Nr. 28/2016
Wahrheitspflicht / Unterschlagen wichtiger Informationen / Berichtigung / Menschenwürde

(Scientology c. «Blick») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 23. September 2016

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I. Sachverhalt

A. «Blick» veröffentlichte am 15. April 2015 auf der Frontseite folgende Schlagzeile in fetter Schrift: «Scientology geht in die Offensive!» Darunter in kleinerer Schrift: «Die Psycho-Sekte will sich in der Schweiz ausbreiten; Reiche Mitglieder finanzieren neuen Mega-Tempel mit; So regt sich der Widerstand; Das sagen Religions-Experten». Auf Seite 5 findet sich unter dem Titel «Basler bieten Scientology die Stirn» sowie dem Obertitel «Widerstand gegen neuen Mega-Tempel der Pseudo-Kirche» ein Artikel über das neue Zentrum von Scientology in Basel, das in Kürze seine Pforten öffnen soll. Bisher sei Zürich mit 120 hauptamtlichen Mitgliedern das Schweizer Zentrum der Sekte gewesen. Die Scientologen seien im Iselin-Quartier jedoch nicht willkommen. Unter dem Motto «Alles, was Krach macht» wollten zwei Quartier-Originale eine Anti-Scientology-Party organisieren. Laut Aussteigern würden Mitglieder psychisch abhängig gemacht und finanziell ausgebeutet. Zu Wort kommen im Artikel der Leiter der evangelischen Infostelle Relinfo, die Geschäftsführerin der Beratungsstelle Infosekta sowie Scientology. Letztere verstehe den Widerstand nicht, die Anwohner würden Scientology gar nicht wahrnehmen, beteuere Sprecher Jürg Stettler. Im Zentrum würde nur gearbeitet, missioniert würde woanders.

Am 16. April 2015 folgte ein weiterer Frontartikel unter dem Titel: «Jetzt reden die Aussteiger». Darunter: «Sie verloren ihren Job, ihr Erspartes, ihre Familie; ‹So hat man uns ausgebeutet›; Schriftsteller Cueni rechnet ab mit der ‹totalitären Sekte›». Unter einem zweiten Titel «Das Weltbild der Psycho-Sekte» wird ausgeführt, die Lehre der Scientologen stamme aus den 1950er-Jahren. Nun seien sie in der Schweiz auf Expansionskurs. Mit den Überschriften «Seit 40 Jahren»; «Anfang»; «Weltbild»; «Ziel»; «Praktiken» werden Informationen zu Scientology vermittelt. Auf Seite 4 schliesslich kommen unter dem Titel «Es war wie Sklaverei» und dem Obertitel «Jetzt reden die Aussteiger» drei ehemalige Mitglieder zu Wort, zudem legt der Schriftsteller Claude Cueni unter dem Titel «Verträge auf 1 Milliarde Jahre» seine Sicht auf Scientology dar.

