Nr. 16/2005
Wahrheits- und Berichtigungspflicht / anonyme Anschuldigungen / Respektierung der Menschenwürde / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Hämmerle / Fehr / Marti c. «Facts») Stellungnahme des Presserates vom 28. April 2005

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I. Sachverhalt

A. Am 16. Dezember 2004 veröffentlichte «Facts» in der Rubrik «Aperçu» einen kurzen Text zum laut anonymen Informanten gespannten Klima in der SP-Fraktion im Berner Bundeshaus. Der Titel lautete: «Terror-Alarm bei den Sozialdemokraten». Laut der Meldung würden «mehrere Parlamentarier, darunter prominente Namen», ihren Fraktionskollegen Andrea Hämmerle, Werner Marti und Jacqueline Fehr «zunehmenden Gesinnungsterror» vorwerfen. «Unter den sozialdemokratischen National- und Ständeräten kursiert bereits die Bezeichnung „Taliban-Grüppchen“». Die drei seien schon mehrmals mit ihren Machtgelüsten gescheitert, jetzt versuchten sie dafür in penetranter Weise, die Partei auf ihre Linie zu bringen. Deshalb habe inzwischen niemand mehr Lust, mit ihnen in einer Kommission zu sitzen. Der Text endet wie folgt: «Wahr, oder einfach das übliche Gehacke bei den Sozis? Tatsache ist zumindest: Sowohl Marti als auch Hämmerle wollten einmal das Präsidium der SP übernehmen. Beide scheiterten.»

B. Andrea Hämmerle, Jacqueline Fehr und Werner Marti gelangten am 24. Januar 2005 mit einer Beschwerde an den Presserat. Der von «Facts» veröffentlichte Text beinhalte Unwahrheiten. So sei beispielsweise die Bezeichnung «Taliban-Grüppchen» innerhalb der SP-Fraktion unbekannt. Die Beschwerdeführer würden je in zwei ständigen Kommissionen Einsitz nehmen und hätten dabei nie die geringsten Probleme gehabt. Die von «Facts» veröffentlichten unwahren Behauptungen seien nie richtig gestellt worden, obschon der Leiter des Ressorts Inland, Othmar von Matt, sich für den Artikel gewunden entschuldigt und «halbwegs» in Aussicht gestellt habe, die Fehlleistung in der nächsten Ausgabe zu korrigieren. Dies sei aber nicht geschehen. Zum Jahreswechsel hätten die Beschwerdeführer, Fraktionschefin Hildegard Fässler sowie Parteipräsident Hansjörg Fehr handgeschriebene Karten erhalten, in denen Othmar von Matt bedauerte, dass sich die Beschwerdeführer durch das von «Facts» veröffentlichte «Aperçu» in ihrer Integrität und Würde verletzt gefühlt hätten. Damit habe die Zeitschrift ihrer Berichtigungspflicht aber nicht Genüge getan. «Facts» habe mit seiner Veröffentlichung zudem die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 7 (Verbot der Veröffentlichung anonymer Anschuldigungen) sowie 8 (Respektierung der Menschenwürde; Verzicht auf diskriminierende Anspielungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Angesichts der schweren, diskriminierenden Vorwürfe wäre zudem auch eine Anhörung zwingend gewesen (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»).

C. Am 28. Februar 2005 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion von «Facts» die Beschwerde als unbegründet zurück. Der beanstandete Text habe sich auf mehrere Informanten gestützt, denen wegen befürchteter Repressalien Vertraulichkeit habe zugesichert werden müssen.

«Facts» habe das Wahrheitsgebot nicht verletzt. Das «Aperçu» vom 16. Dezember 2004 sei ein für die Leserschaft erkennbar satirisch gefärbter Beitrag aus der Kategorie «On dit». Wahrer Kern des Beitrags sei einerseits der Schlusssatz («Tatsache ist zumindest: Sowohl Marti als auch Hämmerle wollten einmal das Präsidium der SP übernehmen. Beide scheiterten»). Wahr sei andererseits auch die Tatsache, dass die drei Parlamentarier innerhalb der SP-Bundeshausfraktion – ironisch gemeint – als «Taliban-Grüppchen» bezeichnet und dass viele SP-Parlamentarier ungern mit den Beschwerdeführern in Kommissionen sitzen würden. «Der Rest sind satirische Überspitzungen, wie etwa die Frage „Wahr oder einfach das übliche Gehacke bei den Sozis?“ deutlich macht».

