Nr. 41/2015
Wahrheitspflicht / Fairnessgebot / Privatsphäre / Menschenwürde

(Debrunner c. «watson.ch») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 8. Oktober 2015

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Zusammenfassung

Nachdem eine Twitter-Userin ihren Account gelöscht und rechtliche Schritte angekündigt hatte, weil ihr echter Name in Twitter veröffentlicht worden war, publizierte das Internet-Portal «watson.ch» einen Bericht mit dem Titel «Userin weggemobbt: Die Twitter-Schweiz hat den grössten Shitstorm ihrer Geschichte». Hunderte hätten ihre Solidarität mit der Twitter-Userin bekundet und sich gegen Cybermobbing ausgesprochen. Auslöser für das Löschen des Twitter-Accounts sei offenbar ein Tweet eines Journalisten gewesen, der den bürgerlichen Namen der Userin offenbart habe.

Gegen diesen Bericht wehrte sich die Userin mit einer Beschwerde vor dem Schweizer Presserat. Der Artikel nehme Bezug auf die laufende Strafuntersuchung, verkenne jedoch, dass sie selbst wegen des laufenden Verfahrens keine Angaben habe machen können und respektiere so ihre Privatsphäre nicht. Zudem unterschlage «watson» die wichtigen Dokumente, Bilder, Töne, Quellen des Stalkings und Cybermobbings.

Für den Presserat ist es auch bei einem laufenden Strafverfahren nicht zu beanstanden, wenn darauf hingewiesen wird, dass ein solches Verfahren eingeleitet worden sei. Die Userin habe gegenüber «watson» ausdrücklich darauf verzichtet, ihre eigene Sachdarstellung beizutragen. In Ordnung ist für den Presserat auch, dass sich «watson» bei der Informationsbeschaffung einerseits der Aussagen des twitternden Journalisten, andererseits des Posts der Userin in Facebook bediente. Die Userin hatte in Facebook selbst über die Löschung ihres Twitter-Accounts und die Gründe hierfür berichtet, weshalb der Presserat auch keine Verletzung ihrer Privatsphäre erkannte. Zudem war für ihn mangels genauerer Bezeichnung auch nicht erkennbar, worin die unterschlagenen Dokumente bestanden haben sollen. Der Presserat wies die Beschwerde ab.

Résumé

Après qu’une utilisatrice de Twitter ait supprimé son compte et annoncé qu’elle engagerait une procédure judiciaire parce que son véritable nom avait été rendu public sur Twitter, le portail Internet «watson.ch» a publié un article dont le titre laissait entendre que l’utilisatrice aurait cédé sous la pression du harcèlement («Userin weggemobbt: Die Twitter-Schweiz hat den grössten Shitstorm ihrer Geschichte»). Selon l’article, des centaines de personnes auraient exprimé leur solidarité avec cette utilisatrice de Twitter et condamné le harcèlement sur le web. La raison de la suppression du compte sur Twitter aurait apparemment été le tweet d’un journaliste dans lequel le nom de l’utilisatrice apparaissait.

L’utilisatrice a déposé une plainte contre cet article auprès du Conseil suisse de la presse. Elle arguait que l’article se référait à l’enquête pénale en cours, mais ne tenait pas compte du fait qu’elle-même ne pouvait pas donner d’informations en raison de la procédure en cours et ne respectait ainsi pas sa sphère privée. De plus, «watson» aurait ignoré les documents importants, les images, les documents sonores, les sources du harcèlement et de l’intimidation sur le web.

Le Conseil de la presse estime que le fait de mentionner qu’une procédure pénale a été ouverte n’est pas répréhensible, même si cette procédure est en cours. L’utilisatrice a renoncé explicitement à présenter sa propre version des faits envers «watson». Le Conseil de la presse trouve aussi correct le fait que «watson» ait utilisé comme source d’information d’une part les déclarations du journaliste sur Twitter et d’autre part le message de l’utilisatrice sur Facebook. Cette dernière avait en effet raconté elle-même la suppression de son compte Twitter ainsi que les raisons ayant conduit à ce geste sur Facebook. Par conséquent, le Conseil de la presse a jugé que sa sphère privée n’avait pas été violée. Par manque d’indications précises, il n’a, en outre, pas été en mesure de déterminer quels documents avaient été ignorés par le site d’information. Le Conseil de la presse a rejeté la plainte.

