Nr. 20/2016
Lauterkeit der Recherche

(SolidHelp c. «SonntagsBlick») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 10. Juni 2016

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I. Sachverhalt

A. Auf seiner Frontseite vom 14. September 2014 publizierte «SonntagsBlick» folgende Schlagzeile: «Sozial-Irrsinn; Familie kostet 60’000 Fr im Monat», daneben in kleinerer Schrift: «Private Sozial-Firmen profitieren; Gemeinde muss zahlen und schweigen». Auf Seite 3 folgt der Artikel «Eine Familie, vier Heime, sieben Betreuer = 60’000 Fr! im Monat». Der Obertitel lautet: «Sozial-Irrsinn in einer kleinen Zürcher Gemeinde», im Lead heisst es: «Eine Flüchtlingsfamilie im Kanton Zürich wird bis zu 25 Tage im Monat je sechs Stunden lang betreut. Die horrenden Kosten treiben die Gemeinde in den Ruin.» Im Artikel selbst schildern Deborah Lacourrège und Katia Murmann die Lebenssituation einer neunköpfigen eritreischen Familie, die in einer kleinen Zürcher Gemeinde in einer Vierzimmerwohnung lebt, berichtet von der Überforderung der Ayana genannten Mutter, deren Ehemann nach Winterthur gezogen sei und die sich als beratungsresistent erwiesen habe. Seit drei Jahren kümmerten sich deshalb die Behörden um die Mutter und ihre Kinder. Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) hätten in dieser Zeit ein dichtes Netz von Helfern um die Familie gesponnen, ein Netz, das die Gemeinde an den Rand des Ruins bringe. Vier der sieben Kinder seien in einem Heim platziert, während sich Sozialpädagogen an 25 Tagen pro Monat für einen Stundensatz von 135 Franken um die Mutter und die drei Kinder kümmerten. «SonntagsBlick» listet die daraus resultierenden Kosten auf, lässt die Gemeindepräsidentin und die Präsidentin der zuständigen Kesb sowie die von der Kesb beauftragte Zürcher Sozialfirma in Bezug auf den von ihr verrechneten Stundensatz zu Wort kommen.

B. Am 2. März 2015 reichte die SolidHelp AG beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel vom 14. September 2014 ein und machte eine Verletzung von Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden «Erklärung») geltend. Sie begründet ihre Beschwerde damit, die Journalistin Deborah Lacourrège habe sich Informationen durch unlautere Methoden beschafft. Die im Artikel erwähnte Mutter der eritreischen Familie sei als Informantin «benutzt» worden, indem die Journalistin vorgegeben habe, ihr zu helfen, ihre Kinder wieder aus dem Heim zurückzubekommen. Als Beleg führt die Beschwerdeführerin drei sms der Journalistin an die Mutter vom September 2014 an, in denen sich Deborah Lacourrège als Journalistin des «SonntagsBlick» zu erkennen gibt und der Frau u.a. mitteilt, sie möchte ihr helfen, ihre Kinder zurückzubekommen, sich bedankt für ein Telefongespräch mit der Mutter mit der Ergänzung, sie denke, sie könne ihr helfen, sie habe auch schon anderen Müttern geholfen, ihre Kinder zurückzubekommen bzw. um ein Treffen in der gleichen Woche bittet, sodass sie noch genügend Zeit hätte, bei Behörden und Gemeinde anzurufen. Der Artikel selbst gehe jedoch in keiner Weise auf das Thema der eventuell ungerechtfertigten Fremdplatzierung der Kinder ein. Durch die Beschreibung der familiären Umstände (zerschlissene Couch, ein Kind tobt durch die Wohnung, die Mutter ist beratungsresistent, Kinder werfen mit Steinen etc.) werde die Familie als unfähig hingestellt und lächerlich gemacht. Die Journalistin habe in Kauf genommen, durch einen reisserischen Artikel die Familie der negativen öffentlichen Meinung preiszugeben und durch ihre unlauteren Methoden der Informationsbeschaffung der Mutter (einer medienunerfahrenen, mit dem hiesigen System schlecht vertrauten, der deutschen Sprache wenig mächtigen Frau) falsche Hoffnungen bezüglich ihrer Kinder zu machen. Seit dem Medienrummel sei das Kindswohl, v.a. das der nicht fremdplatzierten Kinder, nicht mehr geschützt.  

