Nr. 50/2009
Wahrheit / Unterschlagung wichtiger Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Verwaltungsrat der Spitalverbunde des Kantons St. Gallen c. «Blick») Stellungnahme des Presserates vom 23. September 2009

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 19. Februar 2009 berichtete «Blick» unter dem Titel «Wir haben Angst, dass Alisha stirbt», ein 10 Tage altes Baby liege auf der Intensivstation der Kinderklinik St. Gallen und kämpfe um sein Leben, weil eine Kinderärztin und das Spital Wil eine Lungenentzündung für einen harmlosen Schnupfen gehalten hätten. Die Eltern seien nicht nur schrecklich besorgt, sondern auch zornig. «Denn ihr Kind würde jetzt nicht hier liegen und um sein Leben kämpfen, wäre es rechtzeitig und richtig behandelt worden. ‹Alisha hat schwer geatmet, kaum Luft bekommen und andauernd geschrieen. Aber keiner hat uns ernst genommen. Keiner hat uns geholfen›, schluchzt der Vater.» Angekündigt wurde der Bericht bereits auf der Titelseite («Wegen Pfusch im Spital Wil: Muss dieses Baby sterben?»).

Zuerst hätten die Eltern das kranke Kind zur Kinderärztin nach Wil SG gebracht. Diese habe das Baby kurz abgehört und Entwarnung gegeben. Es habe nur einen Schnupfen. «Am Abend suchte die verzweifelte Mutter dann Hilfe im Wiler Spital. ‹Alisha atmete keuchend, hatte Fieber›, sagt sie. Doch die Pflegekraft in der Notfallstation habe keinen Grund zum Handeln gesehen. ‹Dem Kind geht es gut. Ich habe selbst zwei Kinder. Machen Sie sich keine Sorgen. Das sagte die Krankenschwester zu mir.› (…) Die Klinik in Wil erklärte gestern Abend auf Anfrage von ‹Blick›: ‹Das Kind erschien nicht schwer krank. Die Pflegekraft hat sich die Patientin angeschaut. Und sich dann mit dem zuständigen Assistenzarzt abgesprochen.› Mutter und Baby werden weggeschickt. Der Assistenzarzt sah das Kind nicht mal an. Ein Transport mit Ambulanz ins Kinderspital schien den Verantwortlichen nicht notwendig. Morgens führ um 5.00 Uhr brechen die Eltern dann in die Kinderklinik St. Gallen auf. Und hier wird ihnen endlich geholfen. Eine schwere einseitige Lungenentzündung wird diagnostiziert. Solch eine Viruserkrankung ist für Neugeborene lebensgefährlich.»

B. Die Spitalregion Fürstenland Toggenburg reagierte gleichentags mit einer ausführlichen Medienmitteilung auf den oben genannten Bericht. Entgegen der Darstellung von «Blick» habe die Notfallstation Wil die Eltern nicht nach Hause geschickt, sondern vielmehr empfohlen, das Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen zu kontaktieren. Dies weil das Spital Wil nicht über die notwendige pädiatrische Fachkompetenz verfüge. «Ein Transport mit dem Rettungsdienst war zu diesem Zeitpunkt nicht notwendig, da das Kind keine Symptome einer schweren Krankheit aufwies. (…) Die Pflegefachfrau versorgte die Mutter mit der Adresse und Telefonnummer des Ostschweizer Kinderspitals und empfahl, unmittelbar mit dem Kinderspital Kontakt aufzunehmen. Sie versicherte sich, dass die Mutter die Empfehlung verstanden hat und damit einverstanden war.»

Die Mutter habe das Kind dann erst am frühen Morgen des nächstens Tages in die Notfallstation des Ostschweizer Kinderspitals gebracht. Dort sei es – in stabilem Zustand – zuerst in eine normale Bettenstation aufgenommen worden. Erst im Laufe des Tages habe sich der Zustand stark verschlechtert, so dass es auf die Intensivstation habe verlegt werden müssen. «Das Krankheitsbild einer Infektion der oberen Luftwege durch das RS-Virus (…) kann zu Beginn wie ein banaler Schnupfen erscheinen.» Unter den gegebenen Umständen sei das Spital «der Sorge der Mutter fachlich und menschlich richtig begegnet».

