Nr. 55/2012
Wahrheits- und Berichtigungspflicht / Entstellung von Tatsachen / Trennung von Fakten und Kommentar / Diskriminierung

(X./Y. c. «news.ch») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 12. September 2012

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Zusammenfassung

Car-Unglück von Sierre: Beschwerden gegen Stämpfli-Polemik abgewiesen

Hat das Internetportal «News.ch» mit der Kolumne «Belgisation: Weshalb Unglücke auch politisch sind» der Politologin Regula Stämpfli den belgischen Staat oder das belgische Volk diskriminiert und Tatsachen entstellt? Nein, sagt der Schweizer Presserat in seinem Entscheid zu einer Reihe von Beschwerden. Die Kritik richte sich nicht gegen die Belgierinnen und Belgier im Allgemeinen. Und Kolumnistinnen dürften sich übertrieben und polemisch äussern.

«News.ch» veröffentlichte die provozierende Kolumne bereits kurz nach dem Car-Unglück, bei dem viele belgische Kinder starben. Stämpli stellt darin die These auf, es sei kein Zufall, dass es sich um einen belgischen Car handle und sie begründet ihre Behauptung mit mehreren Beispielen. Die Kolumne löste unter anderem eine Protestwelle auf Facebook und mehrere Beschwerden an den Presserat aus. Stämpfli stelle in diskriminierender Weise Zusammenhänge zwischen dem Car-Unglück und dem belgischen Staat und Volk her. Und sie begründe dies mit Unwahrheiten. Weder seien belgische Reisebusse auf Drittweltniveau, noch treffe es zu, dass Belgien anderthalb Jahre keine Regierung gehabt habe, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Abenteuerlich sei es schliesslich, einen Zusammenhang zum Fall des Kindermörders Dutroux herzustellen. «News.ch» entgegnete, Kolumnisten äusserten ihre persönliche Meinung. Die faktischen Grundlagen der kommentierenden Wertungen Stämpflis seien belegt.

Der Presserat erinnert in seiner Stellungnahme daran, dass Redaktionen bei Kolumnen lediglich dann redigierend eingreifen müssen, wenn berufsethische Normen offensichtlich verletzt sind. Bei der Kolumne von Regula Stämpfli habe keine Gefahr bestanden, dass die Leserschaft durch die übertriebenen Behauptungen und Metaphern getäuscht werde. Und eine Diskriminierung sei deshalb zu verneinen, weil sich die Kritik der Kolumnistin nicht gegen die Belgier im Allgemeinen, sondern an den Staat Belgien, an die Verantwortungsträger in Verwaltung und Justiz sowie an die Politiker richte.

Résumé

Accident d’autocar à Sierre: plaintes contre une «Tribune libre»

Le portail internet «news.ch», en publiant une «Tribune libre» de la politologue Regula Stämpfli, intitulée «Belgisation: pourquoi des accidents sont également politiques», a-t-il discriminé l’Etat belge ou le peuple belge et déformé les faits? Non, déclare le Conseil suisse de la presse en prenant position sur une série de plaintes. La critique ne s’adressait pas aux Belges dans leur ensemble. Les auteurs de telles rubriques peuvent s’exprimer de façon excessive et polémique.

«News.ch» publie le texte polémique peu après l’accident de l’autocar. Stämpfli y défend la thèse que ce n’est pas un hasard s’il s’agissait d’un car belge, thèse qu’elle étaye par différents exemples. L’article déclenche une vague de protestations notamment sur Facebook et des plaintes auprès du Conseil de la presse. Pour les plaignants Stämpfli fait un lien discriminatoire entre l’accident de car et l’Etat et le peuple belge, en se fondant sur des contre vérités. Les autocars belges ne sont pas du niveau de ceux du tiers monde et il n’est pas vrai non plus que pendant une année et demie la Belgique était sans gouvernement sans que personne ne s’en aperçoive. Ils trouvent par ailleurs hors de propos d’établir un lien avec le cas «Dutroux». «News.ch» réplique que dans ce genre de rubriques les auteurs donnent leur propre opinion. Quant aux faits à l’origine des commentaires de Stämpfli ils sont avérés.

Dans sa prise de position, le Conseil de la presse rappelle que les rédactions ne doivent intervenir sur des textes d’auteurs invités que si ceux-ci contiennent des violations manifestes des normes déontologiques. Dans le texte de Regula Stämpfli il n’y avait pas de risque de voir les lecteurs et lectrices trompés par les exagérations et les métaphores utilisées. Il n’y a pas eu discrimination, la critique de l’auteur ne visant pas les Belges dans leur ensemble, mais l’Etat belge, les responsables dans l’administration et la justice, ainsi que le monde politique.

