Nr. 56/2009
Wahrheitspflicht / Suizid

(Minelli/Dignitas c. «Blick») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 21. Oktober 2009

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Am 18. und 25. März 2008 berichtete «Blick» in zwei Artikeln («Dignitas: Sterben mit dem Heliumsack» und «Vergasen wie im Dritten Reich»), Dignitas habe sich eine neue Sterbehilfemethode ausgedacht. Da es für die Sterbehilfeorganisation immer schwieriger sei, ein ärztliches Rezept für das bisher verwendete Medikament zu erhalten, wende sie nun Helium an. Denn dafür brauche es kein ärztliches Rezept.

B. Am 13. Oktober 2008 schrieb «Blick» unter dem Titel «Der Tod kommt per Post – für 60 Dollar», «neue Geschäftemacher» hätten das «Sterbehilfe-Business» entdeckt. Für 60 Dollar könne man bei einer (im Artikel namentlich genannten) US-Firma in der Nähe von San Diego ein «Todespaket» bestellen, bestehend aus Plastiksack und Anleitung. Damit könne sich jeder selbst umbringen. Das zusätzlich benötigte Helium-Gas erhalte man in jedem Party-Fachgeschäft. Die «Do-it-yourself-Variante mit dem Plastiksack und den Heliumflaschen» funktioniere. Der Autor eines Sterbehilfe-Ratgebers empfehle sie in seinem Buch sogar. Auch die Beschaffung klappe tadellos. Im Vergleich zum Dignitas-Listenpreis von 10’000 Franken seien die 60 Dollar für diese Methode ein Schnäppchen. «Wenn der Todes-Sack der Amis Erfolg hat, gehen Dignitas womöglich die Kunden aus.»

C. Am 3. April 2009 berichtete «Blick» erneut über Dignitas («Todes-Service auch für Gesunde»). Ludwig A. Minelli wolle mit einem Pilotprozess erreichen, «dass seine Dignitas jeden vergiften darf, der dies wünscht». Dies gehe aus dem im Internet veröffentlichten Protokoll einer Anhörung vor der SP-Bundeshausfraktion hervor. Danach sollten nicht nur Kranke, sondern auch Gesunde die Dienste von Dignitas in Anspruch nehmen können. «Bereits bekannt war, dass Minelli nicht nur körperlich, sondern auch psychisch Kranke in den Tod begleiten möchte.»

D. Am 10. April 2009 gelangte Ludwig A. Minelli in eigenem Namen und in denjenigem von Dignitas mit einer Beschwerde gegen die obengenannten «Blick»-Berichte an den Presserat. «Blick» führe eine «Lügenkampagne» und verbreite Unwahrheiten über die Sterbehilfeorganisation und ihn selber. Bei den vier Fällen, in denen bei der Suizidbegleitung Helium verwendet wurde, sei das Helium über eine Atemmaske zugeführt worden. Die Suizidwilligen hätten sich entgegen der Darstellung der Zeitung keinen Plastiksack über den Kopf stülpen müssen. Zudem habe Dignitas die ärztliche Kontrolle nicht ausgehebelt. In jedem der vier Fälle habe ein Arzt die sterbewillige Person gesehen und ihren Freitodwunsch für gerechtfertigt erachtet. Unwahr sei auch die Behauptung, der Helium-Tod sei grausam. Wer Helium einatme, falle in aller Regel innerhalb von 16 Sekunden in Ohnmacht und verliere das Bewusstsein. Deshalb sei es nicht gerechtfertigt, von einem grausamen Tod zu sprechen. Schliesslich habe weder Dignitas noch er selber jemals irgend jemanden vergiftet, noch plane er, dies künftig zu tun.

Mit dem völlig verpönten Nazivergleich («Vergasen wie im Dritten Reich») diskriminiere «Blick» zudem die Holocaust-Opfer. Und der Bericht vom 13. Oktober 2008 («Der Tod kommt per Post – für 60 Dollar», «neue Geschäftemacher») liefere suizidgefährdeten Personen klare Hinweise, wie sie sich Suizidmittel beschaffen könnten. Wer in der Suchmaschine «Google» den im Bericht genannten Namen des Sterbehilfeautors sowie denjenigen der Firma eingebe, die das «Todespaket» vertreibt, finde die genaue Bezugsadresse ohne Weiteres. Damit verstosse die Zeitung gegen die gebotene Zurückhaltung bei Publikationen zum Thema Suizid.

E. Am 4. Mai 2009 beantragte die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion, die Beschwerde sei abzuweisen. Auf die beiden Artikel vom 18. und 25. März 2008 sei nicht einzutreten, da diese zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerde älter als sechs Monate waren.

Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführer habe «Blick» ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei den vier Helium-Selbstmorden nicht ein Plastiksack, sondern eine Maske verwendet wurde. Dass ein Beobachter eines Selbstmordes die beim Sterbenden auftretenden Zuckungen als «grausam» bewerte, habe nichts mit einer Verletzung der «Wahrheitspflicht» (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») zu tun. Ebenso sei es zulässig, die Sterbebegleitung durch Dignitas als «Vergiftung» zu bezeichnen. Der Leserschaft sei dabei klar, dass es um eine umstrittene Tätigkeit, nicht aber um ein strafbares Verhalten gehe. Unbegründet sei schliesslich auch der Vorwurf, «Blick» habe die geforderte Zurückhaltung bei der Nennung von Suizidmitteln vermissen lassen. Es sei mit der Medienfreiheit und der Wahrheitspflicht vereinbar, einzelne Elemente eines umfassenderen Sachverhalts zu nennen. Im Internetzeitalter sei es hinzunehmen, dass es wenig braucht, um fehlende Elemente mit Hilfe von Suchmaschinen und Verknüpfungen zu eruieren.

