Newsletter #4:  Diskutieren, nicht richten

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Edito Susan Boos (Präsidentin Schweizer Presserat)

Ende Frühling gibt der Presserat jeweils das Jahrheft heraus. Damit bieten sich ein Rückblick und ein Vergleich an. Es war beschwerdetechnisch schon fast ein ruhiges Jahr: 2022 gingen 85 Beschwerden ein, was etwa dem langjährigen Mittel entspricht. Während der Coronazeit waren wir mit jeweils doppelt so vielen Beschwerden konfrontiert. Der Presserat drohte zu kollabieren. Der Krieg in der Ukraine vermag offensichtlich nicht dasselbe auszulösen wie die Coronaberichterstattung – nachvollziehbar, war die direkte und persönliche Betroffenheit bei Corona doch eine ganz andere.

Corona illustrierte aber auch ein Dilemma, in dem der Schweizer Presserat steckt. Eigentlich sollte er besser gegen aussen kommunizieren. Doch je bekannter der Presserat wird, desto mehr Beschwerden sind zu erwarten, desto grösser die drohende Überlastung. Trotzdem wird nichts daran vorbeiführen, künftig viel offensiver zu erklären, was die eigentliche Aufgabe des Presserats ist. Und vor allem, was er nicht ist: Er ist kein Gericht, auch wenn das viele glauben. Und er ist keine Institution, die JournalistInnen disziplinieren und an den Pranger stellen will. Viele Medienschaffende empfinden das so, aber es ist ein fundamentaler Irrtum.

Der Presserat ist eine Selbstregulierungsorganisation. Seine Pflicht ist es, den medienethischen Diskurs zu führen. SPR-Vizepräsidentin Annik Dubied bringt es in ihrem Beitrag im Jahrheft auf den Punkt: Der Presserat «verordnet keine automatischen, unveränderlichen und universellen Regeln. Vielmehr soll er eine öffentliche Debatte über die Berichterstattung ermöglichen, indem er mit den JournalistInnen und ihrem Publikum über die Normen der Berichterstattung diskutiert (…)».

Die Beschwerden sind dazu da, diesen Diskurs zu pflegen – weil fairer, engagierter, kritischer Journalismus existenziell auf diesen Diskurs angewiesen ist. Der Presserat muss sich nicht neu erfinden, aber seine Ursprungsidee prononcierter in den Vordergrund rücken. Annik Dubied skizziert in ihrem Beitrag, in welche Richtung es gehen dürfte. Es wird ein interessanter Prozess, der helfen wird, qualitativ hochstehenden Journalismus von Radaupublikationen abzuheben.

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