Nr. 43/2011
Wahrheitssuche / Entstellung von Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Gruppe Augenauf c. «Weltwoche»)

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Sturmabteilung von links» veröffentlichte die «Weltwoche» in der Ausgabe 48/2010 vom 2. Dezember 2010 einen Artikel von Andreas Kunz über Ausschreitungen in mehreren Städten, die sich nach dem Ja zur Ausschaffungsinitiative ereigneten. «Bevor die Abstimmung vorbei war, überfielen die Linksextremen in Allschwil BL ein Stimmlokal und klauten eine Urne. In Schlieren ZH legten sie eine Brandbombe vor die Stadtverwaltung. Und in Winterthur verklebten sie zahlreiche Schlösser der Abstimmungslokale. Zu schweren Ausschreitungen kam es dann am Sonntagabend: In Bern griffen die Gewalttäter das Hotel ‹Bristol› an, in dem sich die SVP versammelt hatte. Sie zertrümmerten die Eingangstüre, zerstörten Scheiben und Rollläden und warfen Farbbeutel an die Wände.» In Zürich hätten Extremisten während der «Krawallnacht» einen Gesamtschaden von über 200’000 Franken verursacht. Gemäss Zeugen hätten in der Zürcher Innenstadt «lebensbedrohliche Zustände» geherrscht.

Derweilen feierten sich die Demonstranten im Internet als «gewalttätige Revolutionäre». Deren harter Kern sei in Vereinen wie dem Revolutionären Aufbau Zürich oder der Menschenrechtsorganisation Augenauf organisiert. «Dazu kommen Hunderte Sympathisanten, zusammengesetzt aus Studenten, Weltverbesserern, Jungsozialisten und Häuserbesetzern. Unter den Pseudonymen ihrer marxistischen und leninistischen Helden publizieren sie im Internet seitenlange, teils reichlich konfuse Pamphlete über ‹Entwaffnung der Revolution – Gewaltlosigkeit und ihre Folgen› (…) Der Tenor ist meist derselbe: Die ‹faschistische Gesellschaft› könne nur durch ‹gewaltsame revolutionäre Mittel› in eine ‹bessere soziale Ordnung› umgewandelt werden.»

B. In der «Weltwoche» Nr. 4/2011 vom 27. Januar 2011 berichtete Andreas Kunz erneut über das Thema (Titel: «Von aufreizender Passivität»). Anlass des Artikels war ein gewalttätiger Angriff auf SVP-Nationalrat Hans Fehr am Rande der Albisgüetli-Tagung 2011 der SVP. Kunz kritisiert in seinem Text die beschönigende Haltung anderer Medien und die Passivität der Behörden. Das Phänomen Linksextremismus habe im Schatten der öffentlichen Empörung über vereinzelte Neonazis seit Jahren zugenommen und den Rechtsextremismus punkto Gewalt längst überholt. «Gemäss dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) kam es 2009 zu 220 ‹linksextrem motivierten Ereignissen›, wovon 127 ‹gewalttätige Ereignisse gegen Objekte und Personen› waren (die Daten von 2010 liegen noch nicht vor). Zum Vegleich: Im gleichen Jahr kam es zu 85 ‹rechtsextrem motivierten Ereignissen›, wovon 32 als ‹gewalttätig› eingestuft wurden. Entgegen der medialen Wahrnehmung sind die Gewalttaten von Linksextremen in der Schweiz vielmehr häufiger als die von Rechtsextremen.»

Für den NDB bleibe das Gewaltpotential der linken Szena «unverändert hoch». «Die Szene umfasst laut NDB rund 2000 Personen, von denen 1000 als ‹gewalttätig› eingestuft werden. Die Mitglieder sind selbsternannte Anarchisten, Jungsozialisten, arbeitslose Kleinkriminelle oder wohlstandsverwahrloste Studenten von der Zürcher Goldküste. (…) Der harte Kern ist in Vereinen wie dem Revolutionären Aufbau Zürich oder der ‹Menschenrechtsorganisation› Augenauf organisiert.»

