Nr. 26/2012
Wahrheitssuche / Quellen

(X. S.A. c. «K-Tipp») Stellungnahme des Presserates vom 31. Mai 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 30. November 2011 veröffentlichte die Konsumentenzeitschrift «K-Tipp» einen von Marco Diener und Beatrice Walder gezeichneten Artikel mit dem Titel «Allez, wir brauchen noch Deals!» und dem Untertitel «Callcenter: Ehemalige Mitarbeiter berichten über Missstände»). Der Lead lautet: «Schlechte Behandlung, unrealistische Arbeitsziele und tiefe Löhne: Callcenter sorgen nicht nur bei den telefonisch Belästigten für Ärger. Auch Angestellte haben nichts zu lachen.» Der Bericht stützt sich auf die Aussagen ehemaliger – im Artikel anonymisierter – Angestellter der Firmen X. S.A. und Y. GmbH.

Über die X. S.A. erfährt die Leserschaft, der Tag im Callcenter beginne mit einem «Motivationsmeeting», das nichts anderes als ein «halbstündiger Zusammenschiss» sei. Während der Arbeit schreite die Chefin durchs Büro und schreie: «Allez, allez! Wir brauchen noch Deals. Macht vorwärts.» Wer zu wenig verkaufe, werde zunächst zu einem Einzelgespräch bestellt. Und wer danach die vereinbarten Ziele nicht erreiche, sei rasch weg vom Fenster. «Während der Probezeit beträgt die Kündigungsfrist 24 Stunden. Der Anfangslohn liegt bei 20 Franken pro Stunde.» Theoretisch könne man zwar dank Provisionen wesentlich mehr verdienen, in der Realität sei der zusätzliche Verdienst aber minim. Die X. S.A. arbeite unter anderem für Verlage, Verbände und Versicherungsvermittler. Am Telefon müssten die Angestellten des Callcenters so tun, als wären sie Mitarbeiter der Kunden der X. S.A.

Im letzten Abschnitt des Artikels kommt die X. S.A. wie folgt zu Wort: «Die X. S.A. bestreitet die Aussagen weitgehend. Sie entsprächen nicht den Tatsachen, seien verleumderisch und irreführend. Der Lohn richte sich nach dem Dienstalter des Mitarbeiters sowie der Qualität und Wirtschaftlichkeit seiner Arbeit. Die variable Lohnkomponente entspreche 10 bis 20 Prozent des Grundlohns.»

B. Am 23. Januar 2012 beschwerte sich die anwaltlich vertretene X. S.A. beim Presserat, der «K-Tipp» habe mit der Veröffentlichung des obengenannten Berichts gegen das journalistische Fairnessprinzip verstossen. Obwohl die Beschwerdeführerin den Journalisten Marco Diener im Vorfeld abgemahnt hätte, habe dieser weitere Recherchen zur Überprüfung seiner einzigen Quelle unterlassen. Zudem habe der «K-Tipp» die X. S.A.  durch den Bericht in den Zusammenhang mit einer offensichtlich illegal tätigen Firma gestellt. Mit der Veröffentlichung des beanstandeten Berichts habe der «K-Tipp» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Entstellung von Tatsachen), 4 (Lauterkeit der Recherche), 7 (anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie die zugehörigen Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 3.1 (Quellenüberprüfung) verletzt.

C. Am 2. März 2012 wies die ebenfalls anwaltlich vertretene Redaktion «K-Tipp» die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Rüge der Verletzung der Wahrheitspflicht gehe fehl. Der «K-Tipp» kenne die Wahrheit nicht und stelle die Sachverhaltsschilderung des ehemaligen Mitarbeiters auch nicht als Wahrheit dar. Vielmehr stelle der Bericht dessen Aussagen denjenigen der X. S.A.  entgegen. Bei der Beschaffung der Informationen habe sich die Redaktion keiner unlauterer Methoden bedient. Vielmehr habe sich ein Leser – wie häufig bei Konsumentenzeitschriften – zunächst an die Rechtsberatung gewandt und sich später mit der Veröffentlichung des Sachverhalts einverstanden erklärt. Der «K-Tipp» habe die Tatsachenbehauptungen zudem vor der Veröffentlichung überprüft und somit weder die Pflicht zur Quellenüberprüfung verletzt noch anonyme Informationen veröffentlicht.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Michael Herzka, Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 31. Mai 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Der Presserat ist ebenso wenig wie der «K-Tipp» in der Lage, festzustellen, welche Darstellung des Sachverhalts der Wahrheit entspricht: Diejenige des ehemaligen Mitarbeiters oder die der Beschwerdeführerin. Entsprechend ist aus berufsethischer Optik in erster Linie zu prüfen, ob der «K-Tipp» seiner Verpflichtung zur Wahrheitssuche im Sinne der Richtlinie 1.1 nachgekommen ist und ob er unter dem Gesichtspunkt der Quellenüberprüfung (Ziffer 3 der «Erklärung») verpflichtet gewesen wäre, die von der X. S.A.  bestrittene Darstellung des ehemaligen Mitarbeiters durch eine zweite Quelle abzusichern.