Riassunto

È accaduto che una utente, dopo aver cancellato il proprio account su Twitter e minacciato querele perché il suo nome era stato reso di pubblico dominio, è stata citata dal portale internet «watson.ch» con una notizia dal titolo: «Molestie a una utente: la Svizzera di Twitter conosce la peggiore smerdata (shitstorm) della sua storia». La pubblicazione le avrebbe procurato centinaia di messaggi di solidarietà e di condanna del cybermobbing. All’origine della rivelazione del nome sarebbe stato un giornalista.

Al Consiglio della stampa la utente si è rivolta per denunciare la pubblicazione di «watson». Denuncia che ritiene lesiva della sua sfera privata perché dà notizia di un procedimento penale sul cui svolgimento essa era tenuta al segreto. Inoltre il portale ometteva di citare tutta una serie di documenti, immagini, suoni a prova delle molestie cui era stata sottoposta.

Respingendo il reclamo, il Consiglio osserva di non considerare illecito menzionare l’esistenza di un procedimento penale in corso. D’altra parte, la stessa utente aveva rinunciato a far valere, a «watson» che glielo proponeva, le sue ragioni. Ritiene pure corretto che «watson» abbia usato informazioni provenienti dal giornalista in questione, nonché le spiegazioni che la utente aveva postato su Facebook. Lei stessa, su Facebook, aveva descritto i motivi che l’avevano indotta a cancellare il suo account presso Twitter. Non è data perciò una violazione della sfera privata.  Non risulta chiaro inoltre al Consiglio in che misura i documenti che si dicono taciuti abbiano avuto importanza nella faccenda.  


I. Sachverhalt


A.
Am 3. Januar 2015 veröffentlichte das Internet-Portal «watson.ch» einen Bericht mit dem Titel «Userin weggemobbt: Die Twitter-Schweiz hat den grössten Shitstorm ihrer Geschichte». Der Untertitel informierte darüber, dass eine langjährige Userin ihren Account gelöscht habe und rechtliche Schritte einleite, nachdem ihr echter Name in Twitter veröffentlicht worden sei. «Gegen ihren Widersacher tobt ein Shitstorm – er wehrt sich gegen die Vorwürfe.» Der knappe Bericht von Roman Rey besagt, es sei ein Aufschrei durch die Community gegangen, als «eine der aktivsten und bekanntesten Userinnen mit dem Pseudonym Zora Debrunner ihren Account löschte – weil sie nach eigenen Angaben gemobbt wurde». Hunderte User hätten ihre Solidarität bekundet und sich gegen Cybermobbing ausgesprochen. Zora Debrunner habe auf Facebook Stellung genommen und ihr Statement sei von Luca Strebel auf Twitter veröffentlicht worden. Es sei über 100 Mal weiterverbreitet worden. Es folgte im Bericht ein Screenshot dieses Beitrags von Zora Debrunner, in welchem sie berichtet, sie habe ihren Twitter-Account gelöscht, nachdem sie seit zwei Jahren von einem Journalisten gemobbt werde, der an diesem Tag ihren bürgerlichen Namen veröffentlicht habe. Sie habe eine Anzeige gemacht.