B. Am 19. April 2015 beschwerte sich Jürg Stettler, Sprecher von Scientology Schweiz, beim Schweizer Presserat gegen die im «Blick» veröffentlichten Berichte. Er macht insbesondere geltend, Scientology habe zu massivsten Vorwürfen lediglich mit zwei kurzen Aussagen Stellung beziehen «dürfen». Der Autor des Artikels habe ihn etwa zehn Tage vor Veröffentlichung der Artikel kontaktiert und ihm viele Fragen zu Scientology Schweiz gestellt. Trotz heftiger im Artikel zitierter Kritik seien am 15. April lediglich zwei kurze Zitate von ihm wiedergegeben worden, die sich jedoch nicht auf konkrete Vorwürfe bezögen. Im Artikel des folgenden Tages habe sich keine einzige Aussage von Scientology mehr befunden. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Falsch sei, Ziel von Scientology sei die Weltherrschaft. Wie in den offiziellen Schriften ausgeführt, habe Scientology «eine Welt ohne Krieg, Kriminelle und Wahnsinn» zum Ziel. Falsch sei, Ziel von Scientology sei es, Geld zu verdienen, dies sei absurd und nicht durch Dokumente zu untermauern. Falsch sei zudem, Scientologen müssten teure Kursprogramme absolvieren. «Blick» habe zudem einfach die falsche Behauptung eines Ex-Mitglieds veröffentlicht, wonach dieser 160’000 Franken an Scientology verloren habe. Falsch sei auch die Aussage eines ehemaligen Mitglieds, er habe Scientology wegen Nichtakzeptanz seiner Homosexualität verlassen. Seine sexuellen Neigungen seien für die Leitung der Scientology Basel kein Grund für den Austritt gewesen. Zudem werde immer wieder auf die teuren Kurse hingewiesen, ohne dass überhaupt versucht werde, Infos darüber von Scientology zu erhalten. Völlig absurd und falsch sei zudem, Scientology behaupte, «Krebs umgehend heilen zu können». Verletzt sieht der Beschwerdeführer weiter Ziffer 3 der «Erklärung», wonach keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen werden dürfen. Scientology habe zu den massiven Vorwürfen keine Stellung beziehen können. Es handle sich nicht um einen einzelnen Artikel, sondern um zwei Titelstories und zwei volle Seiten mit Kritik an Scientology. Als verletzt geltend macht der Beschwerdeführer auch die in Ziffer 5 statuierte Berichtigungspflicht. Gleich nach dem ersten Artikel habe er sich in seiner Rolle als Sprecher von Scientology gemeldet und auf die falschen Informationen hingewiesen. Die von ihm verfasste kurze Stellungnahme sei jedoch von der Chefredaktion zurückgewiesen worden. Zudem würden die Scientologen in zahlreichen Teilen auf äusserst diskriminierende Art und Weise diffamiert, was gegen Ziffer 8 der «Erklärung» verstosse. So würden Scientologen von Herrn Cueni als «schwer therapierbar» im Zusammenhang mit einer psychiatrischen Klinik bezeichnet. Der Glaube von Scientologen würde mit Slotmaschinen verglichen, ganz abgesehen von Ausdrücken wie Sklaverei und Ausbeutung. Unkritisch werde auch ein Plan eines Gegners bekannt gemacht, der eine Liste von Scientologen zusammenstelle mit dem Aufruf «Kauft nicht bei Scientologen». Der Leser komme so zum Schluss, Scientologen sollten gesellschaftlich geächtet und ausgegrenzt werden. Zu all diesen Vorwürfen habe Scientology nicht Stellung beziehen können. Ganz grundsätzlich stelle sich die Frage, ob ein Medium ein Thema derart einseitig aufgreifen bzw. eine Institution angreifen dürfe, ohne dass diese Stellung beziehen könne. Überdies frage sich, ob einzelne Ex-Mitglieder ihre «Story» zum Besten geben dürften, ohne dass das Medium die Pflicht habe, deren Aussagen zu verifizieren. Es kämen hier nur Gegner zu Wort.

C. In seiner Stellungnahme vom 23. Juni 2015 beantragte der anwaltlich vertretene «Blick» die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Es sei unbestritten, dass Scientology im Beitrag zu Wort komme. Damit sei der Beschwerde bereits eine wesentliche Grundlage entzogen. Die Vorgeschichte zeige, dass Scientology Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen habe – wobei die Beschwerdeführerin offenlasse, ob er die «sehr vielen Fragen» konkret beantwortet habe oder nicht. Dass der Artikel schwergewichtig die Kritiker von Scientology zu Wort kommen lasse, sei medienrechtlich irrelevant: Scientology habe keinen Anspruch darauf, dass ihr Selbstbild im selben Umfang dargestellt werde wie die Aussensicht ehemaliger Mitglieder bzw. von kritischen Beobachtern. Es sei ebenso irrelevant, ob jetzt der «Kirchenneubau» zu Basel Anlass zu einem oder zwei Artikeln biete, eine Redaktion sei frei, ob und in welchem Umfang sie sich einem Thema widme. Einer Stellungnahme bedürfe es nicht in jedem Artikel, in dem jemand vorkomme. Der Vorwurf der Verletzung der Wahrheitspflicht sei unbegründet. Was die Beschwerde unter diesem Titel aufliste, habe nichts mit der «Wahrheitspflicht» zu tun, weil es sich bei den an- bzw. aufgegriffenen Themen um die Darstellung dessen handle, was andere über Scientology sagten. Mit dem Hinweis auf die offiziellen Schriften der Beschwerdeführerin könne man nicht den «Unwahrheitsbeweis» führen. Und mit der blossen Bestreitung der Äusserungen Dritter könne auch kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht bewiesen werden. Scientology lege nicht dar, was warum unwahr sein solle. Ebenso unbegründet sei der Vorwurf der Unterschlagung wesentlicher Elemente von Informationen – welche führe die Beschwerdeführerin nicht aus. Unbegründet sei weiter auch der Vorwurf der Verletzung der Berichtigungspflicht. Die vom Scientology-Sprecher verfasste «Stellungnahme» sei weder geeignet, etwas zu berichtigen, noch eine effektive Falschinformation zu belegen. Schliesslich gehe de
r Vorwurf eines Verstosses gegen Ziffer 8 der «Erklärung» an der Sache vorbei. Was hier an Themen aufgegriffen werde, habe rein gar nichts mit der «Menschenwürde» der Scientologen zu tun. Kritik an den Überzeugungen bzw. «Programmen» habe nichts mit Absprechen der Menschenwürde zu tun.