Riassunto

L’incidente di Sierre: reclamo respinto contro un commento

Il portale «news.ch» a pubblicato un commento della politologa Regula Stämpfli dopo l’incidente di Sierre, dal titolo «Belgisation: anche un incidente può essere politico». Commento discriminatorio nei confronti di uno Stato estero, deformazione della verità? Il Consiglio della stampa respinta i reclami presentato da vari cittadini. La critica non è rivolta ai belgi in generale; quanto all’esagerazione e alla polemica, sono parte della libertà di commento.

La nota su «news.ch» è uscita subito dopo la sciagura di Sierre. Sosteneva che non si è trattato di pura fatalità: vi avevano concorso il fatto che il torpedone fosse belga e  altre circostanze citate dall’autrice a sostegno della sua tesi. Il commento a subito sollevato un’ondata di proteste su Facebook. Molte persone si sono rivolte al Consiglio della stampa, sostenendo che mettere in rapporto l’incidente con lo Stato e il popolo belga costituisce una discriminazione, in più sostenuta da un’errata ricostruzione dei fatti. Il torpedone belga non sarebbe stato affatto di terz’ordine e che il Belgio fosse da un anno e mezzo senza governo non aveva alcun rapporto con l’evento. Ancora più odioso, infine, un accenno al «caso Dutroux». «news.ch» osserva che si trattava di opinioni personali dell’autrice: i fatti citati a sostegno della tesi, d’altra parte, corrisponderebbero al vero.

I. Sachverhalt

A. Am 14. März 2012 veröffentlichte die Website «news.ch» eine Kolumne der Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli mit dem Titel: «Belgisation: weshalb Unglücke auch politisch sind». Bereits im Lead betont die Autorin, es erstaune sie nicht, dass es sich beim Car-Unglück im Wallis, bei dem 28 Menschen, vor allem Kinder, starben, um einen belgischen Car handelt – «mit Betonung auf belgischer». Und sie fügt sogleich an: «Die Frage ist nun: Was hat das mit Belgien zu tun? Weshalb sage ich: ‹Typisch, ein belgischer Reisebus?› Das ist unwissenschaftlich, rassistisch, spontan verständlich, aber politisch nicht korrekt. Wirklich?»

Die Kolumnistin untermauert ihre These mit dem Argument, Verkehrsunfälle seien nicht auf individuelles Versagen zurückzuführen, sondern auch strukturell bedingt. «Die Ausbildung, die Kontrolle, die Fahrtechniken, die Ausstattung der Reisebusse sind in Belgien auf dem Niveau eines Drittweltlandes.» Und sie fährt fort: «Stellen sie sich vor: Belgien hatte anderthalb Jahre keine Regierung und niemand merkte es.» Und ausgehend vom Begriff «Bruxellisation», den Stadtplaner brauchten, um eine Stadtplanung zu bezeichnen, bei der man «alles falsch macht, was man in einer Stadt falsch machen kann», schlägt Regula Stämpfli vor, für die europäische Verkehrsinfrastruktur den Begriff «Belgisation» einzuführen. Dies «um festzuhalten, dass aus einem Land, in welchem alles möglich ist und nie auch nur ein einziger Verantwortlicher seine Strafe absitzen muss (…) nichts wirklich Gutes kommen kann ausser der Schokolade, Moules et Frites sowie ein gewisser surrealer Humor. Deshalb darf ich wirklich und real rufen: ‹Typisch. Ein belgischer Reisebusfahrer› ohne die Pauke der politisch Korrekten über meinen Kopf geschlagen zu kriegen. Denn dieses ‹typisch› verweist auf
die Verantwortung der Politik und der Politiker, statt immer die einzelnen Menschen zu prügeln.»

Die Kolumne schliesst mit folgendem «PS» ab: «Ein belgischer Zusammenhang, der übrigens nie vergessen werden sollte: Der Richter, welcher den Kindervergewaltiger und -mörder Dutroux bei lebenslänglich nach ein paar Monaten in den 1990ern begnadigte und freiliess, wurde von der europäischen Kommission und dem europäischen Parlament wenig später zum europäischen Richter befördert. Vive la Belgique!»

Illustriert ist die Kolumne mit einem Bild des verunglückten belgischen Reisebusses. Die Bildlegende lautet: «Verunglückter belgischer Reisebus: Inoffiziell auf Drittweltniveau».

