Nr. 44/2023
Wahrheit / Anhören bei schweren Vorwürfen / Trennen von Fakten und Kommentar

(Initiativkomitee «Jederzeit Strom für alle» c. «Tages-Anzeiger»)

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I. Sachverhalt

A. Am 15. Februar 2023 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» auf der Front einen Artikelanriss mit dem Titel «AKW-Freunde kaufen Unterschriften im grossen Stil» und auf Seite 3 einen Artikel mit dem Titel «Der grosse Unterschriftenkauf», beide gezeichnet von Thomas Knellwolf und Markus Häfliger. Die Artikel handeln von einer E-Mail-Panne, durch welche eine Rechnung der Firma Incop an die «Stiftung für sichere Stromversorgung» (SSS) öffentlich wurde. Incop sei Marktführerin im professionellen Sammeln von Unterschriften. Die Stiftung SSS sammle Unterschriften für die Initiative «Blackout stoppen», welche die Stromversorgung über neue Atomkraftwerke sichern wolle. Die Rechnung laute auf 75 390 Franken für 10 000 Unterschriften. Im Artikel kommt Vanessa Meury, Vertreterin des Initiativkomitees, Präsidentin der Jungen SVP Solothurn und Präsidentin des Energie-Clubs Schweiz, zu Wort. Letzterer sei der offizielle Träger der Initiative und habe ungefähr 450 Mitglieder, darunter einen der reichsten Schweizer, Daniel S. Aegerter, der im Artikel ebenfalls zu Wort kommt. Aegerter sei Gründer von mindestens zwei atomfreundlichen Stiftungen unter dem Dach und der Zürcher Adresse der Stiftung «Fondation des Fondateurs». An dieser Adresse sei auch die SSS domiziliert. Wer die StifterInnen der SSS sind, sei unbekannt. Bekannt sei nur, dass Vanessa Meury im Stiftungsrat sei und Daniel Aegerter die Stiftung privat unterstütze, ohne selbst Mitglied zu sein. Laut Meury sei die Stiftung gegründet worden, um steuerliche Abzüge bei der Unterstützung des Energie-Clubs vornehmen zu können. Als Unterstiftung der «Fondation des Fondateurs» werde die Steuerbefreiung nicht durch die kantonale Steuerverwaltung, sondern durch die Dachstiftung selber überprüft, schreiben die Autoren. Die Steuerbefreiung führe wiederum dazu, dass eine Rechnung für die Unterschriftensammlung abzugsfähig sei. Kommerzielles Unterschriftensammeln für Volksinitiativen sei nicht unüblich, allerdings sei der hohe Preis, und der frühe Zeitpunkt des Kaufs bezogen auf die Sammelfrist bemerkenswert. Normalerweise würden professionelle SammlerInnen erst eingesetzt, wenn es knapp werde. Vanessa Meury bestätigt die Zusammenarbeit mit Incop und hält sie für unproblematisch. In einem Zusatztext bezieht der Geschäftsführer der Incop Stellung und sagt, der Betrag von 75 000 Franken sei nicht korrekt, es handle sich bei den geleakten Mails um die Verunglimpfung durch einen Konkurrenten.

B. Am 28. März 2023 reichte das Initiativkomitee «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)», vertreten durch Vanessa Meury und Mirko Gentina, beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die beiden Artikel im «Tages-Anzeiger» ein. Die InitiantInnen machen einen Verstoss gegen Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») sowie der zugehörigen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) geltend. Der Vorwurf, das Initiativkomitee habe Unterschriften gekauft, entspreche nicht der Wahrheit. Das professionelle Sammeln von Unterschriften sei rechtlich völlig unproblematisch. Der Titel auf der Frontseite («AKW-Freunde kaufen Unterschriften im grossen Stil») und mehrere Stellen im Text (darunter die Aussagen politischer Gegner), in welchen auf den Zusammenhang zwischen Unterschriften und Finanzen hingewiesen werde, liessen den Eindruck entstehen, es handle sich um ein rechtswidriges, antidemokratisches Verhalten. Die Beschwerdeführenden monieren zudem die Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» beziehungsweise von Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen): Betroffene seien bei schweren Vorwürfen anzuhören und deren Stellungnahme fair wiederzugeben. Im ersten Artikel auf der Frontseite werde eine abgegebene Stellungnahme von Vanessa Meury nicht wiedergegeben. Der Bericht verletze auch Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) der «Erklärung». Da Titel sowie Lead der beiden Texte nicht der Wahrheit entsprächen, handle es sich offenbar um Meinungsäusserungen der Autoren. Für die Leserschaft sei dies aber nicht ersichtlich. Diese Vermischung von Fakten und Kommentar sei unzulässig.

