Nr. 37/2016
Wahrheitspflicht / Unterschlagen wichtiger Elemente von Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Berichtigung

(Concordia c. «Tages-Anzeiger»/«Der Bund») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 27. Oktober 2016

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Zusammenfassung

«Tages-Anzeiger» und «Der Bund», beide aus dem Verlag Tamedia, griffen im Februar 2015 den Fall einer Patientin auf, die wegen der seltenen Krankheit Morbus Pompe auf eines der teuersten Medikamente der Schweiz angewiesen ist. Da die Frau stark übergewichtig ist und das Mittel nach Körpergewicht dosiert wird, hatte ihre Krankenkasse sie aufgefordert, nach einer bereits absolvierten Schlankheitskur erneut sechs Kilo abzuspecken.

Die Versicherung stritt dies nicht ab, wies jedoch in ihrer Beschwerde gegenüber dem Presserat darauf hin, dass die Betroffene keineswegs – wie in den Berichten behauptet – an den Rollstuhl gefesselt sei.

Weil weder Tamedia noch die Versicherung im Beschwerdeverfahren belegen konnten, ob die Frau dauerhaft auf ihren Rollstuhl angewiesen ist oder nicht, beschränkte sich der Presserat auf einen wichtigen Nebenaspekt. Das Selbstkontrollorgan der Schweizer Medien musste eine Rüge gegen den «Tages-Anzeiger» aussprechen, weil die Zeitung in einem begleitenden Online-Bericht die Behauptung einer Patientenschützerin verbreitet hatte, dieses Vorgehen habe bei der Krankenkasse «System».

«Tages-Anzeiger online» wäre verpflichtet gewesen, den Versicherer vor der Publikation mit dem Vorwurf der Patientenschützerin zu konfrontieren. Zwar ergänzte «Tages-Anzeiger online» seinen Bericht am nächsten Tag mit einer Erklärung der Krankenkasse. Aber das genügte nicht, um einer Rüge des Presserats wegen unterlassener Anhörung bei schweren Vorwürfen zu entgehen.

Résumé

Le «Tages-Anzeiger» et le «Bund», qui appartiennent tous deux à Tamedia, ont abordé en février 2015 le cas d’une patiente atteinte d’un mal rare, la maladie de Pompe, et tributaire d’un des médicaments les plus chers de Suisse. Cette femme ayant une forte surcharge pondérale et le médicament étant dosé en fonction du poids, sa caisse-maladie lui avait demandé, alors qu’elle avait déjà suivi une cure d’amaigrissement, de perdre à nouveau six kilos.

L’assurance n’a pas contesté les faits, mais elle a signalé dans la plainte qu’elle a adressée au Conseil de la presse que l’intéressée n’est nullement – comme le relatent les articles – clouée à son fauteuil roulant.

Ni Tamedia ni l’assurance n’étant parvenues à attester, pendant la procédure, que la femme est ou n’est pas durablement tributaire de son fauteuil roulant, le Conseil de la presse s’est limité à un aspect secondaire important. L’organe d’autocontrôle des médias suisses a dû prononcer un blâme à l’encontre du «Tages-Anzeiger» parce que le journal avait, dans son compte rendu en ligne, diffusé l’affirmation d’une organisation de protection des patients que la manière de procéder de la caisse-maladie était «systématique».

Le «Tages-Anzeiger online» aurait dû confronter l’assureur avec le reproche qui lui était fait avant de publier. Il a certes complété son compte rendu le lendemain par une déclaration de la caisse-maladie, mais cela ne suffit pas pour contrer le blâme du Conseil de la presse pour omission d’audition lors de reproches graves.

Riassunto

Il «Tages-Anzeiger» e il «Bund», entrambi del gruppo Tamedia, si erano occupati, nel febbraio del 2015, del caso di una paziente che, a causa della malattia rara di cui soffre, doveva assumere dei medicamenti tra i più cari in Svizzera. Poiché, inoltre, la donna è in sovrappeso e l’effetto del farmaco dipende anche dalla massa corporea, la sua cassa malati l’aveva invitata a «calare» di altri sei chili, oltre a praticare (come del resto già faceva) una cura dimagrante.

