leben gekostet hat» ist nachweislich falsch. Es waren die Flutwellen (Tsunami) des Tohoku-Erdbebens vom 11. März 2011, die Tausenden Japanerinnen und Japanern das Leben kostete.

Auf den ersten Blick erscheint die Aussage des zweiten Satzes des Artikels für das Verständnis der Leserschaft nicht relevant. Im Rest des Artikels ist die Katastrophe vom 11. März 2011 kein Thema mehr. Der Satz ist kurz – und man ist geneigt, der Redaktion den Fehler zu verzeihen: Wer weiss denn schon nicht, dass es in Wirklichkeit das Erdbeben und der nachfolgende Tsunami war, der das Leben so vieler Japanerinnen und Japanern kostete? Doch man könnte auch fragen: Was ist mit jüngeren Leserinnen und Lesern? Oder solchen, die nur selten Medien konsumieren und/oder das Ereignis zwölf Jahre später nicht mehr so genau in Erinnerung haben? In ihren Köpfen setzt sich möglicherweise die nachweislich falsche Information fest, dass ein «Atom-GAU» für den Tod von über 20’000 Menschen verantwortlich ist. Dies wäre bedenklich: Es handelt sich um ein politisch hoch umstrittenes Thema, das aus Sicht des Presserats präzise abgehandelt werden soll. Die Kritik am falschen Satz ist berechtigt, egal, von wem sie geäussert wird.

Der Presserat sieht die Wahrheitspflicht verletzt, weil es sich beim 11. März 2011 um ein Ereignis handelt, das weltweit für Schlagzeilen sorgte. Bei solchen Ereignissen ist Präzision zwingend. Auch ist die Diskussion um Kernenergie und Atomkraft von zu grosser politischer Relevanz, als dass einfach angenommen werden darf, wie vom «Blick» geltend gemacht, dass der Ausdruck «Atom-GAU» von DurchschnittsleserInnen auch im Sinne eines Überbegriffs für die Fukushima-Katastrophe verstanden werde. Bei so wichtigen wie umstrittenen Themen müssen die Fakten stimmen – sie sind wesentlich, nicht nur für die Artikel selbst, sondern insgesamt für die Diskussion.

«Blick» argumentiert, für die Printversion hätten wegen Überlänge «einige Zeichen» gekürzt werden müssen. Auch dieses Argument verfängt nicht. Den Leserinnen und Lesern präsentiert sich damit – einzig – ein inhaltlich falscher Satz. Die Wahrheitspflicht ist verletzt.

2. Richtlinie 5.1 der «Erklärung» verpflichtet Journalistinnen und Journalisten zur unverzüglichen und selbst initiierten Berichtigung von «materiell unrichtigen» Fakten. Sie sollen Fehler demnach berichtigen, sobald sie davon Kenntnis haben. Je schwerer eine Falschmeldung wiegt, umso dringlicher ist die Korrektur. Grundsätzlich gilt: Zu berichtigen sind sämtliche wesentlichen Tatsachenfehler eines Medienberichts. Entbehrlich ist eine Berichtigung hingegen bei einer blossen Ungenauigkeit, die für das Verständnis der Leserschaft nicht relevant erscheint. Nicht der Berichtigung zugänglich sind zudem Werturteile und kommentierende Einschätzungen, sofern diese auf erwiesenen Fakten beruhen.

Die «Blick»-Redaktion hat die falsche Formulierung des zweiten Satzes nach wenigen Stunden bemerkt und online korrigiert. Das ist löblich. Es stellt sich deshalb ausschliesslich die Frage, ob die Redaktion in einer der nächsten Print-Ausgaben auch ein Korrigendum hätte platzieren müssen. Wird die Frage bejaht, hat die Redaktion die Berichtigungspflicht verletzt.

Der Presserat kann der Argumentation von «Blick» nicht folgen: Zwar stehen das Erdbeben und der Tsunami von 2011 und deren Folgen, wie von ihm richtig bemerkt, nicht im Zentrum des Artikels. Doch gänzlich irrelevant für dessen Aussagen – wie behauptet – sind sie dennoch nicht: Wenn die Welt tatsächlich «im Atomkraft-Fieber» ist, die Kernenergie «weltweit immer noch sehr stark verbreitet», wie der «Blick» schreibt, ist es gewissermassen von Belang, ob diese Kernenergie in Japan verantwortlich für über 20’000 Tote ist oder nicht. Die Online-Berichtigung war nicht ausreichend. Die Berichtigungspflicht ist mit dem Verzicht auf ein Print-Korrigendum verletzt.

3. Soweit die Beschwerdeführenden beantragen, der Presserat habe «alle Journalisten darauf hinzuweisen, dass die Aussage (…) in Zukunft unter Strafe gestellt werden muss», tritt der Presserat nicht auf die Beschwerde ein. Er ist für solche Forderungen nicht zuständig.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Der «Blick» hat mit dem Artikel «Weltweiter Ausstieg vom Atomausstieg» vom 13. März 2023 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.