C. Am 4. Mai 2015 nahm Christine Maier, Chefredaktorin des «SonntagsBlick», zusammen mit Stellvertreter Philippe Pfister Stellung zur Beschwerde. Sie führen aus, SolidHelp sei die Firma, welche die Familie, über welche der «SonntagsBlick» berichtet habe, in Hagenbuch ZH betreue. Nach Angaben der Gemeindepräsidentin verrechne SolidHelp pro Stunde 150 Franken, pro Monat entstünden ihrer Aussage nach dadurch Kosten von rund 20’000 Franken. «SonntagsBlick» habe SolidHelp bewusst nicht namentlich genannt, den Verantwortlichen aber die Möglichkeit gegeben, Stellung zu nehmen, welche Solidhelp wahrgenommen habe. In der Beschwerde erwähne SolidHelp die eigene Rolle mit keinem Wort, obwohl sie in einem Betreuungsverhältnis mit der Familie stehe. Diese Intransparenz überrasche sehr.

D. Am 20. Mai 2016 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 10. Juni 2016 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.


II. Erwägung

Ziffer 4 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich bei der Beschaffung von Informationen, Tönen, Bildern und Dokumenten keiner unlauteren Methoden bedienen. Die zugehörige Richtlinie 4.1 präzisiert, dass es unlauter ist, bei der Beschaffung von Informationen und Bildern, die zur Veröffentlichung vorgesehen sind, den Beruf als Journalist zu verschleiern. Aus diesen beiden Bestimmungen leitet sich u.a. ab, dass der Journalist das Ziel einer Recherche – wenn auch nicht deren Details – klar nennen soll. Verpönt sind insbesondere «fishing expeditions», mittels derer unter Vorgabe eines anderen Recherchezwecks versucht wird, an brisante Informationen heranzukommen. Vorliegend hat sich die eine Autorin als Journalistin des «SonntagsBlick» zu erkennen gegeben. In den dem Presserat vorliegenden drei sms macht sie die eritreische Mutter glauben, sie wolle und könne ihr helfen, ihre Kinder zurückzubekommen. Im Artikel selbst geht es nicht um die Heimplatzierung bzw. die Frage, ob die vier Kinder zu Recht in einem Heim untergebracht wurden. «SonntagsBlick» geht in seiner Stellungnahme nicht auf die sms-Kommunikation der Journalistin ein und macht insbesondere auch nicht geltend, es lägen andere sms vor, mittels derer die eritreische Mutter über den Zweck der Recherche der Journalistin informiert worden wäre. Für den Presserat ist es offensichtlich, dass die Autorin via die Frage der Fremdplatzierung von vier Kindern – eine für jede Mutter sensible Frage – an Informationen über die Betreuungsleistungen, die der Familie gewährt wurden, herankommen wollte. Dies wiederspricht eklatant dem berufsethisch gebotenen Fairnessgebot und stellt eine Verletzung des in Ziffer 4 der «Erklärung» statuierten Lauterkeitsgebots der Recherche dar. Dies umso mehr, als es sich bei der Frau um eine Person handelt, welche die Mechanismen der Medien nicht kennt und generell mit dem hiesigen System wenig vertraut ist, ganz abgesehen davon, wie gut ihre Kenntnisse der deutschen Sprache sind.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. «SonntagsBlick» hat mit dem unlauter recherchierten Artikel «Eine Familie, vier Heime, sieben Betreuer = 60’000 Fr! im Monat» vom 14. September 2014 Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Lauterkeit der Recherche) verletzt. Anstatt der besuchten Familie den Zweck der Recherche korrekt zu nennen, täuschte sie diese über deren Ziel.