La cassa malati in questione non contesta – nel reclamo presentato al Consiglio della stampa – le informazioni sopra citate, ma critica come inveritiera l’informazione data dai due giornali, che la donna sia costretta a vivere su una sedia a rotelle. Nell’istruire il caso da parte del Consiglio della stampa non si è potuto provare se davvero la dipendenza della donna dalla sedia a rotelle fosse totale. Il Consiglio ha però voluto approfondire un aspetto laterale della vicenda, importante per la deontologia dei media. Nel servizio pubblicato sul sito online del «Tages-Anzeiger» era riportata l’affermazione di una consulente malattia, nel senso che – «sistematicamente»! – quello era il modo di agire di quella cassa malati.

Era necessario – dice il Consiglio della stampa – che il «Tages-Anzeiger» verificasse questa informazione presso la cassa malati. A questa omissione cui non pone del tutto rimedio la presa di posizione della medesima pubblicata il giorno seguente. È la ragione per cui l’organismo di deontologia accerta una violazione, da parte del giornale, del principio per cui la parte in causa deve sempre essere interpellata in caso di addebiti gravi.

I. Sachverhalt

A. Am 17. Februar 2015 veröffentlichten «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» gleichlautend einen umfangreichen Artikel im Wirtschaftsteil mit der Überschrift: «Wie viel darf eine Krankheit kosten?» («Tages-Anzeiger»), beziehungsweise «Patientin soll abnehmen – oder zahlen» («Der Bund») sowie einen prominent auf der jeweiligen Titelseite platzierten Anriss, im «Tages-Anzeiger» zweispaltig, im «Bund» dreispaltig. Der vierspaltige Artikel ist in bei-den Blättern mit der Fotografie eines leeren Rollstuhls im Gegenlicht bebildert, deren Bild-legende lautet: «Kein Sport möglich: Ohne Rollstuhl kann sich die Morbus-Pompe-Patientin nicht mehr fortbewegen.»

Die beiden Artikel beleuchten das Schicksal einer (nicht weitergehend identifizierten) Frau. Sie leidet an der seltenen Muskelkrankheit Morbus Pompe, die bei fortschreitendem Verlauf dazu führt, dass die Patienten nicht mehr gehen können und künstlich beatmet werden müssen. Ein Medikament namens «Myozyme» sorgt dafür, dass die Muskelmasse nicht (weiter) schwindet. Die Behandlung von Erwachsenen kostet pro Jahr 300’000 bis 520’000 Franken. Wie hoch Myozyme dosiert werden muss, hängt vom Gewicht der Betroffenen ab. Bei rund zwei Drittel der Patienten lässt sich die Symptomatik stabilisieren oder sogar verbessern.

Der Bericht von «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» stützt sich auf einen Brief der Luzerner Krankenkasse Concordia vom Mai 2014, der sich direkt an die Patientin wendet und sie auf ihre im Sozialversicherungsgesetz festgeschriebene «Schadenminderungspflicht» hinweist. Darin schreibe die Concordia, man habe den behandelnden Arzt bereits zwei Jahre zuvor «in-formiert, dass Sie Ihr Körpergewicht reduzieren sollten. Gemäss den uns zur Verfügung stehenden Unterlagen haben Sie Ihr Körpergewicht von Juli 2012 bis Februar 2014 von 90 kg auf 84 kg gesenkt. Diese Reduktion» sei «ein Schritt in die richtige Richtung», die Patientin könne aber «von einer weiteren Gewichtsreduktion nur profitieren. Eine Gewichtsreduktion ist medizinisch sinnvoll und für Sie gemäss Beurteilung unserer Vertrauensärztin zumutbar».

Zusammenfassend verlange die Concordia von der Patientin «eine weitere Gewichtsabnahme von 6 kg bis 31. Januar 2015» und kündige unmissverständlich an, nach Ablauf dieses Ultimatums künftig nur noch eine Dosis des Medikaments zu bezahlen, die für ein Körpergewicht von 78 Kilogramm berechnet ist. Die Kasse drohe: «Dadurch könnten erhebliche Restkosten zu Ihren Lasten anfallen.» Bei einem gleichbleibenden Gewicht von 84 Kilogramm, so hat der Journalist errechnet, «wären dies 35’000 Franken».