B. Am 19. März 2012 reichte X. beim Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen die Kolumne von Regula Stämpfli ein. Die Autorin stelle in «verunglimpfender, unethischer Weise» Zusammenhänge zwischen dem tragischen Unfall und der belgischen Politik und dem belgischen Volk her. Insbesondere das «PS», das einen abenteuerlichen Bogen vom Carunglück zum «Fall Dutroux» ziehe, schlage dem «Fass den Boden» aus. Mit ihrem Text verletze die Kolumnistin die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierung).

C. Am 2. April 2012 wandte sich auch Y. mit einer Beschwerde an den Presserat und beanstandete, die Kolumne von Regula Stämpfli verletze die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Entstellung von Informationen), 5 (Berichtigung) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung».

Als Belgierin habe sie fast gleichzeitig vom schockierenden Unglück und vom Text von Regula Stämpfli Kenntnis genommen. Neben einigen sinnvollen Überlegungen zu den strukturellen und politischen Hintergründen von Unfällen verbleibe ein Artikel mit «populistischen Argumentationstechniken und rassistischem Unterton».

Als unwahr und die Tatsachen entstellend rügt die Beschwerdeführerin folgende Passagen der Kolumne:

– «Verunglückter belgischer Reisebus: Inoffiziell auf Drittweltniveau»;
– «Stellen sie sich vor: Belgien hatte anderthalb Jahre keine Regierung und niemand merkte es»;
– «PS: Ein belgischer Zusammenhang, der übrigens nie vergessen werden sollte: Der Richter, welcher den Kindervergewaltiger und -mörder Dutroux bei lebenslänglich nach ein paar Monaten in den 1990ern begnadigte und freiliess, wurde von der europäischen Kommission und dem europäischen Parlament wenig später zum europäischen Richter befördert. Vive la Belgique!»

Unter dem Gesichtspunkt der Berichtigungspflicht rügt Y., dass der Text ungeachtet dieser Fehler unverändert auf news.ch abrufbar sei.

Eine Verletzung der gebotenen Trennung von Fakten und Kommentar sieht die Beschwerdeführerin in der Bildlegende unter dem Foto des verunglückten Busses («Verunglückter belgischer Reisebus: Inoffiziell auf Drittweltniveau») sowie im «PS» der Kolumne, in welchem die Autorin ihren Kommentar zudem mit unwahren Fakten vermische.

Der Artikel lasse die unmittelbar nach dem Unfall angebrachte Respektierung der Menschenwürde der Opfer vermissen und diskriminiere den Staat Belgien und seine Bevölkerung durch Aussagen wie «Ein belgischer Reisebus – mit Betonung auf belgischer»; «typisch, ein belgischer Reisebus», «Die Ausbildung, die Kontrolle, die Fahrtechniken sind in Belgien auf dem Niveau eines Drittweltlandes und drunter», den Begriff «Belgisation» sowie den Abschnitt zum «Fall Dutroux».

D. Im März und April 2012 wandten sich zahlreiche weitere Personen aus der Schweiz, Belgien und Luxemburg – zum Teil Mitglieder eine Facebook-Gruppe «Anti Dr. Regula Stämpfli» – mit teils vorformulierten, inhaltlich gleichlautenden Beschwerden an den Presserat.

E. Am 10. und 24. April 2012 wies die durch den Redaktionsleiter Adeo Bertozzi  und Herausgeber Till Bannwart vertretene Redaktion von «news.ch» die Beschwerden von X. und Y. als unbegründet zurück.

Regula Stämpfli sei als Mutter von drei Kindern über das Unglück im Wallis entsetzt gewesen. Sie habe sich gleichzeitig aber Gedanken über die «Struktur solcher Unglücksfälle» gemacht, die eben oft keine Schicksalsschläge seien, sondern auf die ungenügende Durchsetzung der geltenden Rechtsnormen zurückzuführen seien. Kolumnisten äusserten im Übrigen ihre persönliche Meinung. Redaktion und Herausgeber stünden allerdings hinter der Publikation des Textes.

Beim Vorwurf Stämpflis hinsichtlich der belgischen Reisebusse habe die Autorin ihre persönlichen Erfahrungen einfliessen lassen. Sie habe bloss gesagt, die Branche befinde sich «inoffiziell» auf Drittweltniveau. Belgien halte zudem anerkanntermassen den «Weltrekord eines Landes ohne Regierung». Marc Dutroux sei 1992 tatsächlich vom ehemaligen Justizminister Melchior Wathelet überraschend begnadigt worden. Wathelet sei später zum Richter des Europäischen Gerichtshof ernannt und 2004 trotz heftiger Proteste wiedergewählt worden.