Weiter schrieb Rey, der Auslöser sei offenbar ein Tweet des Journalisten Andreas Gossweiler gewesen, der den bürgerlichen Namen von Zora Debrunner offenbart habe. «Dieser Eskalation ging ein langer Streit zwischen den beiden voran.» Gossweiler habe seinen Tweet auf Anfrage von «watson» damit gerechtfertigt, der richtige Name von Debrunner könne ohne Probleme durch eine Google-Suche gefunden werden und es sei absurd zu behaupten, er habe sie geoutet. Er, Gossweiler, sei in Debatten mit «nationalkonservativ gesinnten Twittern» (zu denen er auch Debrunner zähle) immer wieder beschimpft worden. Debrunner habe ihn etwa als «Arschloch» oder «Pickel auf der Nase» bezeichnet. Gossweiler wird ferner mit der Aussage zitiert, der
Gebrauch eines Pseudonyms senke die Hemmschwelle, um solches Vokabular zu gebrauchen. Er würde deshalb eine Klarnamenpflicht bei Twitter sehr begrüssen.

Gossweiler habe «watson.ch» gegenüber das Statement von Debrunner als Schmähschrift bezeichnet. Ihre Vorwürfe seien unzutreffend und ehrverletzend.

Auf Gossweilers Tweet sei ein «Shitstorm» gefolgt, wie sich Journalist Rey ausdrückt. Laura Curau habe als erste einen Hashtag #WeWantZoraBack# veröffentlicht, der innert kurzer Zeit 600 Mal verwendet worden sei. Eine Mehrheit der User habe sich empört gezeigt, viele hätten Konsequenzen für Gossweiler gefordert. Der habe «watson» gegenüber geäussert, er habe eine schlaflose Nacht gehabt und bedaure, dass die Dinge diesen Verlauf genommen hätten und er werde sich künftig der Auseinandersetzung mit nationalkonservativen Kräften enthalten. Gemäss «watson.ch» sei Gossweiler kein unbeschriebenes Blatt: Er habe vor Jahren unter einem Pseudonym vehement für seinen Berufsstand gekämpft.

Zora Debrunner habe sich «watson» gegenüber nicht zur Angelegenheit nicht äussern wollen. Ihrem Statement sei zu entnehmen, dass sie rechtliche Schritte eingereicht habe.

In der Berichterstattung folgt schliesslich eine «Auswahl an Tweets».

B. Gegen diese Berichterstattung führt X. am 6. Januar 2015 Beschwerde an den Presserat. Sie macht geltend, die Beschwerdegegnerin
a.    nehme Bezug auf die laufende Strafuntersuchung, ohne die diesbezüglichen Vorschriften einzuhalten;
b.    stelle das Stalkingopfer auf dieselbe Stufe wie den Stalker …
c.    … weshalb der Stalker im Artikel sein Cybermobbing ohne Darstellungsmöglichkeit der Beschwerdeführerin fortsetzen könne;
d.    unterschlage die wichtigen Dokumente, Bilder, Töne, Quellen des Stalkings und Cybermobbings und …
e.    entstelle die Tatsachen während des laufenden Strafverfahrens;
f.    bediene sich bei der Informationsbeschaffung lediglich der Verlautbarung des angezeigten Stalkers und des Facebookstatus der Beschwerdeführerin;
g.    verkenne, dass die Beschwerdeführerin mit Hinweis auf das laufende Verfahren keine Angaben habe machen können;
h.    lasse mit dem Satz «Gegen ihren Widersacher tobt ein Shitstorm – er wehrt sich gegen die Vorwürfe» die Sache so erscheinen, als sei die Beschwerdeführerin die Täterin;
i.    respektiere die Privatsphäre der Beschwerdeführerin nicht, die sich zum laufenden Verfahren nicht äussern könne;
j.    zitiere ungeprüft die Aussagen von Gossweiler;
k.    habe dem Leid der Beschwerdeführerin nicht genügend Rechnung getragen;
l.    habe die Menschenwürde der Beschwerdeführerin massiv verletzt.