D. Am 20. Mai 2016 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. September 2016 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
 
II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung des Wahrheitsgebots gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» geltend. Danach müssen sich Journalisten vom Recht der Öffentlichkeit, die Wahrheit zu erfahren, leiten lassen. Scientology beschwert sich insbesondere über Falschaussagen von Drittpersonen, so zum Beispiel über die Aussage eines ehemaligen Mitglieds, er habe Scientology aufgrund seiner Homosexualität verlassen müssen. Weiter wird eine Aussage eines anderen ehemaligen Mitglieds betreffend die Höhe der an Scientology bezahlten Geldsumme beanstandet. Da es sich um subjektive Erfahrungsberichte einzelner Personen handelt und dies auch klar so dargestellt wird, müssen Medien gemäss Praxis des Presserats nicht immer durch ergänzende Recherchen «objektivieren». Hingegen sind Journalisten verpflichtet, Informationen kritisch zu hinterfragen und mit verhältnismässigem Aufwand zu prüfen. Im vorliegenden Fall sind die Aussagen der ehemaligen Mitglieder sehr schwierig auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. So ist es praktisch unmöglich, zu wissen, ob das betroffene Mitglied Scientology tatsächlich aufgrund der Ablehnung seiner Homosexualität verlassen hat. Letztlich ist es unerheblich, von welchem Rücktrittsgrund Scientology ausgeht, zumal es sich um einen subjektiven Erfahrungsbericht handelt, der sich nicht überprüfen lässt. Auch die Aussage eines ehemaligen Mitglieds über die Höhe der an Scientology bezahlten Geldsumme stellt eine persönliche Erfahrung dar, die sich nicht überprüfen lässt und an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln für «Blick» keine Anhaltspunkte bestanden. Solche Darstellungen – auch wenn sie eine einseitige Sicht auf die Dinge geben – verletzen das Wahrheitsgebot nicht und sind im Rahmen der Informationsfreiheit durchaus zulässig.

Dann beanstandet die Beschwerdeführerin die Information des «Blick» selber, wonach Scientology die Weltherrschaft sowie das Geldverdienen zum Ziel habe. Diese Aussagen stellen keine Drittmeinung dar, sondern kommen als unumstrittene Fakten daher. Scientology bestreitet diese Ziele, belegt das jedoch genau so wenig wie «Blick». Der Eigenaussage von Scientology allein, ihre Ziele seien «eine Welt ohne Krieg, Kriminelle und Wahnsinn», kann keine Beweiskraft zukommen. Im Sinne der freien Meinungsbildung muss es einem Medium möglich sein, gerade zu einem umstrittenen Thema eine gegenteilige, kritische Meinung zu publizieren. Wie bei der Behauptung, Scientologen müssten teure Kursprogramme absolvieren, stehen sich zwei Aussagen gegenüber, ohne dass die eine oder andere belegt oder widerlegt werden könnte. Aus diesem Grund hat der «Blick» auch mit diesen Aussagen nicht gegen das Wahrheitsgebot verstossen.

2. Scientology rügt des Weiteren die Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung». Danach dürfen keine wichtigen Informationen unterschlagen werden. Die Verletzung sieht Scientology darin, dass sie nicht Stellung zu den massiven Vorwürfen beziehen konnte. Die Organisation bringt allerdings nicht vor, welche Informationen konkret unterschlagen wurden. Die Ziffer 3 der «Erklärung» verpflichtet nicht, alle Aspekte eines Themas aufzuzeigen, sondern bezieht sich nur auf solche Informationen, welche im Einzelfall für den Leser unerlässlich sind, um die publizierte Aussage richtig zu verstehen. Eine Verletzung dieser Bestimmung ist nicht ersichtlich.

