Nr. 24/2011
Wahrheitssuche / Berichtigungspflicht

(Freidenker-Vereinigung der Schweiz / FreidenkerInnen Wallis c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 6. Mai 20

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I. Sachverhalt

A. Am 4. November 2010 kündigt der «Tages-Anzeiger» in einem Zweispalter auf Seite 8 (Titel: «Eine andere Aktion vor dem Bundeshaus») ein Happening in Bern an, genauer: eine «Bibel- und Koran-Verbrennung». Als Urheber bezeichnet die Autorin Simone Rau im Lead eine «Freidenker-Gruppe». Im ersten Absatz des Lauftexts präzisiert sie: «Eine Gruppe von Privatpersonen, unter ihnen der umstrittene Walliser Lehrer und Präsident der Walliser Sektion der Freidenker-Bewegung Valentin Abgottspon» habe vor kurzem mit dem Hinweis auf gewalttätige und pornografische Inhalte der Heiligen Schrift eine «Bibelzensur für Kinder und Jugendliche» gefordert. Die Aktion vor dem Bundeshaus folge diesem Argument, nur gehe die zwölfköpfige Gruppe «einen Schritt weiter. Morgen Freitag um 17.30 Uhr will sie auf dem Bundesplatz eine Handvoll Bibeln und Korane in Flammen setzen».

Ein gleichlautender Bericht erscheint am gleichen Tag auch im «Bund».

B. In der Printausgabe des «Tages-Anzeiger» vom 5. November 2010 korrigieren Reto Wissmann und Simone Rau die Darstellung vom Vortag und schreiben unter dem Titel «Freidenker verurteilen Bibel- und Koran-Verbrennung scharf»:

«Grosse Empörung hat die Ankündigung beim Lehrer und Präsidenten der Walliser Freidenker-Sektion, Valentin Abgottspon, ausgelöst». Zwei der drei Urheber hätten bis vor kurzem seiner Sektion angehört. Als Abgottspon von den Plänen erfuhr, habe er alles versucht, sie von der Aktion abzubringen. Weil sie aber daran festhalten wollten, habe der Vorstand die Männer per sofort ausgeschlossen. «Abgottspon distanziert sich in aller Form von der Bücherverbrennung. ‹Diese Aktion macht alles kaputt, was wir Freidenker bis jetzt erreicht haben. Und vor allem: Bei einer solchen Bücherverbrennung geht es um Menschenleben. Stellen Sie sich vor, wenn plötzlich im Ausland eine Schweizer Botschaft in Flammen steht.› Nie käme er auf die Idee, bei einer Verbrennung mitzumachen, sagt Abgottspon.» Genau dies aber habe einer der Informanten des «Tages-Anzeiger» mit Verweis auf eine Liste mit zwölf Unterschriften – unter ihnen die von Abgottspon – fälschlicherweise behauptet.

Dem Bericht ist weiter zu entnehmen, dass die Polizei im Zusammenhang mit der geplanten Aktion drei Personen angehalten und zur Kontrolle auf den Polizeiposten gebracht habe. Laut einem Sprecher werde die Polizei die Aktion keinesfalls tolerieren.

C. Gleichentags präzisiert Reto Wissmann auch im «Bund» (Titel: «Kantonspolizei verhindert Bibelverbrennung»): «Freidenker distanzieren sich», fügt dann aber ausdrücklich hinzu: «Anders als der ‹Bund› gestern meldete», gehörten «die Freidenker nicht zu den Initianten der nun verhinderten Bibel- und Koran-Verbrennung.»

D. Am 11. November 2010 beschwerten sich die durch die Geschäftsstellenleiterin Reta Caspar vertretene Freidenkervereinigung der Schweiz (FVS) sowie Valentin Abgottspon im Namen der Walliser Sektion des FVS («FreidenkerInnen Wallis») über die beiden Berichte des «Tages-Anzeiger» und beantragten die Ahndung einer «fahrlässigen Falschinformation» sowie einer «Verweigerung der korrekten Berichtigung».

Bei minimaler Recherche wäre die korrekte Information verfügbar gewesen. Sowohl Valentin Abgottspon als auch die Geschäftsstelle der FVS seien am 3. November 2010 rund um die Uhr erreichbar gewesen. Zudem habe die Zeitung die von ihr veröffentlichte Falschmeldung nicht selber berichtigt, sondern bloss die Distanzierung der FreidenkerInnen Wallis von der umstrittenen Aktion wiedergegeben.

E. In ihrer Beschwerdeantwort vom 4. Januar 2011 räumt die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeiger» ein, dass «eine Passage des Artikels vom 4. November 2010 (…) inhaltlich falsch» ist. Die Autorin bedaure diesen Fehler und habe sich bei Herrn Abgottspon auch persönlich dafür entschuldigt. Da die Redaktion die Falschmeldung zudem berichtigt habe, sei gestützt auf Art. 10 Abs. 1 des Geschäfts-reglements des Presserats auf die Beschwerde nicht einzutreten. Abgottspon habe zudem im Mailverkehr mit Simone Rau ausdrücklich erklärt, die Angelegenheit sei mit der Richtigstellung für ihn erledigt. Dem «Tages-Anzeiger» sei es deshalb «schleierhaft», weshalb sich Abgottspon nun noch an den Presserat wende.

Falls der Presserat dennoch auf die Beschwerde eintreten sollte, sei diese abzuweisen. Die gegenüber Herrn Abgottspon erhobenen Vorwürfe seien im Sinne der Richtlinie 3.8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) keineswegs schwer, weshalb eine Anhörung nicht zwingend gewesen sei. Der «Tages-Anzeiger» habe die unwahren Aspekte des Artikels vom Vortag berichtigt. Abgottspon habe seinen Standpunkt klarmachen können und der «Tages-Anzeiger» auf die Irreführung durch die in der Zwischenzeit aus der Freidenker-Sektion Wallis ausgeschlossenen Initianten der Bibel- und Koran-Verbrennung hingewiesen.

F. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde am 11. Januar 2011 der 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 5. Mai 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 10 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn sich die betroffene Redaktion bei einer Angelegenheit von geringer Relevanz bereits öffentlich entschuldigt und/oder Korrekturmassnahmen ergriffen hat.

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der gegenüber Valentin Abgottspon erhobene Vorwurf, eine öffentliche Bibel- und Koran-Verbrennung mitgeplant zu haben, wiegt schwer. Zudem hat sich Simone Rau zwar bei Abgottspon persönlich, nicht aber öffentlich für den Fehler entschuldigt. Und im Gegensatz zum Sachverhalt, der in Stellungnahme 51/2009 zu beurteilen war, ist im aktuellen Fall zwischen den Parteien strittig, ob der «Tages-Anzeiger» verpflichtet gewesen wäre, Abgottspon bereits vor der Veröffentlichung des ersten Berichts zu kontaktieren und ob die Zeitung – wie dies der «Bund» getan hat – die Korrektur für die Leserschaft als solche hätte erkennbar machen müssen. Aus diesen Gründen tritt der Presserat auf die Beschwerde ein.

2. Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitspflicht) und die zugehörige Richtlinie 1.1 stellen die Wahrheitssuche an den Ausgangspunkt der Recherche. «Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus.»

Für den Presserat ist angesichts der Schwere des Vorwurfs unter dem Gesichtspunkt der Wahrheitssuche unverständlich, weshalb sich die Autorin vor der Veröffentlichung des Berichts vom 4. November 2010 allein auf die Behauptungen ihrer Informanten verliess, wonach Abgottspon die Aktion auf dem Bundesplatz mittrage. Zumal diverse Online-Medien bereits am Vortag (so die «Aargauer Zeitung» am 3. November 2010, um 11.24 Uhr) gemeldet hatten, die Walliser Freidenker distanzierten sich von der geplanten «Bibel- und Koran-Verbrennung».

3. a) Gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, jede von ihnen veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Laut der zugehörigen Richtlinie 5.1 sollten die Medienschaffenden die Berichtigungspflicht von sich aus wahrnehmen. Die Berichtigungspflicht erstreckt sich auf sämtliche relevanten Fakten eines Artikels. Die einer Falschinformation folgende Berichtigung muss das Publikum zumindest in die Lage versetzen, den Sachverhalt nun korrekt zu würdigen (Stellungnahme 8/2005).

b) Zwar hat sich der «Tages-Anzeiger» aktiv um die Korrektur der Falschmeldung bemüht. Die Autorin des beanstandeten Berichts hat sich zudem bei Valentin Abgottspon für den Fehler entschuldigt. Ebenso wurde das Publikum durch den Folgebericht vom 5. November 2010 darüber informiert, dass die Walliser Sektion der Freidenker nicht hinter der verhinderten Bibel- und Koran-Verbrennung stehe, sondern dass sich Präsident Abgottspon von der Aktion distanziert und dass die Walliser FreidenkerInnen zwei der drei Urheber ausgeschlossen haben. Insoweit ist die Leserschaft nun korrekt über den Sachverhalt orientiert.

c) Wäre der «Tages-Anzeiger» darüber hinaus verpflichtet gewesen, seine Leserschaft deutlich darauf hinzuweisen, dass er mit dem Bericht vom 6. November 2010 die Falschmeldung vom Vortag korrigiert hat? Richtlinie 3.1 zu Ziffer 3 des deutschen Pressekodexes schreibt bei einer Richtigstellung vor: «Für den Leser muss erkennbar sein, dass die vorangegangene Meldung ganz oder zum Teil unrichtig war. Deshalb nimmt eine Richtigstellung bei der Wiedergabe des korrekten Sachverhalts auf die vorangegangene Falschmeldung Bezug.»

Demgegenüber verlangt der Schweizer Presserat bei Berichtigungen bisher keine bestimmte Form (Stellungnahme 50/2008). Journalistinnen und Journalisten sollten jedoch mit Reaktionen auf eigene Medienberichte – selbst wenn diese die Redaktion scharf kritisieren -möglichst grosszügig umgehen und auch offensiv zu Fehlern stehen (Stellungnahme 11/1999). In diesem Sinne wäre es dem «Tages-Anzeiger» gut angestanden – beispielweise mit einer ähnlichen Formulierung, wie sie «Der Bund» verwendet hat – die Korrektur gegenüber den Leserinnen und Lesern transparent zu machen.

Nach kontroverser Diskussion hat es die 1. Kammer hingegen abgelehnt, dies zwingend zu fordern. Der Presserat überlässt es damit weiterhin dem Ermessen der Redaktionen, wie sie die Berichtigungspflicht im Einzelfall konkret umsetzen. Dies auch aus der Überlegung, dass ein Nachzieher je nach Platzierung und Aufmachung eine grössere Wirkung erzielt als eine kurze formale Berichtigung. Entscheidend ist weiterhin, dass das Publikum in die Lage versetzt wird, den Sachverhalt korrekt zu würdigen. Deshalb weist der Presserat die Beschwerde in diesem Punkt ab.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Eine andere Aktion vor dem Bundeshaus» am 4. November 2010 die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheitssuche) verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Veröffentlichung des Folgeberichts («Freidenker verurteilen Bibel- und Koran-Verbrennung scharf») am 5. November 2010 die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung) nicht verletzt.