Die Schilderung des Falls dieser Patientin umfasst nur etwa 50 Prozent des Beitrags; in der zweiten Hälfte schildert der Autor weitere Auseinandersetzungen auf
medizinischer, gerichtlicher, administrativer und politischer Ebene, in denen es um andere kostspielige Pharmazeutika geht. Im Zusammenhang mit Myozyme, einem der teuersten Medikamente der Schweiz, zitiert er einen Staats- und Verwaltungsrechtler, der davon ausgeht, dass sich das Bundesgericht in absehbarer Zeit mit dem Verhalten der Kassen in Sachen Myozyme beschäftigen wird.

Am 17. Februar 2015, also noch am Erscheinungstag der Print-Artikel, veröffentlichte «Ta-ges-Anzeiger online» unter dem Titel «Das Vorgehen der Concordia hat System» einen Nachzug, in dem die Patientenschützerin Margrit Kessler, Nationalrätin der GLP, ausführlich zum Fall der Morbus-Pompe-Patientin Stellung nimmt. Sie macht der Concordia heftige Vorwürfe: «Die Frau ging nach dem ersten Gewichtsverlust davon aus, die Kriterien nun zu erfüllen. Sie wieder vor neue Tatsachen zu stellen, ist unerhört und ethisch nicht vertretbar.» Das Bundesamt für Gesundheit habe klare Kriterien für die Vergabe vom Myozyme formuliert, welche die Patientin offenbar erfülle. Kessler: «Die Concordia setzt sich aus rein wirtschaftlichen Erwägungen darüber hinweg.»

Wie bereits im ersten Artikel ist auch im Online-Bericht, der zu Beginn den Print-Artikel kurz zusammenfasst, die Rede von «einer Frau im Rollstuhl». Überschrieben ist der Beitrag mit einem Zitat Kesslers, das im folgenden Text selbst jedoch nur in indirekter Rede zu finden ist. Bebildert ist der Beitrag mit einer Aufnahme des Concordia-Firmensitzes in Zürich. In der Onlineversion ist jetzt auch die Auffassung der Concordia zum Fall der Patientin wiedergegeben.

B. Am 13. April 2015 wandte sich der Rechtsdienst der Kranken- und Unfallversicherung Concordia mit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat. «Tages-Anzeiger», «Der Bund» und «Tages-Anzeiger online» hätten mit den beanstandeten Beiträgen die Ziffern 1 und 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung)», zudem die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 1.1, 3.1, 3.4, 3.8 sowie 5.1 verletzt. Im Vordergrund der Beschwerde steht der durch das Rollstuhl-Foto und den Inhalt sämtlicher beanstandeter Berichte hervorgerufene Eindruck, dass es sich bei der von Concordia angeschriebenen Patientin um eine Frau im Rollstuhl handelt: «Diese Aussage», so stellt die Beschwerdeführerin fest, «ist falsch, wahrheitswidrig und irreführend». Weiter heisst es: «Wäre die betroffene Patientin effektiv auf den Rollstuhl angewiesen, hätte sie (…) nämlich gar keinen Anspruch auf das Medikament Myozyme gehabt, vielmehr hätte sie in diesem Fall sogar einen Versicherungsbetrug begangen!»

Darin erkennt die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1) und des Verbots der Unterschlagung wichtiger Informationen (Ziffer 3) sowie der Richtlinien 1.1 zur Wahrheitssuche und 3.1 zur Quellenbearbeitung. Die Illustration mit dem Foto eines Rollstuhls sowie die Bildzeile «Kein Sport möglich: Ohne Rollstuhl kann sich die Morbus-Pompe-Patientin nicht mehr fortbewegen» wertet die Beschwerdeführerin als Verstoss gegen Richtlinie 3.4 (Illustrationen).