C. Am 20. Februar 2009 zog «Blick» die Geschichte weiter (Haupttitel: «Der Arzt hatte halt keine Zeit»; Obertitel «So reagiert das Spital Wil auf den Alisha-Skandal»)und berichtete, die «Ausreden der Verantwortlichen» beim «Ärztepfusch» am Wiler Spital» würden immer «haarsträubender». «‹Der Assistenzarzt der Notfallstation war beschäftigt. Er hatte halt keine Zeit.› Das sagt Dr. Cécile Leimgruber, Ärztin am Wiler Spital. ‹Der Arzt habe sich auch aus ‹organisatorischen Gründen› nur telefonisch mit der Pflegefachfrau abgesprochen, so Dr. Leimgruber. (…) Alishas Mutter wurde mit der Nummer des Kinderspitals St. Gallen abgespeist. ‹Wir gaben ihr die Empfehlung in St. Gallen anzurufen. Es ist einfacher, wenn das die Eltern selbst machen.›»

D. Am 27. Februar 2009 gab «Blick» schliesslich Entwarnung und titelte: «Alisha gerettet!» Das Baby sei inzwischen von der Intensivstation auf die Allgemeine Abteilung verlegt worden. Gegen das Spital Wil hätten die Eltern Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. «‹Das Spital versucht uns die Schuld in die Schuhe zu schieben. Wir hätten uns nicht rechtzeitig an die Notfallstation in St. Gallen gewandt›, berichtet der Vater. Ein Gesprächsnachweis seines Handy-Anbieters könne belegen: Am betreffenden Tag habe er um 19.55 Uhr in der Kinderklinik angerufen.»

E. Am 30. März 2009 gelangte die St. Galler Regierungspräsidentin Heidi Hanselmann im Namen des Verwaltungsrats der Spitalverbunde des Kantons St. Gallen mit einer Beschwerde gegen die obengenannten Berichte an den Presserat. Die Aussage des «Blick», das Baby sei vom Notfalldienst des Spitals Wil wieder nach Hause geschickt worden, sei unzutreffend und unterschlage wesentliche Fakten. Vielmehr sei der Muter empfohlen worden, sich an das St. Galler Kinderspital zu wenden, welches über die notwendige pädiatrische Fachkompetenz verfügt. Ebenso wenig entspreche der eine Fehldiagnose suggerierende Titel «Kinderärztin und Spital Wil hielten Lungenentzündung für Schnupfen» der Wahrheit. «Es ist nicht erwiesen, dass die Patientin zum Zeitpunkt, als sich deren Mutter mit ihr ins Spital Wil begeben hat, bereits an einer Lungenentzündung erkrankt war. (…) Aufgrund des möglichen akuten Verlaufs einer RSV-Infektion kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Patientin nicht auch nach einer unmittelbaren Überweisung an das Ostschweizer Kinderspital an einer Lungenentzündung erkrankt wäre und auf der Intensivstation hätte behandelt werden müssen. Das Baby befand sich überdies zu keinem Zeitpunkt in Lebensgefahr.» Mit der beanstandeten Berichterstattung habe der «Blick» die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von wichtigen Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

F. Die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion wies die Beschwerde am 4. Mai 2009 als unbegründet zurück. Formal wies der Rechtsvertreter darauf hin, Regierungsrätin Heidi Hanselmann habe es unterlassen, der Beschwerde einen Beschluss des Verwaltungsrats der Spitalverbunde des Kantons St. Gallen beizulegen. Sofern sie dies nicht noch nachhole, sei die Beschwerde als solche von Frau Hanselmann entgegenzunehmen. Weiter wies er darauf hin, Beschwerdegegenstand seien zwar die drei Berichte vom 19., 20. und 27. Februar 2009. Auf letzteren beziehe sich die Beschwerdebegründung jedoch mit keiner einzigen Bemerkung, weshalb die Beschwerde in diesem Punkt von vornherein abzuweisen sei.