C. In seiner Beschwerdeantwort vom 10. April 2015 macht «watson.ch»-Chefredaktor Hansi Voigt geltend,
– es gebe kein grundsätzliches Berichts- oder Schreibverbot während eines laufenden Verfahrens;
– der Artikel gehe in seiner Wertung zu Gunsten der Beschwerdeführerin sehr weit;
– die Äusserung von Debrunner sei wörtlich wiedergegeben worden; die Äusserungen von Gossweiler seien deutlich als Zitate gekennzeichnet; es gebe keine journalistische Pflicht, die Zitate von Gossweiler (Arschloch, Pickel auf der Nase) auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Insgesamt beantragt die Beschwerdegegnerin deshalb, auf die Beschwerde nicht einzutreten.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried angehören. Matthias Halbeis tritt von sich aus in den Ausstand.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 27. August 2015 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

Der Presserat kommt zum Schluss, dass die in ihren medienrechtlichen Vorwürfen sehr allgemein gehaltene Beschwerde vollumfänglich abzuweisen sei, weil
a.    es auch bei einem laufenden Strafverfahren nicht zu beanstanden ist, wenn auf die Tatsache selbst hingewiesen wird, dass ein solches Verfahren (nach Angaben der Beschwerdeführerin) eingeleitet worden sei;
b.    der beanstandete Artikel das angebliche Stalkingopfer keineswegs auf dieselbe Stufe wie den angeblichen Stalker stellt, sondern deutlich mehr Empathie für die Beschwerdeführerin zum Ausdruck bringt; im Übrigen aber keine journalistische Pflicht besteht, sich mit der einen oder anderen Seite eines beschriebenen Konfliktes zu solidarisieren;
c.    nicht zu erkennen ist, inwiefern «watson» dem angeblichen Stalker eine Plattform geboten habe, sein «Cybermobbing» weiterzuführen und weil nicht ersichtlich ist, was die Beschwerdeführerin daran hinderte, ihre eigene Sachdarstellung beizutragen, worauf sie, wie die Beschwerdegegnerin festhält, ausdrücklich verzichtete;
d.    die Beschwerdeführerin es unterlässt, zu erklären, welche wichtigen Dokumente, Bilder, Töne, Quellen des Stalkings und Cybermobbings der Artikel unterschlagen habe und es auch für den Presserat nicht erkennbar ist, worin diese Dokumente bestanden haben sollten;
e.    die Beschwerdeführerin es unterlässt, auszuführen, welche Tatsachen während des laufenden Strafverfahrens der Artikel unterschlagen habe;
f.    nicht zu beanstanden ist, dass sich «watson» bei der Informationsbeschaffung einerseits der Aussagen von Gossweiler und andererseits des Posts der Beschwerdeführerin in Facebook bediente; die Beschwerdeführerin hätte dem ihre eigene Stellungnahme hinzufügen können, hat darauf aber ausdrücklich verzichtet;
g.    die Beschwerdeführerin sehr wohl «watson.ch» gegenüber mit der gebotenen Zurückhaltung hätte Stellung nehmen können;
h.    der Satz «Gegen ihren Widersacher tobt ein Shitstorm – er wehrt sich gegen die Vorwürfe» die Tatsachen zutreffend wiedergibt;
i.    nicht zu erkennen ist, inwiefern der Artikel die Privatsphäre der Beschwerdeführerin verletze, die in Facebook selbst über die Löschung ihres Twitter-Accounts und die Gründe hierfür berichtet hatte;
j.    nicht zu erkennen ist, welche Aussagen von Gossweiler ungeprüft übernommen worden seien; der Artikel hat im Gegenteil die Aussagen von Gossweiler als solche gekennzeichnet;
k.    es nicht zur journalistischen Pflicht von «watson» gehört, dem Leid der Beschwerdeführerin Rechnung zu tragen;
l.    es Zora Debrunner unterlässt, auszuführen, womit ihre Menschenwürde verletzt worden sei.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie eingetreten wird.

2. «watson.ch» hat bei seiner Berichterstattung über die Internet-medialen Vorgänge um die Löschung des Twitter-Accounts der Beschwerdeführerin keinerlei journalistische Pflichten verletzt.