Die Versicherung betont, im Nachgang zu den Veröffentlichungen noch einmal mit dem be-handelnden Arzt Prof. Kai Rösler abgeklärt zu haben, ob die Frau auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die Nachfrage habe «denn auch ergeben, dass die betroffene Patientin nicht im Rollstuhl sitzt …». Im Übrigen hätten es «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» gleichermassen unterlassen, die Concordia detailliert zu den schweren Vorwürfen anzuhören. Dies stelle so-wohl einen Verstoss gegen Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitssuche) als auch gegen Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) dar.

Die Tatsache, dass der «Tages-Anzeiger» die Stellungnahme der Concordia am 18. Februar 2015 – also am Tag nach der Veröffentlichung – kommentarlos in seinen Online-Nachzug eingearbeitet habe, ohne diese Ergänzung für die Leser gesondert kenntlich zu machen, wertet die Beschwerdeführerin als Verletzung der journalistischen Sorgfalts- und Wahrheitspflichten (Ziffer 1 und 3 der «Erklärung»; Richtlinien 3.1 und 3.8). Abschliessend weist der Concordia-Rechtsdienst auf das Dilemma hin, dass sich die Versicherung bei solcher «tendenziösen Falschberichterstattung» in der «undankbaren Rolle» sehe, «aus Datenschutzgründen nur sehr beschränkt zu Einzelfällen Stellung nehmen» zu können, und fasst zusammen: «Die grundlegenden Pflichten seriöser journalistischer Arbeit wurden vorliegend mit Füssen getreten.»

C. «Die Beschwerdeführerin versucht, mit einem Detail vom Wesentlichen abzulenken», entgegnet der Tamedia-Rechtsdienst in seiner Beschwerdeantwort vom 1. Juni 2015. Tamedia gibt sowohl den «Tages-Anzeiger» als auch den «Bund» heraus. Das Verlagshaus weist da-rauf hin, dass die Information, die Patientin sitze im Rollstuhl, von Prof. Dr. med. Kai Rösler stamme: «Die Information der Beschwerdegegnerin fusst somit auf den Aussagen eines in diesem Bereich spezialisierten und mit dem konkreten Fall vertrauten Facharztes.» Wie sorgfältig der Autor im Gegensatz zur Auffassung der Concordia recherchiert habe, sei dadurch belegt, «dass er – was durchaus nicht üblich ist – Dr. Rösler zur Überprüfung der Fakten nicht nur direkte und indirekte Zitate zur Ansicht schickte, sondern ihm ganze Textpassagen zu-kommen liess. Diesen Passagen ist klar und deutlich zu entnehmen, dass besagte Patientin im Rollstuhl sitzt. Am 6. Februar 2015 antwortete Herr Rösler auf die ihm vorgelegten Textpassagen per Mail mit ‹sehr gut – kein Problem meinerseits›.»

Der Tamedia-Rechtsdienst legt im Übrigen dar, man habe gar «nicht behauptet», dass die Patientin auf den Rollstuhl angewiesen sei – und zwar so: «In dem beanstandeten Artikel stand, dass die Frau im Rollstuhl sitze, was nicht heisst, dass sie dies ständig tut und sich ohne den Rollstuhl nicht bewegen kann.» Wie die Bildzeile: «Ohne Rollstuhl kann sich die Morbus-Pompe-Patientin nicht mehr fortbewegen» zu diesem Argument passen soll, begründet der TA damit, dass ihr die Aussage: «Kein Sport möglich» vorangestellt sei: Mit diesem einleitenden Satz der Bildzeile werde die Behauptung insofern eingeschränkt, als «dass Sport ohne Rollstuhl für die Frau nicht möglich sei». Das verwendete Bild stelle «als solches keine Sachdarstellung zum Artikel dar». Man habe also die Wahrheitspflicht nicht verletzt.
 
Den Vorwurf, «Tages-Anzeiger» und «Bund» hätten es unterlassen, die Concordia vor der Veröffentlichung detailliert anzuhören, weist der Rechtsdienst unter Hinweis auf einen Mail-Schriftwechsel zwischen dem Autor und dem Bereichsleiter Tarif- und Leistungssteuerung der Concordia ebenfalls zurück. Weder ein Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» noch gegen Richtlinie 3.8 sei daher gegeben. Die Antworten der Beschwerdeführerin seien «zwar kurz, aber in der Substanz in den Artikel aufgenommen und damit berücksichtigt worden».

