Nr. 54/2011
Wahrheit / Unbestätigte Meldungen / Berichtigung / Identifizierung / Diskriminierung

(Sasek c. «Blick»/«SonntagsBlick»); Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 9. November 20

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I. Sachverhalt

A. Am 16. April 2011 schreiben Sandro Inguiscio und Adrian Schulthess im «Blick»: «Alarm im Thurgau – Bei Sekten-Gottesdienst 6 Kinder mit Masern angesteckt» (fett getitelt). In Frauenfeld hätten sich am 26. März die Anhänger der sogenannten «Organischen Christus-Generation» um den «Sekten-Guru» Ivo Sasek zu einem Gottesdienst versammelt. Dabei habe ein Mann aus Waldshut den gefährlichen Masern-Virus eingeschleppt. In der Folge seien mehrere Kinder der Familie B. an Masern erkrankt. Die Mutter sei, wie viele Anhänger der Sekte, eine erklärte Impfgegnerin. Diese bestätigt gegenüber «Blick», dass sie die Kinder nicht habe impfen lassen. Die Masern seien für sie eine normale Kinderkrankheit. Der Thurgauer Kantonsarzt warnt vor einer solchen Einstellung. Bebildert ist der Artikel mit Fotos vom Ort des Gottesdienstes (der Festhalle in Frauenfeld) und der Strasse in «Müllheim, wo die Familie B. mit ihren zehn Kindern wohnt».

B. Tags darauf neuer Alarm von Jessica Francis im «SonntagsBlick»: «Zehn Masern-Opfer – drei neue Fälle im Sekten-Kanton» (Obertitel), verbreitet durch «Die unheimliche Sekten-Messe» (Haupttitel). Bebildert ist der Artikel mit der «Masern-Familie aus Müllheim TG» sowie dem «Sektenguru Ivo Sasek (…) überzeugter Impfgegner». Im Text dann nochmals das Gleiche wie am Vortag, plus einige neue Fälle von Masern, wovon einer in Appenzell AR gemäss dem dortigen Kantonsarzt mit der Familie «in Verbindung stehen könne». Ein Sektenexperte betont, da Sasek ein Impfgegner sei, treffe das folglich auch auf seine Anhänger zu.

C. Am 20. April 2011 verlangt der Anwalt von Ivo Sasek von «Blick» eine Gegendarstellung, andernfalls stellt er gerichtliche Schritte seines Klienten in Aussicht. «Blick» reagiert weder auf das Begehren noch auf eine Mahnung vom 5. Mai 2011.

D. Am 25. Mai 2011 reicht Ivo Sasek Beschwerde beim Presserat ein. «Blick» und «SonntagsBlick» hätten mit ihren Berichten gegen die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (unbestätigte Meldungen), 5 (Berichtigung), 7 (Identifizierung) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

Mit Bezeichnungen wie «Sektenguru» und «unheimliche Sekten-Messe» diskriminiere «Blick» eine religiöse Haltung. Ausserdem erweckten die beiden Artikel den Eindruck, der Schweiz drohe aufgrund dieser religiösen Veranstaltung eine Masern-Epidemie. Die Krankheit sei aber völlig unabhängig davon in der Schweiz wieder akut geworden (816 Fälle allein zwischen Januar und April 2009, 2010 ein Masernausbruch im grenznahen Frankreich). Dass ein Teilnehmer aus Waldshut den Jungen der Familie B. angesteckt habe, sei nicht belegbar. Ebenso wenig treffe zu, dass er, Sasek, seine Anhänger zur Impfgegnerschaft zwinge. «Blick» und «SonntagsBlick» hätten diesen Kontext unterschlagen, die geforderte Gegendarstellung nicht veröffentlicht und zudem massiv in die Privatsphäre der betroffenen Familie eingegriffen.

E. Am 21. Juni 2011 teilte Blattmacher Urs Helbling im Auftrag von Chefredaktor Ralph Grosse-Bley dem Presserat mit, die Redaktion Newsroom «Blick»-Gruppe nehme zur Beschwerde von Ivo Sasek nicht Stellung.

F. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde am 5. Juli 2011 seiner 1. Kammer zu, der Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder) angehören. Klaus Lange, Redaktor im Newsroom «Blick»-Gruppe, trat von sich aus in den Ausstand.


G.
Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 9. November 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.


II. Erwägungen

1. Wie ist der Umstand, dass «Blick» und «SonntagsBlick» darauf verzichten, zur Beschwerde Stellung zu nehmen, bei der Würdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen? Ebenso wenig wie eine bloss pauschale Bestreitung des Beschwerdesachverhalts durch eine Redaktion dazu führt, dass der Presserat im Zweifel auf die Sichtweise des Mediums abstellt (Stellungnahme 10/2011), ist bei einem Verzicht auf eine Stellungnahme durch die betroffene Redaktion automatisch der vom Beschwerdeführer behauptete Sachverhalt als anerkannt anzusehen. Der Verzicht der Redaktion auf eine Stellungnahme fliesst aber insofern in die Erwägungen ein, als der vom Beschwerdeführer behauptete Sachverhalt jedenfalls nicht substantiiert bestritten wird.