Bei schweren Vorwürfen verpflichtet Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» die Medien jedoch, Betroffene vor der Publikation anzuhören. Gemäss Praxis des Presserats gilt ein Vorwurf als schwer, wenn ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten unterstellt wird (Erwägung 5.a in Stellungnahme 24/2015). Im vorliegenden Fall wird Scientology hauptsächlich seine starke Gewinnorientierung sowie das Anstreben einer Weltherrschaft vorgeworfen. Beides ist nicht per se illegal. Aus diesem Grund war «Blick» nicht verpflichtet, Scientology anzuhören. Ziffer 3 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

3. Gemäss der Beschwerdeführerin wurde weiter Ziffer 5 der «Erklärung» verletzt, welche besagt, dass veröffentlichte Meldungen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist, zu berichtigen sind. Wie oben ausgeführt beinhalten die umstrittenen Artikel keine eigentlichen Falschaussagen. Das Mail von Jürg Stettler an den «Blick» vom 15. April 2015 bemängelt zwar den Wahrheitsgehalt der Artikel, verlangt allerdings nicht konkret, was zu berichtigen sei. Somit hatte der «Blick» keinen Anlass, der Aufforderung der Beschwerdeführerin Folge zu leisten. Die Zahl von 1000 Mitgliedern wurde schon im Artikel vom 15. April bloss als Schätzung von Experten bezeichnet und wurde im Artikel des folgenden Tages sogar mit dem Hinweis ergänzt, dass Scientology die Zahl höher einschätze (Stettler macht im erwähnten Mail eine Zahl von «etwa 5500 Scientologen in der Schweiz» geltend). Somit hat der «Blick» die Ziffer 5 der «Erklärung» nicht verletzt.

4. Schliesslich wirft Scientology dem «Blick» eine Verletzung der Ziffer 8 der «Erklärung» vor. Diese sieht vor, dass die Menschenwürde zu respektieren sei und auf diskriminierende Anspielungen, welche die Religion zum Gegenstand haben, zu verzichten sei. Gemäss Richtlinie 8.2 zur «Erklärung» fällt insbesondere die Verallgemeinerung negativer Werturteile gegenüber einer bestimmten Gruppe unter das Diskriminierungsverbot. In den betreffenden Artikeln liegt eine solche Verallgemeinerung allerdings nicht vor. So handelt es sich zum Beispiel bei der Aussage, die Arbeit bei Scientology sei wie Sklaverei gewesen, um einen bildlichen Vergleich der subjektiven Empfindung eines ehemaligen Mitglieds und nicht um eine diskriminierende Anspielung. Die Äusserungen beruhen auf persönlich erlebten Erfahrungen und diskriminieren Scientology nicht in genereller Weise. Auch die Aussage von Claude Cueni, Menschen, welche behaupten, Krebs umgehend heilen zu können, seien nur schwer therapierbar, stellt keine diskriminierende Anspielung dar. Es handelt sich um eine persönliche Meinung, welche nicht auf einen diskriminierenden Faktor einer bestimmten Gruppe gegenüber abstellt. Eine Verletzung der Ziffer 8 der «Erklärung» liegt deshalb nicht vor.

5. Als Letztes wirft die Beschwerdeführerin die Frage auf, ob ein Medium ein Thema derart einseitig aufgreifen dürfe, ohne der betroffenen Person oder Institution die Möglichkeit zu geben, Stellung zu beziehen. Laut Praxis des Presserats muss eine Berichterstattung im Allgemeinen nicht ausgewogen sein, d.h. sie darf auch einseitig über ein Thema berichten. Bezüglich der Anhörungspflicht sei auf die Ausführungen in Erwägung 2 verwiesen. Der Vorwurf, «Blick» habe einseitig berichtet, ist somit nicht gerechtfertigt.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
«Blick» hat mit seinen Artikeln «Scientology geht in die Offensive» vom 15. April 2015 und «Jetzt reden die Aussteiger» vom 16. April 2015 die Ziffer 1 (Wahrheitsgebot), Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen), Ziffer 5 (Berichtigung) und Ziffer 8 (Menschenwürde; Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Jo
urnalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.