C. Am 15. Februar 2011 gelangten die Gruppe Augenauf Zürich, der Menschenrechtsverein Augenauf Bern sowie Augenauf Basel (nachfolgend: Augenauf) gemeinsam mit einer Beschwerde gegen die «Weltwoche» an den Presserat. Die beiden Berichte von Andreas Kunz verletzten die Ziffern 1 (Wahrheitssuche) und 3 (Entstellung von Informationen, respektive Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

Der Vorwurf, Augenauf gehöre zum harten Kern von Personen, die mit Gewalt auf ein demokratisches Abstimmungsresultat reagierten, wiege schwer. Eine Anhörung von Augenauf vor der Publikation wäre deshalb unabdingbar gewesen. Zudem werde im zweiten Artikel nicht klar, ob es sich beim Vorwurf, Mitglieder von Augenauf bildeten zusammen mit dem Revolutionären Aufbau Zürich den harten Kern der gewalttätigen linksextremen Demonstranten, um eine Schlussfolgerung des Journalisten oder um eine Einschätzung des NDB handle. Kein aktives oder ehemaliges Mitglied von Augenauf sei je wegen irgendwelchen strafbaren Handlungen verurteilt worden. Und ebeno wenig sei ein aktives Mitglied nach den von Kunz beschriebenen Ausschreitungen nach der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative und dem Angriff auf SVP-Nationalrat Fehr verhaftet worden. Der Autor habe sich offensichtlich weder die Mühe gemacht, die Website www.augenauf.ch noch Swissdox (448 Presseberichte in den letzten 20 Jahren) als Quelle zu konsultieren.

D. Am 13. März 2011 nahm der Autor des beanstandeten Medienberichts, Andreas Kunz, Stellung zur Beschwerde. Für seine Artikel über den Linksradikalismus und die verschiedenen Anschläge von entsprechenden Gruppierungen habe er aufwändig recherchiert. Bei vielen Ereignissen sei er selber vor Ort gewesen, habe mit Polizisten und Demonstranten gesprochen sowie anderen der Szene nahestenden Personen. Mehrere Quellen – darunter auch ein Mitglied von Augenauf – hätten ihm bestätigt, dass Augenauf neben dem Revolutionären Aufbau Zürich die einzige Organisation sei, welche regelmässig Mitglieder an diesen Demonstrationen habe und intern – wenigstens informell – auch dazu aufrufe. Gestützt auf diese Informationen habe er die Gruppe Augenauf zu Recht als «harten Kern» der linksextremen Szene bezeichnet und weise deshalb den Vorwurf zurück, die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» (Wahrheitssuche) verletzt zu haben.

Im zweiten Bericht folgten auf die Aussagen des NDB direkt die Erkenntnisse seiner persönlichen Recherchen. Die Aussagen des NDB seien in indirekter Rede wiedergegeben, seine eigenen Aussagen in direkter Rede. Insofern seien sie unterscheidbar. Tatsächlich könnte aber bei der Leserschaft der Eindruck entstehen, dass sämtliche Aussagen vom NDB stammten. «Dies war nicht beabsichtigt, sondern entstand durch eine kurzfristig notwendig gewordene Kürzung des Textes kurz vor Redaktionsschluss durch die Produktion.» Wenn in der Endfassung des Textes ein falscher Eindruck entstehen konnte, bedaure er das und entschuldige sich bei der Gruppe Augenauf für dieses produktionstechnische Versehen.

In Bezug auf die Anhörungspflicht macht Kunz geltend, in der Vergangenheit bereits mehrmals erfolglos versucht zu haben, mit dem Revolutionären Aufbau Zürich Kontakt aufzunehmen. Er sei deshalb davon ausgegangen, dass sich auch bei der Gruppe Augenauf niemand zuständig fühlen werde. Er räumt aber ein, dass dies falsch war und er die Beschwerdeführer vor der Veröffentlichung zwingend hätte kontaktieren und sie mit den schweren Vorwürfen hätte konfrontieren müssen.

