Nr. 36/2011
Wahrheit / Trennung von Fakten und Kommentar / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Berichtigung

(Allgemeiner Wirtschaftsdienst Schweiz c. «K-Tipp») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 9. September 20

Drucken

I. Sachverhalt

A. Der «K-Tipp» veröffentlichte in der Nr. 20/2010 vom 1. Dezember 2010 einen Artikel (Titel: «Über den Tisch gezogen»; Untertitel: «AWD-Kunden ärgern sich: Sie verlieren mit unflexiblen Versicherungspolicen viel Geld») über Kundenreklamationen beim Allgemeinen Wirtschaftsdienst (AWD). Beim «K-Tipp» häuften sich Reklamationen über diese Firma. Deren Berater dächten in erster Linie an ihre Provisionen statt an das Interesse der Kunden. Die Konsumentenzeitschrift schildert eine Reihe von Reklamationen von Kunden, denen AWD-Vertreter zu einer für sie unvorteilhaften Versicherungslösung – insbesondere bei der 3. Säule – geraten hätten.

B. Am 17. und 31 Januar 2011 gelangte AWD Schweiz mit einer Beschwerde gegen den «K-Tipp» an den Presserat. Der zuständige Redaktor, Ernst Meierhofer, sei 2010 mit insgesamt 5 Anfragen zu Reklamationsfällen an AWD herangetreten. Bereits der Tonfall der Anfragen deute auf eine Voreingenommenheit des Journalisten hin. Trotzdem habe AWD die Vorwürfe seriös geprüft und gegenüber dem «K-Tipp» umfassend beantwortet. Im Gegensatz zu dieser offenen Kommunikation des Beschwerdeführers habe «K-Tipp» den AWD weder über seinen Artikel informiert, noch die Möglichkeit zur Stellungnahme oder zum Gegenlesen gewährt. Inhaltlich sei der Bericht tendenziös. Wie in jedem Unternehmen gebe es auch bei AWD unzufriedene Kunden. Von der im Artikel behaupteten Zunahme der Reklamationen könne aber keine Rede sein.

In den meisten Reklamationsfällen habe AWD belegen können, dass es durchaus professionelle Gründe für die empfohlenen Finanzlösungen gab. Die sachlichen Argumente von AWD kämen aber im Artikel nicht angemessen zum Zug. Insbesondere lasse der Bericht unerwähnt, dass in drei von fünf Reklamationsfällen die Unzufriedenheit der Kunden entstand, weil diese es unterlassen hatten, den AWD oder die Versicherungsgesellschaft frühzeitig über Veränderungen ihrer persönlichen Situation zu informieren. Der «K-Tipp» habe mithin die Pflicht zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») und das Gebot der Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.1) sowie die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen nicht gebührend respektiert. Die Redaktion sei zudem nicht bereit gewesen, auf eine Richtigstellung oder Gegendarstellung (Richtlinie 5.2) einzugehen.

C. Am 4. März 2011 beantragte die durch den publizistischen Leiter, René Schuhmacher vertretene Redaktion «K-Tipp», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Die Beschwerde beziehe sich nicht auf den Artikel «Über den Tisch gezogen», sondern in erster Linie auf eine schriftliche Anfrage von Redaktionsleiter Ernst Meierhofer sowie auf die Stichhaltigkeit von Vorwürfen von AWD-Kunden. Aus der Beschwerde gehe hervor, dass der AWD mit den Kundenvorwürfen konfrontiert und somit angehört worden sei. Hingegen bestehe kein Anspruch darauf, einen Artikel gegenzulesen. Ernst Meierhofer habe dies dem AWD auch nie in Aussicht gestellt.

Entgegen der Behauptung des AWD habe der «K-Tipp» zudem die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sowie 5.1 (Berichtigung) zur «Erklärung» keineswegs verletzt. Die im Bericht «Über den Tisch gezogen» dargelegten Sachverhalte seien weitgehend unbestritten, der Artikel sei in einem sachlichen Ton gehalten und der AWD sei angehört worden. Zudem gebe der Beschwerdeführer nicht einmal an, was von der Redaktion angeblich hätte richtig gestellt werden müssen.

