Nr. 66/2008
Wahrheitssuche / Unterschlagung wichtiger Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Stadt Grenchen c. «Grenchner Tagblatt») Stellungnahme des Presserates vom 23. Oktober 2008

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Mai 2008 veröffentlichte das «Grenchner Tagblatt» drei Artikel zu einem gegen einen Journalisten der eigenen Zeitung geführten Strafprozess. Der Journalist war wegen Veröffentlichung amtlicher Geheimnisse angeklagt und nun vom Amtsgericht Solothurn-Lebern freigesprochen worden.

Der von Urs Mathys verfasste Anriss auf der Frontseite titelte: «‹Geheim› war da gar nichts» und führte weiter aus: «Wer über eine Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung berichtet, macht sich nicht der Veröffentlichung amtlich geheimer Verhandlungen schuldig. Der Gerichtspräsident von Solothurn-Lebern korrigierte gestern einen anderslautenden abstrusen Strafbescheid der Solothurner Staatsanwaltschaft. Diese hatte einen Journalisten dieser Zeitung zu einer Busse von 1000 Franken verknurrt gehabt. Auslöser war ein Bericht über die verbissene Suche des Grenchner Stadtpräsidiums nach einem ‹Leck›. Nach dem Bekanntwerden einer fürstlichen Abgangsregelung mit der früheren Vize-Schuldirektorin hatten die Stadtbehörden Anzeige gegen Unbekannt eingereicht und auch den Redaktor ins Visier genommen.»

Der Hauptartikel auf Seite 12 der gleichen Ausgabe («Pressefreiheit statt Vertuschung») ging näher auf die Vorgeschichte und den Prozess ein. Zur Rolle der Stadt Grenchen führt die Autorin Nicole Wagner aus, die Stadt habe Anzeige gegen Unbekannt wegen Veröffentlichung amtlicher Geheimnisse eingereicht. Dies, nachdem das «Solothurner Tagblatt» aufgrund einer Indiskretion über den Inhalt der Austrittsvereinbarung mit der früheren Vize-Schuldirektorin berichtet hatte. Ein Journalist des «Grenchner Tagblatt» habe von der Anzeige erfahren und seinerseits darüber berichtet. «Mit Folgen: Das Anzeigenspiel begann von Neuem. Die Stadt Grenchen reichte erneut Anzeigen ein, und zwar eine wegen Amtsgeheimnisverletzung gegen Unbekannt (…) und eine zweite Anzeige gegen den GT-Redaktor. Dieselbe Anzeige, die zuvor schon gegen den Kollegen des ‹Solothurner Tagblatt› eingereicht worden sei.» Ganz am Schluss des Artikels ist unter dem Zwischentitel «Stadt Grenchen wiegelt ab» zu lesen: «Grenchen habe in dieser Sache gegen Medienschaffende ‹nie› Strafanzeigen eingereicht, sagten Stadtpräsident und Stadtschreiber gestern in einer Medienmitteilung. Das Verfahren sei durch die Kantonspolizei von Amtes wegen auf diesen Tatbestand ausgedehnt und der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Das ist beschönigend: Die Stadtbehörden verlangten im Verfahren gegen den GT-Redaktor Akteneinsicht und haben gegenüber den Untersuchungsbehörden nie ein Desinteresse am Verfahren bekundet.»

Unter dem Titel «Weiter den Finger drauf» kommentierte schliesslich Chefredaktor Theodor Eckert: «Über die Verletzung von Geheimnissen kann man in guten Treuen geteilter Meinung sein, gerade, wenn höhere Interessen tangiert sind. Wenn jedoch bereits die nackte Meldung über eine Amtsgeheimnisverletzung eine Amtsgeheimnisverletzung darstellen soll, ist das in unseren Breitengraden mindestens so drollig, wie es sich anhört. Weniger lustig ist es, wenn Amtsinhaber fragwürdige Geschäfte und Handlungen an der Öffentlichkeit vorbeischaukeln wollen und in der Folge versuchen, kritische Journalisten einzuschüchtern. Dies ist nicht gelungen.»

B. Am 17. und 23. Juni 2008 beschwerte sich die Stadt Grenchen beim Presserat über die Berichte. Das «Grenchner Tagblatt» habe am 27. Mai 2008 in einem Frontartikel, einem Kommentar sowie einem weiteren Artikel wider besseres Wissen die völlig unbeteiligten Stadtbehörden angegriffen. Dies, obwohl die Stadt in einer Medienmitteilung vom Vortag klargestellt habe, dass sie zwar Anzeige gegen Unbekannt wegen Amtsgeheimnisverletzung, nicht aber gegen Journalisten (wegen Veröffentlichung amtlicher Geheimnisse) eingereicht habe. Zudem habe die Beschwerdeführerin der «Mittelland Zeitung» am 27. Mai 2007 einen Leserbrief zugestellt, in welchem sie die unzutreffenden Passagen richtig gestellt habe. Der Chefredaktor habe sich jedoch geweigert, die Zuschrift zu veröffentli-chen.

