Nr. 19/2013
Wahrheit / Unterschlagung von Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(X. c. «St. Galler Tagblatt») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 3. Mai 2013

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Rentner will Wegrecht erzwingen» berichtete Margrit Widmer im «St. Galler Tagblatt» am 25. Juli 2012 über einen vor Obergericht hängigen Nachbarschaftsstreit im Appenzellischen. Ein Ehepaar habe vor vier Jahren eine Kirche gekauft und an deren Stelle ein Haus gebaut. Ein Nachbar, der 34 Jahre über das Kirchengrundstück gefahren war, sehe sich nun geprellt. Der 80-jährige Rentner habe sich über alle Jahre hinweg geweigert, die Zufahrt vertraglich zu regeln, «weil er keine Schneeräumpflicht übernehmen wollte. Hingegen war der Mann Mitglied der Neuapostolischen Kirche, solange die Kirche dastand und er über deren Grundstück zu seinem Haus fuhr. Als das Kirchengrundstück verkauft wurde, trat er aus der Religionsgemeinschaft aus.»

Mit einer Klage beim Kantonsgericht habe der Rentner die Ersitzung des Wegrechts oder ein entsprechendes Notwegrecht auf der früheren Zufahrt durchsetzen wollen. Er habe sich auf den Standpunkt gestellt, er sei Deutscher, also habe er sein Zufahrtsrecht «ersessen». Im Gegensatz zum deutschen Recht sei es in der Schweiz aber nicht möglich, ein Wegrecht zu «ersitzen». Und das Argument des Nachbars, er müsse über ein «gefährliches Bord» zu seinem Haus gelangen, kontere das Ehepaar wie folgt: «Der Mann habe 34 Jahre lang nichts unternommen, um seine Erschliessungsprobleme zu lösen. Sein Haus sei nicht ‹vollständig abgeschnitten›. Es gebe keine Gründe, plötzlich eine ‹Wegenot› zu reklamieren, da der Zugang bereits seit über zwei Jahren nicht mehr möglich sei.»

Die Gemeinde und das Ausserrhoder Departement Bau und Umwelt hätten sich auf die Seite des Nachbarn gestellt. Jetzt habe der Ausserrhoder Obergerichtspräsident einen Zwischenentscheid gefällt – zu Gunsten des Ehepaars. Ende August wolle das Obergericht entscheiden.


B.
Am 5. November 2012 beschwerte sich der anwaltlich vertretene X., der im obengenannten Bericht erwähnte Nachbar, beim Schweizer Presserat und beanstandete, das «St. Galler Tagblatt» habe mit der Veröffentlichung des Artikels die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von Informationen; Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

Der von Margrit Widmer verfasste Artikel sei in hohem Mass einseitig, tendenziös und unsorgfältig redigiert und recherchiert und beruhe teilweise auf unwahren Behauptungen. Der Beschwerdeführer werde als uneinsichtig dargestellt («Der Nachbar lehnte alles ab») während seine Nachbarn als konstruktiv und lösungsorientiert erscheinen («Das Ehepaar legte dem Nachbarn mehrere kostengünstige Lösungsvorschläge vor und war bereit, sich an den Kosten zu beteiligen.»).

Zu beanstanden sei zudem, dass die Journalistin den Beschwerdeführer vor der Publikation nicht angehört habe, obwohl er in den Streit zentral involviert sei. Und das «St. Galler Tagblatt» habe wichtige Informationen unterschlagen, indem es die Argumentation des Ehepaars weitschweifig wiedergebe, hingegen auf die Argumentation des Beschwerdeführes mit keinem Wort eingehe. Damit unterschlage das «St. Galler Tagblatt» der Leserschaft wichtige Informationen.

Als unwahr bezeichnet der Beschwerdeführer insbesondere folgende Aussagen des Artikels:

– Es treffe nicht zu, dass der Beschwerdeführer aus der Religionsgemeinschaft ausgetreten sei und schon gar nicht, als das Kirchengrundstück verkauft wurde.

– Unzutreffend sei auch, dass sich der Beschwerdeführer 34 Jahre nie um das Wegrecht zu seinem Haus gekümmert habe.

– Wahrheitswidrig sei zudem, dass die Nachbarn des Beschwerdeführers diesem kostengünstige Lösungsvorschläge vorgelegt hätten und bereit gewesen seien, sich daran zu beteiligen.