E. Am 15. März 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. September 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Der gegenüber der Gruppe Augenauf in den beiden Berichten vom 2. Dezember 2010 und 27. Januar 2011 erhobene Vorwurf, sie bilde zusammen mit dem Revolutionären Aufbau Zürich den «harten Kern» von gewalttätigen Linksextremen, die auf eine demokratisches Abstimmungsresultat mit Gewalt gegen Sachen und Personen reagieren, wiegt schwer. Wie auch der Autor der beanstandeten Berichte einräumt, wäre deshalb eine Anhörung der Gruppe vor der Publikation unabdingbar gewesen.

2. Ist der Vorwurf zudem überhaupt wahr? Der Presserat kann dies gestützt auf die ihm von den Parteien eingereichten Unterlagen nicht beurteilen. Die «Weltwoche» stützt ihren Vorwurf auf allgemein umschriebene Quellen (Polizisten, Demonstranten, Szenekenner sowie ein Mitglied von Augenauf). Die Beschwerdeführerin verweist zum Beweis des Gegenteils auf ihre Website sowie auf die Medienberichterstattung der letzten 20 Jahre über die Gruppe Augenauf. Tatsächlich legt ein grober Blick auf letztere den Schluss nahe, dass die Gruppe zwar bei verschiedensten Gelegenheiten vehement gegen die Art und Weise der Behandlung von Ausschaffungshäftlingen, Asylbewerbern, Demonstrant/innen usw. protestiert hat, ihr dabei aber soweit ersichtlich keine Anwendung von Gewalt unterstellt wird. Doch ist damit die Sachverhaltsdarstellung der «Weltwoche» vollständig widerlegt? Der Presserat kann mit seinem beschränktem Wissen trotzdem nicht prinzipiell ausschliessen, dass sich unter den gewaltbereiten Linksaktivisten auch solche befinden, die der Gruppe Augenauf zuzurechnen sind. Weil damit letztlich Aussage gegen Aussage steht, ist eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» nicht erstellt. Da der Vorwurf, falls er überhaupt zutrifft, auf relativ unsicheren Quellen beruht, wäre es aber umso wichtiger gewesen, die Beschwerdeführerin vor der Publikation zu kontaktieren und sie dazu anzuhören. Mithin hat die «Weltwoche» die Anhörungspflicht (Ziffer 3 der «Erklärung») verletzt.

3. Erhält die Leserschaft im Bericht vom 27. Januar 2011 («Von aufreizender Passivität») zudem den unzutreffenden Eindruck, die Einschätzung des Autors, die Gruppe Augenauf bilde zusammen mit dem Revolutionären Aufbau Zürich den harten Kern der gewaltbereiten linken Demonstranten, sei dem Bundesnachrichtendienst zuzuordnen?

Gerade aufgrund der von Andreas Kunz bedauerten redaktionellen Kürzung ist nicht gänzlich auszuschliessen, dass einzelne Leserinnen und Leser diesen Schluss ziehen. Für den Presserat liegt es aber trotz der Kürzung allerdings näher, dass die Leserschaft die umstrittene Einschätzung dem Autor zuordnet. Denn im Gegensatz zu den vorhergehenden und nachfolgenden Ausführungen über Einschätzungen des NDB fehlen in der umstrittenen Passage durch Anführungszeichen gekennzeichnete Zitate. Die Interpretation der Einschätzung als solche des Autors passt zudem auch zum Gesamttenor des Berichts, wonach Behörden und Politik die «roten Verbrecher» verharmlosten. Auch wenn deshalb im Ergebnis eine Verletzung von Ziffer 3 in diesem Punkt knapp zu verneinen ist, wäre es aber besser gewesen, wenn die «Weltwoche» die Ausführungen über Erkenntnisse des NDB deutlicher von den eigenen Einschätzungen des Autors getrennt hätte.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die «Weltwoche» hat mit der Veröffentlichung der Berichte «Sturmabteilung von links» vom 2. Dezember 2010 und «Von aufreizender Passivität» vom 27. Januar 2011 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Die «Weltwoche» hat die Ziffern 1 (Wahrheitssuche) und 3 (in Bezug auf die Entstellung von Informationen) nicht verletzt.