Eine Berichtigung sei bei satirischen Beiträgen nur schwerlich möglich. Tatsächlich habe Othmar von Matt erklärt, «Facts» prüfe eine Klarstellung. In Absprache mit dem Generalsekretariat der SP sei dann aber darauf verzichtet worden. Die persönlichen Neujahrskorrespondenzen seien nicht als Berichtigung, sondern als Versuch gedacht gewesen, die entstandenen Wogen zu glätten. «Sie enthielten keine Rücknahme von Sachdarstellungen, sondern drückten ein Bedauern aus.»

Die Anonymisierung der Quellen sei geboten und die Vorwürfe bzw. deren wahrer Kern sachlich gerechtfertigt gewesen. Beim beanstandeten Beitrag sei nicht die Spur eines diskriminierenden Gehalts an die Adresse der Beschwerdeführer auszumachen. Die Begriffe «Gesinnungsterror», «Terror-Alarm» oder «Taliban-Grüppchen» seien nicht wörtlich zu nehmen, was der unbefangenen Leserschaft nicht entgangen sei. Unter diesen Umständen seien die gegenüber den drei Nationalräten erhobenen Vorwürfe auch nicht als schwer zu werten. Eine Anhörung gemäss Richtlinie 3.8 war deshalb nach Auffassung von «Facts» nicht zwingend.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 28. April 2005 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Es ist nicht Sache des Presserates, durch ein Beweisverfahren abzuklären, ob umstrittene Aussagen wie «Taliban-Grüppchen» oder «Gesinnungsterror» tatsächlich wie von «Facts» behauptet von mehreren SP-National- und Ständeräten gemacht worden sind oder nicht. Ob «Facts» demnach die Wahrheitspflicht verletzt und zudem nach der Publikation des beanstandeten Beitrags verpflichtet gewesen wäre, materiell unrichtige Fakten zu berichtigen, muss deshalb offen bleiben. Durch den Presserat näher zu prüfen ist hingegen, ob das Nachrichtenmagazin gegen die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und / oder die Ziffern 7 (Veröffentlichung anonymer Anschuldigungen) sowie 8 (Respektierung der Menschenwürde / Diskriminierungsverbot) verstossen hat.

2. Der Presserat hat sich in der Vergangenheit verschiedentlich zur Satire und zur Veröffentlichung von Beiträgen in satirischen und satireähnlichen Rubriken geäussert. Dabei hat er stets betont, dass kein Thema von der Satire ausgenommen ist. Übertreibungen und Verfremdungen sind nicht ausgeschlossen, jedoch müssen die Fakten stimmen, von denen die Satire ausgeht (Stellungnahme 8/96). Die Satire darf nicht nur zuspitzen, sondern auch übertreiben. Sie geht aber immer von einem wahren Kern aus (37/00). Die Pflicht zur Anhörung der Betroffenen vor der Publikation schwerer Vorwürfe gilt auch bei satirischen, ironisierenden Beiträgen oder bei Klatsch-Rubriken (8/98, 10/00).

3. Ausgangspunkt des beanstandeten «Aperçus» («Überblick»; «Ein- oder Seitenblick») zur internen Befindlichkeit der SP-Bundeshausfraktion war das offenbar von den Informanten des Autors geäusserte Unwohlsein einzelner SP-Bundeshausparlamentarier/innen gegenüber den Beschwerdeführern. Der satirische, glossenartige Charakter des Textes ist für die Leserschaft allein schon durch die offensichtlich übertriebene und nicht buchstäblich ernst gemeinte Wortwahl («Terroralarm»; «Talibangrüppchen», «Gesinnungsterror») als solcher zu erkennen. Vorbehältlich der nachfolgenden Erwägungen zur Anhörungspflicht, zur Veröffentlichung anonymer Anschuldigungen und zum Diskriminierungsverbot liegt der Beitrag deshalb grundsätzlich innerhalb des dargelegten berufsethischen Rahmens satirischer und glossierender Beiträge.

4. Gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. «Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht z
ugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.»