Mit der beanstandeten Berichterstattung habe das «Grenchner Tagblatt» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5 (Berichtigung) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

C. Am 28. Juli 2008 wies Chefredaktor Theodor Eckert die Beschwerde der Stadt Grenchen namens der Redaktion des «Grenchner Tagblatt» zurück. Die Stadt habe erst nach dem Freispruch des angeschuldigten Journalisten vom Vorwurf der Veröffentlichung eines amtlichen Geheimnisses schönfärberisch behauptet, sie habe keine Strafanzeige gegen Medienschaffende eingereicht. Wer aber Anzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung einreicht, nehme damit automatisch auch den Journalisten ins Visier, der das Geheimnis publik gemacht hat. Der Formulierung im Kommentar, dass es weniger lustig sei, wenn Amtsinhaber versuchten, kritische Journalisten einzuschüchtern, sei zudem nicht zu entnehmen, dass damit die Stadt Grenchen gemeint sei. Insgesamt enthielten die beanstandeten Berichte nichts, was zu berichtigen gewesen wäre.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu; ihr gehören Edy Salmina als Präsident an sowie Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 23. Oktober 2008 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss konstanter Praxis des Presserates kann aus der «Erklärung» keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden. Medien dürfen auch einseitig berichten und Partei ergreifen (vgl. z.B. die Stellungnahmen 3/2007, 14 und 62/2006). Enthält ein Medienbericht jedoch schwere Vorwürfe gegen einen Dritten, ist dieser gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» dazu anzuhören und ist dessen Stellungnahme angemessen wiederzugeben.

b) Hat das «Grenchner Tagblatt» in den am 27. Mai 2007 veröffentlichten Berichten schwere Vorwürfe gegen Behördenmitglieder der Stadt Grenchen erhoben? Nach Auffassung des Presserates ist dies zu verneinen. Zwar kritisiert das «Tagblatt», Amtsinhaber hätten versucht, kritische Journalisten mit Strafanzeigen einzuschüchtern (Kommentar), die Stadtbehörden hätten Anzeige gegen Unbekannt eingereicht und auch den Redaktor ins Visier genommenen (Frontseite) und die Stadtbehörden hätten ihr Verhalten nachträglich zu beschönigen versucht (Hauptartikel). Damit wird den Grenchner Stadtbehörden weder ein illegales noch sonstwie ein besonders unredliches Verhalten vorgeworfen, welches eine Anhörung in diesem Fall zwingend erscheinen lassen würde. Und immerhin gibt der Hauptartikel die Kernaussage der Medienmitteilung der Stadt Grenchen vom 26. Mai 2007 wieder, sie habe in dieser Sache gegen Medienschaffende nie Strafanzeigen eingereicht.

2. a) Unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») und der Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1) erscheint die Berichterstattung aber trotzdem problematisch. Auch wenn es – wie erwähnt – angeht, das Verhalten von Behörden zu kritisieren, sollten in jedem Fall die Tatsachen stimmen, auf denen diese Kritik beruht. Selbst wenn das «Grenchner Tagblatt» den Positionsbezug der Stadtbehörden am Schluss des Hauptartikels kurz wiedergibt, konnte die Leserschaft trotzdem einen unzutreffenden Eindruck über die von der Stadt Grenchen tatsächlich eingeleiteten strafrechtlichen Schritte gewinnen.

b) Aus den dem Presserat vorliegenden Unterlagen geht hervor, dass die Beschwerdeführerin am 21. November 2006 einmalig eine Strafanzeige wegen Veröffentlichung amtlicher Geheimnisse gegen Unbekannt eingereicht hat. Die gestützt darauf geführten Ermittlungen blieben ergebnislos. Hingegen eröffneten die Strafverfolgungsbehörd
en nicht auf Anzeige hin, sondern von Amtes wegen zwei Strafverfahren gegen Journalisten betreffend Veröffentlichung amtlicher Geheimnisse.

c) Der im Hauptbericht des «Grenchner Tagblatt» vom 27. Mai 2008 enthaltene Satz «Die Stadt Grenchen reichte erneut Anzeigen ein, und zwar eine wegen Amtsgeheimnisverletzung gegen Unbekannt (…) und eine zweite Anzeige gegen den GT-Redaktor» erscheint unter diesen Umständen als unzutreffend. Dem Presserat liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Stadt Grenchen nach dem Zeitungsbericht vom 17. Januar 2007, worin der (später freigesprochene) Redaktor des «Grenchner Tagblatt» über die im November 2006 eingereichte Anzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung berichtete, erneut Strafanzeige gegen Unbekannt sowie ausdrücklich auch gegen den Autor dieses Berichts eingereicht hätte. Insbesondere lässt auch der Umstand, dass die Stadtbehörden im Verfahren gegen Unbekannt wegen Amtsgeheimnisverletzung – und nicht im Verfahren gegen den Journalisten, wie das «Grenchner Tagblatt» schreibt – Akteneinsicht verlangte, keineswegs den Schluss zu, die Strafanzeige der Stadt habe sich unmittelbar gegen Medienschaffende gerichtet.