– Besonders stossend und krass wahrheitswidrig sei schliesslich die Behauptung, der Beschwerdeführer habe sich auf den Standpunkt gestellt, «er sei Deutscher, also habe er sein Zufahrtsrecht ersessen».

C. Am 10. Dezember 2012 beantragte Chefredaktor Philipp Landmark, namens der Redaktion «St. Galler Tagblatt», die Beschwerde sei abzuweisen.

Beim beanstandeten Medienbericht handle es sich um eine Prozessvorschau, die wie üblich gestützt auf die Prozessakten verfasst sei und das Prozessthema umreisse. Die Autorin habe korrekt aus publizierten Gerichtsentscheiden zitiert und dabei die Standpunkte beider Parteien berücksichtigt. Sie habe bewusst weder mit dem Beschwerdeführer noch mit der Gegenpartei gesprochen – und selbstverständlich auch keine Instruktionen von Dritten entgegengenommen. Mit dem geschilderten Vorgehen und der Veröffentlichung des beanstandeten Berichts habe das «St. Galler Tagblatt» weder das Wahrheitsgebot und die Anhörungspflicht verletzt, noch wichtige Informationen unterschlagen. Eine Prozessvorschau könne nicht sämtliche Aspekte des Sachverhalts und der rechtlichen Beurteilung abdecken. Im Bericht werde auf einen bestehenden Nachbarschaftskonflikt hingewiesen und im Wesentlichen die bisherige Prozessgeschichte dargelegt, jedoch würden keine Vorwürfe an die Adresse des Beschwerdeführers erhoben.

D. Am 17. Dezember 2013 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 3. Mai 2013 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer beanstandet explizit vier Aussagen des Artikels vom 25. Juli 2012. Dazu ist festzustellen, dass Behauptung gegen Behauptung steht. Da keine der Parteien die entsprechenden Gerichtsakten und -entscheide eingereicht hat, ist der Presserat gestützt auf die ihm vorliegenden Unterlagen nicht in der Lage, sich ein Urteil zu bilden, welcher der Standpunkte zutrifft. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») ist mithin nicht erstellt.

2. Soweit die Beschwerde darüber hinaus generell beanstandet, der Bericht sei tendenziös und berücksichtige einseitig nur den Standpunkt der Gegenpartei im Nachbarschaftsstreit, ist darauf hinzuweisen, dass gemäss ständiger Praxis des Presserats aus der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» keine Pflicht zu ausgewogener, «objektiver» Berichterstattung abzuleiten ist. Zulässig ist mithin auch ein parteiergreifender, anwaltschaftlicher Journalismus (Stellungnahmen 27/2000, 17/2004, 42/2010). Mithin hätte das «St. Galler Tagblatt» einseitig über den Nachbarschaftsstreit berichten dürfen. Für den Presserat kommt der beanstandete Artikel allerdings nicht einseitig daher. Zwar trifft es zu, dass er der Argumentation der Nachbarn des Beschwerdeführers tendenziell mehr Raum einräumt als derjenigen des Beschwerdeführers. Insgesamt nimmt das «St. Galler Tagblatt» aber eine neutrale Position ein und unterlässt es, die Positionen der Parteien zu bewerten. Ebenso ist für die Leserschaft ersichtlich, dass die Auseinandersetzung vor Obergericht hängig und der Prozessausgang offen ist. Das «St. Galler Tagblatt» hat insgesamt keine wichtigen, für das Verständnis der Leserschaft unabdingbaren Informationen unterschlagen.

3. Dies gilt auch in Bezug auf die unterlassene Anhörung des Beschwerdeführers. Gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind vor der Publikation von schweren Vorwürfen die Betroffenen anzuhören und ist ihre Stellungnahme im Medienbericht angemessen wiederzugeben. Gemäss der Praxis des Presserates gilt ein Vorwurf insbesondere als schwer, wenn er dem Betroffenen ein illegales od
er damit vergleichbares Verhalten unterstellt. Weder die Ablehnung eines angeblichen Lösungsvorschlages des Ehepaars, noch die angebliche Weigerung, die Zufahrt vertraglich zu regeln, ist in diesem Sinne als schwerer Vorwurf zu werten.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Das «St. Galler Tagblatt» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Rentner will Wegrecht erzwingen» vom 25. Juli 2012 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von Informationen; Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.