b) Gestützt auf den beanstandeten Artikel und die ihm eingereichten Unterlagen kommt der Presserat zum Schluss, dass sich der «K-Tipp» in angemessener Weise darum bemüht hat, die Vorwürfe des ehemaligen Mitarbeiters zu überprüfen. Marco Diener hat relativ frühzeitig – fast eine Woche vor dem offenbar ursprünglich vorgesehenen Publikationsdatum – mit der X. S.A.  Kontakt aufgenommen und dieser die Aussagen des ehemaligen Mitarbeiters zur Stellungnahme unterbreitet. Weiter hat der «K-Tipp» der «Abmahnung» der X. S.A. und deren Stellungnahme insofern Rechnung getragen, als er lediglich einen Teil der Aussagen des ehemaligen Mitarbeiters veröffentlicht und insbesondere darauf verzichtet hat, die Namen der Firmen zu nennen, für welche die X. S.A.  tätig ist. Gestützt auf die inhaltliche Stellungnahme der Beschwerdeführerin zu den Vorwürfen ihres ehemaligen Angestellten ist aus Sicht eines unbeteiligten Dritten zudem festzustellen, dass die X. S.A. die Kritik zwar pauschal dementiert und einzelne Behauptungen als verleumderisch zurückweist, einen wesentlichen Teil der der Kritik zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen bei näherer Betrachtung aber nicht gänzlich bestreitet, sondern aus dem Blickwinkel des Unternehmens lediglich mit anderen Worten umschreibt und positiv umdeutet.

c) Der Presserat hält in der Stellungnahme 24/2012 fest, dass die Zwei-Quellen-Regel – wonach unbestätigte Informationen mindestens durch zwei Quellen abzusichern sind – als solche zwar nicht in der «Erklärung» verankert ist, aber trotzdem zu den anerkannten Grundlagen des journalistischen Handwerks gehört. «Wie jede Faustregel kann sie aber nicht schematisch auf jeden Einzelfall übertragen werden.»

Vorliegend wäre es nach Auffassung des Presserates zwar wünschbar, dass sich der «K-Tipp» stärker auf Fakten und Dokumente anstatt auf subjektive Beschreibungen abstützen könnte und dass der Artikel die Quelle – unter Wahrung ihrer Anonymität – noch etwas genauer umschreiben würde, damit die Leserschaft ihre Aussagen besser einordnen kann. Nachdem sich die Redaktion aber wie dargelegt in angemessener Weise um die Wahrheitssuche bemüht und gemäss ihrer Darstellung zudem auch die Glaubwürdigkeit der Aussagen ihrer einzigen Quelle mittels Befragung von sachverhaltskundigen Drittpersonen überprüft hat, wäre es unverhältnismässig, aus dem Fehlen einer zweiten Quelle eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» abzuleiten. Zumal ungeachtet der Abmahnung der Beschwerdeführerin unbestreitbar ein öffentliches Interesse daran besteht, dass die Medien die Arbeitsbedingungen in Callcentern thematisieren, deren unerwünschte Anrufe nach Auffassung vieler Konsumentinnen und Konsumenten – wie dies der «K-Tipp» in seiner Stellungnahme an den Presserat schreibt – zu einer «Landplage» geworden sind.

2. Als offensichtlich unbegründet erscheinen zudem die weiteren Rügen der X. S.A. , wonach sich der «K-Tipp» bei der Bescha
ffung der Informationen unlauterer Methoden bedient und dass er anonyme und sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen veröffentlicht habe. Gestützt auf die eingereichten Unterlagen weisen für den Presserat keinerlei Anhaltspunkte darauf hin, dass sich der «K-Tipp» die Aussagen des ehemaligen Mitarbeiters der X. S.A.  in unlauterer Weise beschafft hätte oder dass Marco Diener die Quelle seiner Information nicht bekannt gewesen wäre. Und soweit die Beschwerdeführerin die Veröffentlichung sachlich ungerechtfertigter Anschuldigungen beanstandet, kommt dieser Rüge neben der geltend gemachten Verletzung der Wahrheitspflicht respektive der Pflicht zur Wahrheitssuche keine eigenständige Bedeutung zu.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «K-Tipp» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Allez, wir brauchen noch Deals!» in der Ausgabe vom 30. November 2011 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Entstellung von Tatsachen, Quellen), 4 (Lauterkeit der Recherche) und 7 (anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.