d) Ebenso wie der Hauptartikel geht auch der Kommentar von der durch die bekannten Fakten nicht gedeckten Annahme aus, die Beschwerdeführerin habe aufgrund des Artikels im «Grenchner Tagblatt» vom 17. Januar 2007, der bloss über die Tatsache berichtete, dass Anzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung eingereicht worden war, erneut Strafanzeige eingereicht. Auf dieser unbelegten Tatsachenbehauptung beruht jedoch ein wesentlicher Teil der Kritik des Kommentators, wenn er sinngemäss ausführt, die strafrechtliche Verfolgung einer Amtsgeheimnisverletzung sei vertretbar, sofern höhere Interessen tangiert sind. Hingegen sei es absurd, bereits die nackte Meldung über eine Amtsgeheimnisverletzung als Amtsgeheimnisverletzung zu qualifizieren. Unter den gegebenen Umständen wäre dieser Vorwurf wenn schon nicht gegen die Beschwerdeführerin, sondern vielmehr gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zu erheben gewesen, die das entsprechende Verfahren von Amtes wegen eröffnet haben.

e) Soweit das «Grenchner Tagblatt» schliesslich auf der Frontseite anführt, die Stadtbehörden hätten «auch den Redaktor ins Visier genommen», könnte man dies auf den ersten Blick als unscharfe Formulierung bewerten. Dass sich die gestützt auf die Veröffentlichung im «Solothurner Tagblatt» eingereichte Anzeige gegen Unbekannt wegen Amtsgeheimnisverletzung auch auf den Autor dieses Berichts auswirken würde, erscheint plausibel. Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedoch die Formulierung «auch den Redaktor ins Visier genommen» als problematisch. Sie legt der Leserschaft etwas Heikles nahe: den (Fehl-)Schluss, die Stadtbehörden hätten die Bestrafung desjenigen Journalisten verlangt, der lediglich über die Tatsache berichtete, dass eine Anzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung eingereicht worden war.

f) Auch wenn die vom «Grenchner Tagblatt» veröffentlichten unzutreffenden Unterstellungen gegenüber der Beschwerdeführerin – wie weiter oben ausgeführt – nicht allzu schwer wiegen, ist bei einer Gesamtbetrachtung der drei beanstandeten Berichte angesichts des allzu ungenauen Umgangs mit den Fakten eine Verletzung der Ziffer 1 (Wahrheit) festzustellen.

3. Ziffer 5 der «Erklärung» verlangt von Medienschaffenden, jede veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Je schwerer ein Fehler wiegt, desto dringender ist die Pflicht zur Berichtigung. Der Presserat hat in seiner jüngeren Praxis wiederholt (vgl. z.B. die Stellungnahmen 10 und 26/2005, 5/2006) darauf hingewiesen, dass aber nicht jede formale oder inhaltliche Ungenauigkeit bereits eine Verletzung dieser berufsethischen Norm begründet. Vielmehr verlangt das Prinzip der Verhältnismässigkeit, dass eine Unkorrektheit, um gerügt zu werden, eine gewisse Relevanz aufweisen muss.

Auch wenn das «Grenchner Tagblatt» die Medienmitteilung der Beschwerdeführerin vom 26. Mai 2007 bereits am Schluss des Hauptartikels vom 27. Mai 2007 kurz wiedergab, wäre angemessen gewesen – obwohl sie dazu berufsethisch nicht verpflichtet war – den der Redaktion noch am Tag der Publikation der beanstandeten Berichte zustellten Leserbrief der Stadt Grenchen zu veröffentlichen. Hingegen wäre es nach Auffassung des Presserates unverhältnismässig, bei diesem nicht allzu schwer wiegenden Fehlers der Redaktion den Abdruck einer Berichtigung in diesem Fall als zwingend zu erklären.

4. Die Beschwerdeführerin rügt am Rande auch noch eine Verletzung der Ziffer 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung». Auf diese Beanstandung ist nicht einzutreten, weil die Stadt Grenchen dazu keinerlei Begründung vorbringt. Wie das «Grenchner Tagblatt» vorbringt, fehlt zudem offensichtlich ein Zusammenhang zwischen dem Beschwerdegegenstand und der Privatsphäre von Exponenten der Grenchner Stadtbehörden.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist.

2. Das «Grenchner Tagblatt» hat mit der Veröffentlichung der Artikel «‹Geheim› war da gar nichts» und «Pressefreiheit statt Vertuschung» sowie dem Kommentar «Weiter den Finger drauf» am 27. Mai 2008 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheit) verletzt. Die Zeitung vermittelte der Leserschaft den durch die Fakten nicht belegten Eindruck, die Stadt Grenchen habe Strafanzeige gegen einen Journalisten eingereicht, der einzig über die Tatsache berichtet hatte, dass eine Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung eingereicht worden war.

3. Darüber hinaus wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Das «Grenchner Tagblatt» hat die Ziffern 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5 (Berichtigung) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung» nicht verletzt.