2. Wären «Blick» und «SonntagsBlick» verpflichtet gewesen, differenziert über die gesamtschweizerische Entwicklung und die Ausbreitung der Masernfälle im Frühjahr 2011 zu berichten und die in den beiden Berichten vom 16. und 17. April 2011 aufgestellte These, die Ansteckungen im Kanton Thurgau seien an einer «Sekten-Messe» der «Organischen Christus-Organisation» erfolgt, in einen breiteren Kontext zu stellen? Nach Auffassung des Presserates ist dies zu verneinen. Aus der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») und der Pflicht zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung») ist keine Pflicht zu einer derartigen thematischen Vertiefung abzuleiten, auch wenn dies selbstverständlich wünschbar und empfehlenswert wäre. Und selbst wenn die Behauptung von «Blick» und «SonntagsBlick», wonach die Ansteckung von sechs Kindern der Familie B. anlässlich des «Sekten-Gottesdienstes» erfolgt sei, kaum direkt zu belegen sein dürfte, verstösst es nicht gegen die Wahrheitspflicht, den zumindest möglichen Zusammenhang zwischen Gottesdienst und Masernansteckung zu thematisieren. Die beiden Zeitungen gehen jedoch zu weit und verletzen deshalb insoweit die Ziffern 1 und 3 der «Erklärung», wenn sie mit der alarmistischen Aufmachung ihrer Berichte der Leserschaft suggerieren, die behauptete Masernansteckung habe über die banale Tatsache hinaus, dass Viren bei grossen Menschenansammlungen häufig übertragen werden, etwas mit dem «unheimlichen» Inhalt der «Sekten-Messe» zu tun. «Blick» wäre deshalb auch verpflichtet gewesen, diesen unzutreffenden Tatsacheneindruck zu berichtigen (Ziffer 5 der «Erklärung»).


3.
Zwar nennen weder «Blick» noch «SonntagsBlick» den Namen der betroffenen Familie. «Blick» liefert aber im Bericht vom 16. April 2011 mit dem Wohnort (rund 2500 Einwohner), dem Namen und dem Bild der Strasse sowie mit der Angabe, dass es sich um eine Familie mit 10 Kindern handle, genügend Anhaltspunkte, um die Betroffenen deutlich über den Kreis derjenigen hinaus erkennbar zu machen, die ohnehin von der Masernansteckung und der Zugehörigkeit der Familie zur «Organischen Christus-Generation» wussten. Ebenso macht der «SonntagsBlick»-Artikel vom 17. April 2011 die Familie über ihr näheres soziales Umfeld hinaus erkennbar. Die Gesichter auf dem Bild der Familie B. sind nur unvollständig abgepixelt. Zudem nennt der Bericht erneut den Wohnort und den Umstand, dass die Familie 10 Kinder hat. Für den Presserat ist zudem nicht ersichtlich, inwiefern eine der in der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung) angeführten Voraussetzungen erfüllt sind, die eine identifizierende Berichterstattung in diesem Fall rechtfertigte.


4.
Nicht verletzt sieht der Presserat demgegenüber das Diskriminierungsverbot (Ziffer 8 der «Erklärung»). Der Beschwerdeführer empfindet die Bezeichnungen «Sektenguru Ivo Sasek» und «unheimliche Sekten-Messe» als diskriminierende Anspielungen. Es ist nicht Aufg
abe des Presserates zu beurteilen, ob es sich bei der religiösen Gemeinschaft des Beschwerdeführers um eine Sekte handelt. Selbst wenn der Beschwerdeführer seine «Organische Christus-Generation» als «blosse» alternative Religionsgemeinschaft sieht, ist aber festzustellen, dass die Fremdwahrnehmung durch Religions- und Sektenexperten und durch die Medien ein ganz anderes, kritisches Bild zeichnet, auf das sich «Blick» und «SonntagsBlick» in ihren Berichten abstützen dürfen.

 

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick» und «SonntagsBlick» haben mit den Berichten «Alarm im Thurgau – Bei Sekten-Gottesdienst 6 Kinder mit Masern angesteckt» vom 16. April 2011 respektive «Die unheimliche Sekten-Messe» vom 17. April 2011 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (unbestätigte Meldungen), 5 (Berichtigung) und 7 (Identifizierung) verletzt.

3. «Blick» und «SonntagsBlick» haben die Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung» nicht verletzt.