Der Tamedia-Rechtsdienst räumt ein, dass die Stellungnahme der Concordia zum Nachzug auf «Tages-Anzeiger online» erst nach der Veröffentlichung eingeholt worden sei, erkennt aber nicht an, dass diese Einfügung für die Leser als Korrektur hätte kenntlich gemacht wer-den müssen. Es sei «nur in Ausnahmefällen von Wichtigkeit, wann genau was nachgereicht worden ist». Da es von Seiten der Concordia zu keinem Zeitpunkt ein Begehren auf Berichti-gung gegeben habe, könne man auch keinen Verstoss gegen Artikel 5 der Erklärung (Berichtigungspflicht) erkennen.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 1. Kammer zu. Ihr gehören Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Michael Herzka, Pia Horlacher, Klaus Lange, Francesca Luvini, Casper Selg und David Spinnler an.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 23. September 2015 so-wie auf dem Korrespondenzweg.

F. Innerhalb der reglementarischen Frist von 10 Tagen beantragten zwei Mitglieder des Presserats die Behandlung der Beschwerde durch das Plenum.

G. Das Plenum des Presserats behandelte die Beschwerde an seinen Sitzungen vom 24. Mai und 27. Oktober 2016 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen halten und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Publikationsorgane sind demnach grundsätzlich verpflichtet, belegbare Tatsachen zu vermelden. Wenn sie stattdessen die Unwahrheit verbreiten, verstossen sie gegen diesen medienethischen Grundsatz. «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» berichten von einer «Frau, die im Rollstuhl sitzt» und sich «ohne Rollstuhl nicht mehr fortbewegen» könne. Diese Patientin werde nicht nur trotz, sondern so-gar wegen ihres Übergewichts von einer Krankenkasse drangsaliert. Die Versicherung wehrt sich gegen diesen Vorwurf mit dem Hinweis, die Frau sei nach ihrem Kenntnisstand gar nicht auf den Rollstuhl angewiesen.

Weder belegt jedoch Tamedia, dass oder in welchem Mass die Patientin an den Rollstuhl gebunden ist, noch vermag die Versicherung Belege für das Gegenteil zu präsentieren. Der Verlag behauptet, weder die Feststellung im Text, «dass die Frau im Rollstuhl sitzt», noch die Bildzeile «Ohne Rollstuhl kann sich die Morbus-Pompe-Patientin nicht mehr fortbewegen» seien so zu verstehen, dass die Patientin auf den Rollstuhl angewiesen sei. Die Concordia wiederum argumentiert, aus Datenschutzgründen dürfe sie keine Angaben über den Behinderungsgrad der Patientin machen. Die Versicherung empfiehlt dem Presserat, er möge den be-handelnden Arzt befragen. Dieser habe ihren eigenen Abklärungen zufolge angegeben, «dass die betroffene Patientin nicht im Rollstuhl sitzt».

Der Presserat jedoch kann lediglich auf Basis der ihm eingereichten Unterlagen urteilen und keine eigenen Untersuchungsmassnahmen vornehmen. Da im strittigen Punkt Aussage gegen Aussage steht, muss die Frage, wie hoch der Behinderungsgrad der betroffenen Patientin ist, offen bleiben. Der Presserat kann somit im Hinblick auf eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» zu keinem Urteil gelangen. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht ist demnach nicht erstellt.