Die Beschwerde verschleiere einen einfachen Sachverhalt: «Die Eltern und das Kind wurden vom Spital Wil nach Hause geschickt, weil eine RSV-Infektion nicht erkannt wurde.» Anstatt das Kind ärztlich zu versorgen, habe man den Eltern bloss die Telefonnummer des Ostschweizer Kinderspitals mitgegeben. Dies stehe im zweiten Bericht vom 20. Februar 2009. Die Beschwerdeführerin «meint offenbar, das hätte man auch schon im ersten Artikel schreiben müssen, wofür aber kein Grund besteht. Denn nicht einmal die befragte Stelle erklärte diesen Umstand, wie das Zitat im ‹Blick›-Artikel vom 19. Februar belegt. Wäre es dem Spital wichtig gewesen, auf die ‹Abgabe› der Telefonnummer hinzuweisen, hätte man es dem ‹Blick› sagen müssen.» Dass der Vater dann noch am selben Abend mit dem Kinderspital telefoniert habe, ändere nichts daran, das in Wil kein Arzt das Kind untersucht habe und «in Wil nicht gesagt wurde, die Eltern sollten sofort mit dem Kind ins Kinderspital fahren». Sämtliche der
vier in der Beschwerde beanstandeten Aussagen der Berichte vom 19. und 20. Februar 2009 seien wahr und es werde in den beiden Berichten nichts Wesentliches unterschlagen.

D. Am 8. Mai 2009 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 23. September 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 6 Abs. 1 des Geschäftsreglements ist jedermann berechtigt, mit einer Beschwerde an den Presserat zu gelangen. Wie auch die Beschwerdegegner einräumen, ist Regierungspräsidentin Hanselmann beschwerdeberechtigt. Sei dies in ihrer Funktion als Verwaltungsratspräsidentin der Spitalverbunde des Kantons St. Gallen oder als Privatperson. Entsprechend ist so oder so auf die Beschwerde einzutreten. Und auch wenn der Beschwerdeführer den von den Beschwerdegegnern vorausgesetzten Beschluss des Verwaltungsrats nicht eingereicht hat, sieht der Presserat keinen Grund, an dem in der Beschwerdeschrift dargelegten Handeln in Namen und im Auftrag des Verwaltungsrats der Spitalverbunde des Kantons St. Gallen zu zweifeln.

2. Der Presserat weist in ständiger Praxis darauf hin, es sei nicht seine Aufgabe, im Rahmen des Presseratsverfahrens umstrittene Sachverhalte zu klären (vgl. zuletzt die Stellungnahme 10/2009). Die Darstellung der Parteien geht insbesondere in einem zentralen Punkt auseinander. Hat sich das Spital Wil damit begnügt, den Eltern von Alisha die Telefonnummer des Kinderspitals St. Gallen zu geben – wie dies «Blick» behauptet – oder hat die diensthabende Pflegefachfrau nach Rücksprache mit einem Assistenzarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe die Eltern im Gegenteil aufgefordert, ihr Kind unverzüglich in den Notfall des Kinderspitals zu bringen, da dieses für die Abklärung besser geeignet sei? Der Presserat kann auf der Grundlage der ihm vorliegenden Akten nicht beurteilen, welcher Standpunkt der Wahrheit entspricht.

Ebenso wenig ist aus den Akten ersichtlich oder kann im Nachhinein rekonstruiert werden, ob Alisha bereits zum Zeitpunkt der Vorsprache beim Spital Wil unter einer Lungenentzündung litt und ob ihr Leben zu irgendeinem Zeitpunkt in Gefahr war. Entsprechend stellt der Presserat fest, dass insoweit eine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) nicht nachgewiesen ist.

3. a) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist «Blick» zudem nicht verpflichtet, objektiv und ausgewogen zu berichten. Im Gegenteil sind berufsethisch auch einseitige und fragmentarische Standpunkte zulässig. Dies unter der Voraussetzung, dass in Respektierung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» vor der Publikation von schweren Vorwürfen die davon Betroffenen angehört werden und der Medienbericht ihre Stellungnahme zumindest kurz und fair wiedergibt sowie dass keine wichtigen Informationen unterschlagen werden (vgl. beispielsweise die Stellungnahme 23/2006). «Blick» hat in den beanstandeten Berichten vom 19. und 20. Februar 2009 unbestrittenermassen schwere Vorwürfe erhoben.