Die in der beanstandeten Kolumne enthaltenen Fakten hielten somit einer Überprüfung stand. Ebenso wenig enthalte der Text diskriminierende Anspielungen und auch die Menschenwürde werde in keiner Weise verletzt.

Regula Stämpfli könne sich seit der Publikation ihrer Kolumne in Belgien wegen Morddrohungen kaum mehr frei bewegen – und dies bloss wegen einer pointierten Stellungnahme.

F. Der Presserat wies die Beschwerden der 3. Kammer zu, der Max Trossmann als Präsident, Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried angehören.

G. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerden an ihrer Sitzung vom 12. September 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerden gegen die Kolumne «Belgisation: weshalb Unglücke auch politisch sind» richten sich gegen Regula Stämpfli. Die Verantwortung für die Veröffentlichung von Kolumnen liegt jedoch bei den Redaktionen und nicht bei den Autoren. Die Beschwerden sind entsprechend als solche gegen die Redaktion von «news.ch» zu behandeln (vgl. dazu zuletzt die Stellungnahme 70/2011).

2. Gemäss der Praxis des Presserates gilt für Kolumnen ähnlich wie bei Leserbriefen (vgl. dazu die Richtlinie 5.2 zur «Erklärung») ein eingeschränkter Prüfungsmassstab. Danach müssen Redaktionen bei Kolumnen nur dann redigierend eingreifen, wenn berufsethische Normen in offensichtlicher Weise verletzt sind (Stellungnahmen 17/2001, 6/2011, 32/2012). Entsprechend war die Redaktion von «news.ch» nur dann verpflichtet, redigierend in den Text von Regula Stämpfli einzugreifen oder gegebenenfalls mit der Autorin Rücksprache zu nehmen, wenn sie bei der Prüfung der Kolumne zum Schluss kommen musste, dass diese offensichtlich gegen die «Erklärung» verstösst.

3. a) Es gehört zum Charakter von Kolumnen, dass sie redaktionsexternen Persönlichkeiten die Möglichkeit einräumen, sich zu einem meist freigewählten Thema gegebenenfalls auch in offensichtlich übertriebener und polemischer Weise zu äussern. Gemäss der Praxis des Presserats zur Kommentarfreiheit ist dabei der Meinungsäusserungsfreiheit ein grosses Gewicht einzuräumen. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht oder die Entstellung von Informationen liegt erst dann vor, wenn die Gefahr besteht, dass die Leserschaft durch übertriebene Behauptungen und Metaphern getäuscht wird (Stellungnahme 56/2008).

b) Die von Y. beanstandete Bildlegende «Verunglückter belgischer Reisebus: Inoffiziell auf Drittweltniveau» ist für die Leserschaft als kommentierende, bildhafte Bewertung des Zustands der Reisebusbranche in Belgien erkennbar. Bereits das Bild des (modernen) Unfallbusses legt nahe, dass die Metapher «Drittweltniveau» kaum wörtlich zu versteh
en ist. In Bezug auf die faktischen Grundlagen dieser Kritik kann der Presserat zwar nicht beurteilen, inwieweit die Kritik Stämpflis an der belgischen «Reisebus-Lobby» sachlich zutrifft. Er stellt gestützt auf die ihm vorliegenden Unterlagen aber fest, dass die Beschwerdeführerin weder schlüssige Argumente vorbringt oder gar Belege eingereicht hat, die zu begründen vermöchten, dass die von Regula Stämpfli kritisierte Diskrepanz zwischen «Papier» und Realität jeglicher sachlichen Grundlage entbehren würde.

c) Ebenso wenig sieht der Presserat eine Täuschungsgefahr beim Satz «Stellen sie sich vor: Belgien hatte anderthalb Jahre keine Regierung und niemand merkte es». Dass Belgien bis Ende 2011 während 520 Tagen nicht von einer offiziell gewählten, sondern von einer geschäftsführenden Regierung regiert wurde ist unbestritten. Die Verkürzung zur Aussage, Belgien habe in dieser Zeit «keine Regierung» gehabt, ist journalistisch zulässig. Ebenso bewegt sich die kommentierende Wertung, niemand habe dies gemerkt, es habe also nicht schlechter als mit einer gewählten Regierung funktioniert, offensichtlich im weiten Rahmen der zulässigen Kommentierung.

d) Hingegen kann man sich durchaus fragen, ob es in einem polemischen Rundumschlag gegen die belgische Politik und ihre Institutionen auch noch notwendig/sinnvoll war, den «Fall Dutroux» zur «Beweisführung» heranzuziehen. Ungeachtet davon, ob man das Beispiel für passend hält oder nicht, bewegt sich die Autorin aber auch hier innerhalb der Kommentarfreiheit, zumal sie auch hier die wesentlichen faktischen Grundlagen ihrer Kritik offenlegt.

e) Nachdem die Kolumne weder in offensichtlicher Weise die Wahrheitspflicht verletzt noch Informationen entstellt, war «news.ch» auch nicht zu einer Berichtigung verpflichtet.