2. a) Ziffer 3 der «Erklärung» verpflichtet Journalisten, keine wichtigen Elemente von Informationen zu unterschlagen. Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Rollstuhl-Foto und der Inhalt sämtlicher beanstandeter Berichte rufe den Eindruck hervor, es handle sich bei der von der Concordia angeschriebenen Patientin um eine Frau im Rollstuhl. Wie oben dargestellt lässt sich jedoch nicht klären, ob durch die Publikationen von «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» dieses Verbot bzw. die Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) verletzt worden sind.

b) Richtlinie 3.4 (Illustrationen) lautet: «Bilder oder Filmsequenzen mit Illustrationsfunktion, die ein Thema, Personen oder einen Kontext ins Bild rücken, die keinen direkten Zusammenhang mit dem Textinhalt haben (Symbolbilder), sollen als solche erkennbar sein. Sie sind klar von Bildern mit Dokumentations- und Informationsgehalt unterscheidbar zu machen, die zum Gegenstand der Berichterstattung einen direkten Bezug herstellen.» Das Bild zeigt einen leeren Rollstuhl. Die Bildlegende stellt einen Bezug zur Morbus-Pompe-Patientin her, welche sich ohne Rollstuhl nicht mehr fortbewegen könne. Wie erwähnt lässt sich nicht klären, ob die Patientin auf den Rollstuhl angewiesen ist oder nicht. Insofern muss auch die Frage offen bleiben, ob es sich vorliegend um ein Symbolbild handelt, welches als solches hätte gekenn-zeichnet werden sollen.

c) Gestützt auf Richtlinie 3.8 sind Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Die Krankenkasse wirft der Beschwerdegegnerin vor, im auf «Tages-Anzeiger online» veröffentlichten Artikel werde behauptet, gemäss Patientenschützerin und GLP-Nationalrätin Margrit Kessler gehe die Versicherung systematisch vor. Das Bundesamt für Gesundheit habe klare Richtlinien für die Vergabe von Myozyme formuliert, welche die Patientin offenbar erfülle. Kessler wird wie folgt zitiert: «Die Concordia setzt sich aus rein wirtschaftlichen Überlegungen über diese hinweg.»

Unbestritten ist, dass der entsprechende Artikel am 17. Februar 2015 ins Netz gestellt wurde, die Stellungnahme der Concordia jedoch erst im Nachgang zur Veröffentlichung des Artikels eingeholt und am 18. Februar 2015 eingefügt worden ist. Die Beschwerdegegnerin bestreitet aber, dass diese Einfügung für die Leser als Korrektur gesondert hätte kenntlich gemacht werden müssen. Es sei «nur in Ausnahmefällen von Wichtigkeit, wann genau was nachgereicht worden ist».

In Auslegung von Richtlinie 3.8 erachtet der Presserat einen Vorwurf als schwer, wenn jemandem ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten vorgeworfen wurde. Dies ist vor-liegend zweifellos der Fall, weshalb der Versicherer vor Publikation des Online-Nachzugs hätte angehört werden müssen. Die fehlende Anhörung wurde am darauffolgenden Tag in der Online-Version nachgeholt. Beim Postulat des «audiatur et altera pars» handelt es sich um eine Grundregel journalistischen Handwerks. Deren Verletzung wird nicht einfach dadurch ungeschehen gemacht und quasi geheilt, indem die fehlende Anhörung nachträglich eingeholt und online publiziert wird. Damit erübrigt sich auch die Frage, ob die Einfügung dieser Korrektur für den Leser hätte kenntlich gemacht werden müssen. Der «Tages-Anzeiger» hat mit seinem Online-Nachzug demnach Richtlinie 3.8 (Anhörungspflicht) verletzt.

3. Die Beschwerdeführerin macht schliesslich eine Verletzung von Ziffer 5 (Berichtigung) der «Erklärung» geltend. Diese verlangt, dass Journalisten jede von ihnen veröffentlichte Meldung, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist, berichtigen. Die Beschwerdeführerin selbst hat nie eine Berichtigung verlangt. Andererseits ist nicht erstellt, in welchem Ausmass die Morbus-Pompe-Patientin auf den Rollstuhl angewiesen ist. Gestützt auf diesen Umstand liegt demnach keine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung» vor.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Tages-Anzeiger online» hat mit dem Beitrag «Das Vorgehen der Concordia hat System» vom 17./18. Februar 2015 Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» haben mit den Artikeln «Wie viel darf eine Krankheit kosten» («Tages-Anzeiger») bzw. «Patientin soll abnehmen – oder zahlen» («Der Bund») vom 17. Februar 2015 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (in Bezug auf das Unterschlagen wichtiger Informationen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung» nicht verletzt.