F. Das Präsidium des Presserates übertrug die Beschwerde zur Behandlung an die erste Kammer. Diese setzt sich zusammen aus Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder).

G. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. Oktober 2009 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 10 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn die Publikation des beanstandeten Medienberichts länger als sechs Monate zurückliegt. Auf die beiden Berichte vom 18. und 25. März 2008 geht die vorliegende Stellungnahme deshalb nicht ein. Damit entfällt die Prüfung folgender Rügen des Beschwerdeführers: Entgegen der Darstellung des «Blick» treffe es nicht zu, dass Dignitas mit der Verwendung von Helium die ärztliche Kontrolle aushebeln wollte. Und der Titel «Vergasen wie im Dritten Reich» diskriminiere die Holocaust-Opfer.

2. a) Soweit die Beschwerde hinsichtlich des Artikels vom 13. Oktober 2008 («Der Tod kommt per Post – für 60 Dollar») geltend macht, «Blick» behaupte darin wahrheitswidrig, Dignitas habe bei der Sterbehilfe mit dem Mittel Helium einen Plastiksack verwendet, erscheint sie als unbegründet. Denn im beanstandeten Bericht ist ausdrücklich zu lesen: «Anfang Jahr schickte die umstrittene Sterbehilfeorganisation Dignitas vier Kunden per Helium in den Tod. Zwar nicht per Plastiksack, sondern mit einer Maske.»

b) Im gleichen Bericht führt «Blick» aus, Zeugen würden den Helium-Tod als «grausam» beschreiben. Der Körper zucke «Dutzende Minuten» lang weiter. Die Einstufung der Methode als «grausam» ist für die Leserschaft als Wertung erkennbar. Mit dem Hinweis auf die Beschreibungen von Zeugen gibt «Blick» zudem auch das wichtigste Element an, auf welchem diese Wertung beruht. Die Wiedergabe dieser Wertung durch den «Blick» verstösst nicht gegen die Wahrheitspflicht. Dies ungeachtet davon, ob die Wertung als zutreffend erscheint oder nicht.

c) Ebenso wird für die Leserschaft beim Lesen des Artikels «Todes-Service auch für Gesunde» klar, dass mit «vergiften» nicht gemeint ist, die Beschwerdeführer widerhandelten gegen strafrechtliche Normen. Der entsprechende Satz des Leads lautet: «In einem Prozess will Ludwig A. Minelli (75) erreichen, dass seine Dignitas jeden vergiften darf, der dies wünscht.» Der letzte Halbsatz («der dies wünscht») macht klar, dass es auch hier um straffreie Beihilfe zum Suizid geht.

3. a) Gemäss der Richtlinie 7.9 zur «Erklärung» hat sich die Berichterstattung über Suizide auf die für das Verständnis notwendigen Angaben zu beschränken und darf keine intimen oder herabsetzenden Einzelheiten enthalten. «Um das Risiko von Nachahmungstaten zu
vermeiden, verzichten die Medien auf detaillierte, präzise Angaben über angewandte Methoden und Mittel.» Der Presserat hat in der Stellungnahme 8/2008 darauf hingewiesen, dass dies nicht nur bei Artikeln über konkrete Suizide, sondern auch dann gilt, wenn Medien über Sterbehilfemethoden berichten.

b) Für den Presserat ist unbestritten, dass «Blick» im Bericht vom 13. Oktober 2008 im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion über die Methoden von Dignitas das Beispiel der amerikanischen Firma aufgreifen durfte, welche für 60 Dollar einen Plastiksack mit Anleitung für die Selbsttötung mittels Helium vertreibt. Die Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips hätte allerdings in Bezug auf die Beschreibung von angewandten Methoden und Mitteln mehr Zurückhaltung geboten. Auch wenn bei der abstrakten Beschreibung einer Suizidmethode die Nachahmungsgefahr weniger gross sein dürfte als bei einer emotional aufwühlenden Reportage über einen konkreten Suizid, hätte «Blick» deshalb auf genaue Angaben verzichten und insbesondere den Namen der Firma nicht erwähnen sollen. Für die Leserschaft wäre der Artikel trotzdem verständlich gewesen. «Blick» hat deshalb insoweit die Ziffer 7 der «Erklärung» (Suizidberichterstattung) verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein, soweit sie sich gegen die «Blick»-Berichte «Dignitas: Sterben mit dem Heliumsack» (18. März 2008) und «Vergasen wie im Dritten Reich» (25. März 2008), da diese zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerde älter als sechs Monate waren.

2. Soweit der Presserat auf die Beschwerde eintritt, heisst er sie teilweise gut.

3. «Blick» hat mit der Veröffentlichung des Berichts «Der Tod kommt per Post – für 60 Dollar» Ziffer 7 (Suizid) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

4. Darüber hinaus wird die Beschwerde abgewiesen.

5. «Blick» hat die Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) nicht verletzt.

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