Wären die Begriffe «Terroralarm»; «Talibangrüppchen», «Gesinnungsterror» im Wortsinn gemeint und nicht offensichtlich als ironisierende Übertreibungen erkennbar, wäre eine Anhörung unbestrittenermassen zwingend gewesen. Im gegebenen Kontext sind die hinter den erkennbaren Übertreibungen im Raum stehenden faktischen Vorwürfe hingegen nicht als schwer zu werten, zumal sie in einem politischen Umfeld gemacht werden. Der faktische Vorwurf an einen Parlamentarier, zusammen mit Gesinnungsgenossen äusserst hartnäckig für eine den eigenen politischen Wertungen entsprechende möglichst einheitliche Haltung der Parteifraktion einzustehen, wirft kein besonders negatives Licht auf die davon Betroffenen. Eine Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» ist deshalb zu verneinen.

5. Aus den gleichen Überlegungen fällt auch die geltend gemachte Verletzung von Menschenwürde und Diskriminierungsverbot offensichtlich ausser Betracht. Die Beschwerdeführer gehören weder einer durch Ziffer 8 der «Erklärung» geschützten gesellschaftlichen Minderheit an, noch werden sie als individuelle Personen in einem inakzeptablen Mass kritisiert, das als Verunglimpfung oder Herabwürdigung ihres Menschseins zu werten wäre.

6. Zu einem anderen Schluss kommt der Presserat hingegen bei der geltend gemachten Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung». Diese berufsethische Pflicht gebietet den Medienschaffenden grundsätzlich, keine anonymen Anschuldigungen zu veröffentlichen. Die Veröffentlichung von Informationen aus einer ungenannt bleibenden Quelle ist jedoch ausnahmsweise zulässig, wenn im Einzelfall ein überwiegendes Interesse an der Wahrung des Quellenschutzes besteht (5/97). Da die Zusicherung der Anonymität der Quelle jedoch unter Umständen die Möglichkeit bietet, Medienschaffende zu manipulieren, sind diese bei der Überprüfung von vertraulichen Quellen zu besonderer Sorgfalt verpflichtet. Dies gilt insbesondere, wenn eine vertrauliche Quelle Anschuldigungen gegenüber Drittpersonen äussert. Diesfalls sind die Betroffenen vor der Publikation kurz anzuhören und ist ihr Standpunkt kurz wiederzugeben (29/00; siehe auch 20/02 und 60/03).

7. Für den Presserat erscheint es zwar plausibel, dass es ohne die Zusicherung der Vertraulichkeit nicht möglich gewesen wäre, die innerhalb der SP-Fraktion gemäss den Angaben der Informanten geäusserte Kritik an den drei Beschwerdeführern zu veröffentlichen. Auch wenn die Vorwürfe trotz der Wortwahl aufgrund des erkennbar satirischen Kontexts wie ausgeführt nicht stark genug wiegen, um eine Anhörung allein aufgrund ihrer Schwere zwingend erscheinen zu lassen oder gar eine Verletzung der Menschenwürde zu begründen, wäre eine Konktaktnahme mit den Betroffenen vor der Publikation hier trotzdem angebracht gewesen. Denn es ist für die politisch interessierte Öffentlichkeit relevant, wie sich gewählte Politiker/innen innerhalb ihrer Parteien und Fraktionen verhalten. Es wäre deshalb nicht nur den Betroffenen gegenüber fair gewesen, ihnen eine Chance zur Entgegnung auf die Vorwürfe des übertriebenen Dogmatismus, eines übersteigerten Machtanspruchs und der Verursachung parteiinterner Querelen zu geben. Vielmehr wäre es auch aus Sicht des Publikums geboten gewesen, sich nicht auf die satirisch überspitzte Wiedergabe anonym bleibender fraktionsinterner Kritiker zu beschränken, sondern darüber hinaus weitere Stimmen einzuholen; zumindest diejenigen der Beschwerdeführer.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Vor der Veröffentlichung politisch relevanter Vorwürfe aus anonym gehaltener Quelle sind diese zu überprüfen und ist zumindest eine Stellungnahme der Betroffenen einzuholen. Dies gilt selbst dann, wenn die Vorwürfe nicht allzu schwer wiegen und wenn die Veröffentlichung im Rahmen eines satirischen, ironisierenden Beitrags erfolgt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.