b) Beim Bericht vom 19. Februar 2009 kommt das Spital Wil dazu zwar kurz zu Wort («Das Kind erschien nicht schwer krank. Die Pflegekraft hat sich die Patientin angeschaut. Und sich dann mit dem zuständigen Assistenzarzt abgesprochen.»), wenn auch nicht mit seinen besten Argumenten. Allerdings wird aus den Beschwerdeakten für den Presserat nicht klar, ob dies daran liegt, dass bei der ersten Kontaktnahme der Zeitung von Seiten des Spitals nicht die besten Argumente vorgebracht wurden oder ob die Autorin des Berichts die Argumentation des Spitals Wil unvollständig oder verzerrend wiedergegeben hat. Letzteres wird in der Beschwerde allerdings nicht ausdrücklich behauptet. Eine Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» ist für den Presserat unter diesen Umständen beim Bericht vom 19. Februar 2009 nicht erstellt.

c) Bei der Beurteilung des Artikels vom 20. Februar 2009 ist einerseits davon auszugehen, dass «Blick» Kenntnis von der umfangreichen Medienmitteilung der Spitalregion Fürstenland Toggenburg vom Vortag hatte. Anderseits ist zu berücksichtigen, dass der Bericht diesmal zumindest erwähnte, das Spital Wil habe den Eltern von Alisha die Telefonnummer des Kinderspitals St. Gallen gegeben und ihnen empfohlen, dort anzurufen. Hat der «Blick» damit das von der Richtlinie 3.8 geforderte berufsethische Minimum erfüllt und hat er die für das Verständnis seiner Leserschaft unabdingbaren Informationen veröffentlicht?

Nach Auffassung des Presserats ist dies zu verneinen. Wer sowohl die «Blick»-Berichte vom 19. und 20. Februar 2009 wie auch die Medienmitteilung der Spitalregion Fürstenland Toggenburg vom 19. Februar 2009 liest, stellt fest, dass die Eltern von Alisha bzw. das Spital Wil von zwei sich diametral widersprechenden Thesen ausgehen, die aus Sicht des unbefangenen Betrachters beide zumindest theoretisch plausibel erscheinen. Demgegenüber hat «Blick» durch entsprechende Auswahl der Statements der Spitalvertreter auch im Bericht vom 20. Februar 2009 in unfairer Weise den Eindruck erweckt, dem von den Eltern erhobenen Vorwurf des Ärztepfuschs begegne das Spital Wil nicht mit ernsthaften Einwänden, sondern bloss mit «haarsträubenden Ausreden». Gestützt auf die Richtlinie 3.8 wie auch auf das Gebot, keine wichtigen Informationen zu unterschlagen, wäre «Blick» jedoch verpflichtet gewesen, die Sichtweise des Spitals wenigstens gerafft in fairer Weise wiederzugeben. Nämlich, dass man den Eltern empfohlen habe, sofort mit dem Kinderspital Kontakt aufzunehmen, dass sich der Gesundheitszustand des Kindes erst nach dem Eintritt in das Kinderspital massiv verschlechtert habe, was bei derartigen Erkrankungen vorkommen könne. «Blick» hat deshalb die Ziffer 3 der «Erklärung» (Anhörungspflicht, Unterschlagung von wichtigen Informationen) verletzt.

4. Da die Beschwerde den Artikel vom 27. Februar 2009 («Alisha gerettet!») zwar am Anfang erwähnt, sich in der Begründung aber nicht dazu äussert, tritt der Presserat insoweit nicht auf die Beschwerde ein.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, soweit der Presserat darauf eintritt.

2. «Blick» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Der Arzt hatte halt keine Zeit» in der Ausgabe vom 20. Februar 2008 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen; Unterschlagung wichtiger Informationen) verletzt. Die Zeitung hätte die dem Vorwurf des «Ärztepfuschs» entgegenstehende Sichtweise des Spitals Wil wenigstens gerafft in fairer Weise wiedergeben müssen.

3. Im Weiteren wird die Beschwerde abgewiesen.

4. «Blick» hat mit der Veröffentlichung der Berichte «Wir haben Angst, dass Alisha stirbt» vom 19. Februar 2009 und «Der Arzt hatte halt keine Zeit» vom 20. Februar 2009 Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheit) nicht verletzt. Ebenso wenig verstiess die Publikation des Berichts vom 19. Februar 2009 gegen Ziffer 3 der «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen; Unterschlagung wichtiger Informationen).