4. Die Richtlinie 2.3 zur «Erklärung» verlangt von den Journalistinnen und Journalisten, darauf zu achten, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann. Gemäss der Praxis des Presserats zu dieser Bestimmung ist dafür keine formale Trennung von Informationen und kommentierenden Wertungen erforderlich. Bereits die Form des Textes der Kolumne bereitet die Leserinnen und Leser darauf vor, dass sie eine subjektive Bewertung von Ereignissen zu erwarten haben. Der zweite Teil der Bildlegende «Verunglückter belgischer Reisebus: Inoffiziell auf Drittweltniveau» ist dabei – wie bereits ausgeführt – für die Leserschaft als provokative Metapher erkennbar. Und auch beim «PS» machen die Einleitung («Ein belgischer Zusammenhang, der übrigens nie vergessen werden sollte») und der Ausruf am Schluss («Vive la Belgique!») klar, dass die Autorin mit diesem Beispiel polemisiert und provoziert.

5. a) Ziffer 8 der «Erklärung» lautet: «Sie (die Journalistinnen und Journalisten) respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben.» Die Richtlinie 8.2 zur «Erklärung» verdeutlicht dazu, dass diskriminierende Anspielungen bestehende Vorurteile gegen Minderheiten verstärken können.

Nach der Praxis des Presserates zum Diskriminierungsverbot ist eine Anspielung diskriminierend, wenn in einem Medienbericht durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen einer geschützten Gruppe beeinträchtigt, die Gruppe kollektiv herabgewürdigt wird. In der Stellungnahme 21/2001 empfahl der Presserat, bei jeder Aussage «kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird». Die abwertende Äusserung gegen eine Gruppe oder ein Individuum muss allerdings eine Mindestintensität erreichen, um als herabwürdigend oder diskriminierend zu gelten (vgl. unter vielen die Stellungnahme 22/2011).

b) Bei der Kolumne von Regula Stämpfli erscheint es aus zwei Gründen von vornherein fraglich, ob die Ziffer 8 der «Erklärung» überhaupt anwendbar ist. Die Kritik der Kolumnistin richtet sich nicht gegen die Belgierinnen und Belgier im Allgemeinen, sondern an den Staat Belgien, an die Verantwortungsträger in Verwaltung und Justiz sowie an die Politikerinnen und Politiker. Zudem richtet sich die Polemik nicht gegen eine zu schützende Minderheit. Hinzu kommt, dass der Presserat bei der Verbreitung polemischer, klischeehafter Äusserungen in vergleichbaren Fällen (Stellungnahme 11/2004 – Walliser; 16/2007 – Rätoromanen; 57/2011 und 21/2012 – Deutsche) stets darauf hingewiesen hat, dass selbst ein verletzendes Pamphlet mit der Kommentarfreiheit vereinbar ist, sofern die Fakten, auf welche die umstrittenen Wertungen abstellen, für die Leserschaft erkennbar sind und nicht auf sachlich ungerechtfertigten Anschuldigungen beruhen. Wie in den Erwägungen 3 und 4 ausgeführt, sind diese Voraussetzungen nach Auffassung des Presserats vorliegend erfüllt.

c) Ebenso wenig sieht der Presserat eine Verletzung der Menschenwürde im Sinne der Richtlinien 8.1 oder 8.3 (Opferschutz) zur «Erklärung», zumal die umstrittene Kolumne weder auf die konkreten Umstände des Unfalls, die Opfer noch auf die Angehörigen eingeht. Den Beschwerdeführern ist zwar zuzugestehen, dass es nicht von besonderem Fingerspitzengefühl zeugt, die Frage nach den (politisch) Verantwortlichen zu stellen, noch bevor der erste Schock und die Trauer verarbeitet sowie die Unfallursachen geklärt sind. Diese vertretbare Kritik am Zeitpunkt der Publikation der Kolumne steht allerdings in keinem Verhältnis zu den zum Teil unhaltbaren Reaktionen und Repressalien, mit denen Regula Stämpfli nach der Publikation des Textes eingedeckt wurde.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «news.ch» hat mit der Veröffentlichung der Kolumne «Belgisation: weshalb Unglücke auch politisch sind» der Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli vom 14. März 2012 die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Entstellung von Tatsachen), 5 (Berichtigung) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.