C. Am 11. Juli 2023 nahm die Rechtskonsulentin der TX Group im Namen der «Tages-Anzeiger»-Redaktion zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung. Es entstehe bei den LeserInnen keineswegs der Eindruck eines rechtlich unzulässigen Vorgehens, das werde auch nicht geschrieben. Der Artikel gebe vielmehr einen Überblick über Initiative und Sammelmethode und lasse die InitiantInnen ausführlich zu Wort kommen. Dass auch deren politische Gegner zu Wort kämen, sei in der Berichterstattung über politische Initiativen normal und diene der demokratischen Meinungsbildung. Dabei die Sammelpraxis zu thematisieren, sei ebenfalls alles andere als unüblich, wie die Artikel in der Beilage zeigten. Eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» bzw. von Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) sei nicht gegeben. Selbst mit der Zuspitzung im Titel bleibe klar, dass es um kommerzielle Sammelorganisationen gehe und nicht um Bestechung. Der Begriff «Unterschriftenkauf» sei in den Schweizer Medien geläufig und häufig benutzt. Dass den Stiftungen Intransparenz vorgeworfen werde, sei auf Fakten gestützt: Es gibt keine Webseite und auf Anfrage weder eine Bekanntgabe der StifterInnen noch der Stiftungsratsmitglieder oder der Finanzen.

Die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sei auch nicht verletzt: Die InitiantInnen kämen im Fronttext ebenfalls zu Wort, Vanessa Meurys Aussage werde dem Komitee zugeordnet. Im Text auf Seite 3 kämen sowohl Vanessa Meury als auch Daniel Aegerter sehr ausführlich zu Wort. Zudem: Der Vorwurf eines undemokratischen oder illegalen Handelns werde den Initiantinnen nicht gemacht. Auch Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) sieht die Redaktion nicht verletzt: Die beiden Autoren würden keine energiepolitischen Themen kommentieren. Es handle sich in Titel und Lead um einen Leseanreiz mittels zulässiger Verkürzung, aus welchem die Brisanz und Umstrittenheit des Themas hervorgehen soll.

D. Am 8. August 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin. Susan Boos, Präsidentin, trat von sich aus in den Ausstand.

E.
Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 22. Dezember 2023 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verpflichtet JournalistInnen, sich an die Wahrheit zu halten. Richtlinie 1.1 präzisiert, dass die Wahrheitssuche den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit darstellt. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus. Gemäss den Beschwerdeführenden wurden diese Pflichten durch die Aussage, das Initiativkomitee habe Unterschriften gekauft, verletzt. Für den Presserat ist diese Aussage nicht mit einem Vorwurf der Bestechung von BürgerInnen gleichzusetzen. Die Autoren behaupten in den beiden Artikeln nicht, dieses Vorgehen sei illegal – weder explizit noch implizit. Zwar handelt es sich genau genommen nicht um einen Kauf, sondern um ein Bezahlen der SammlerInnen. Im übertragenen Sinn kann das Wort «kaufen» jedoch durchaus verwendet werden und ist nicht zu beanstanden. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist der Vorwurf der fehlenden Transparenz. Selbst auf Nachfrage des «Tages-Anzeiger» gibt das Komitee keine Auskunft darüber, wer neben Vanessa Meury im Stiftungsrat vertreten ist. Ziffer 1 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) sind somit nicht verletzt.

2. Gemäss Ziffer 3 der «Erklärung» dürfen keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen werden. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) präzisiert dies als Pflicht, die Beteiligten bei schweren Vorwürfen anzuhören. Dieser Pflicht sind die Autoren des Beitrags nachgekommen, die InitiantInnen kommen in beiden Artikeln zu Wort: auf der Frontseite mit einer Aussage zum konkreten Vorwurf des Stimmenkaufs, im Text auf Seite 3 äusserst ausführlich zur Zusammenarbeit mit der professionellen Sammelorganisation, zu den Mitgliedern im Initiativkomitee, zur Finanzierung und zu Struktur und Hintergrund der Stiftung. Ziffer 3 der «Erklärung» und Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sind nicht verletzt.

3.
Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) verlangt, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann. Die Beschwerdeführenden sind der Ansicht, es handle sich bei der Bezeichnung des Vorgehens der InitiantInnen als «Kauf» um einen Kommentar, weil diese Bezeichnung nicht der Wahrheit entspreche und es sich darum um eine Meinungsäusserung handle. Wie oben dargelegt ist die Wahrheitspflicht mit der Bezeichnung dieses Vorgehens als «Kauf» nicht verletzt worden. Es handelt sich bei den monierten Aussagen in Titel und Lead der beiden Artikel um faktengestützte Aussagen und nicht um die Meinung der Autoren. Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung» ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2.
Der «Tages-Anzeiger» hat mit den Beiträgen «AKW-Freunde kaufen Unterschriften im grossen Stil» und «Der grosse Unterschriftenkauf» vom 15. Februar 2023 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.