D. Am 21. März 2011 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg und dem Vizepräsidenten Edy Salmina behandelt. Esther Diener-Morscher, Vizepräsidentin und freie Mitarbeiterin des «K-Tipp», trat von sich aus in den Ausstand.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 9. September 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Wahrheits- und Berichtigungspflicht (Ziffern 1 und 5 der «Erklärung») rügt, ist vorab daran zu erinnern, dass es nicht zu den Aufgaben des Presserats gehört, umstrittene Sachverhalte nach dem Wahrheitskriterium zu bearbeiten (Stellungnahme 32/2001). Soweit die Fakten aus den von den Parteien eingereichten Unterlagen nicht klar hervorgehen, ist es deshalb nicht Sache des Presserates, abzuklären, ob die von «K-Tipp» aufgegriffenen Kundenreklamationen stichhaltig sind und ob die Reklamationen von AWD-Kunden in jüngster Zeit zugenommen haben oder nicht. Ohnehin ist gemäss ständiger Praxis des Presserats aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver» Berichterstattung abzuleiten. Vielmehr lässt die Berufsethik auch Raum für einseitige und fragmentarische Sichtweisen (vergleiche zuletzt die Stellungnahme 17/2011 mit weiteren Hinweisen). Entsprechend ist es berufsethisch zulässig, wenn eine Konsumentenzeitschrift sich in einem Artikel darauf beschränkt, über einzelne Kundenreklamationen zu berichten, ohne dabei umfassend zu recherchieren, ob es sich dabei um einzelne Ausreisser oder um regelmässig vorkommende, typische Alltagsfälle handelt.

Soweit der AWD dem «K-Tipp» vorwirft, der Artikel sei einseitig und zeichne insgesamt ein wahrheitswidriges Bild, steht deshalb eine Verletzung der Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung» von vornherein nicht zur Diskussion, respektive ist sie durch die eingereichten Unterlagen nicht belegt.

2. Ebenso wenig sieht der Presserat eine unzulässige Vermischung von Fakten und Kommentar (Ziffer 2 der «Erklärung»), zumal der Journalistenkodex hier keine formale Trennung vorschreibt. Gemäss der Richtlinie 2.3 genügt es, wenn das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann.

Nach Auffassung des Presserats ist die Leserschaft des «K-Tipp» ohne Weiteres in der Lage im beanstandeten Bericht zwischen den Kundenvorwürfen, dem Standpunkt von AWD sowie den kommentierenden Wertungen des Autors zu unterscheiden.

3. a) Näher zu prüfen ist hingegen, ob der Beschwerdeführer im beanstandeten Bericht sich in angemessener Weise zu den darin beschriebenen Kundenreklamationen äussern kann. Gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht fair wiederzugeben. Sie kann knapper sein als die Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich angemessen äussern können.

b) Die von «K-Tipp» mit einer Reihe von Beispielen untermauerte Kritik, die AWD-Berater seien mehr an ihren Provisionen als an den Interessen ihrer Kunden interessiert, wiegt schwer. Entsprechend tat die Konsumentenzeitschrift gut daran, zu den verschiedenen im beanstandeten Bericht enthaltenen Kundenreklamationen jeweils eine Stellungnahme der AWD einzuholen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers war Redaktionsleiter Meierhofer aber nicht verpflichtet, vor der Publikation des Artikels erneut eine Stellungnahme zu den bereits unterbreiteten Vorwürfen einzuholen oder dem Beschwerdeführer gar den ganzen Artikel vor der Publikation zum Gegenlesen zuzustellen.

c) Kommt der AWD im Artikel angemessen zu Wort?

– Als erstes nennt der «K-Tipp» den Fall einer Familie aus Bern, der von der Beraterin angeboten worden sein soll, AWD verzichte auf die Bezahlung der Rechnung für die Ausarbeitung einer «Privatfinanzstrategie», falls die Familie 20 Adressen von Bekannten liefere. AWD kommt zu diesem Vorwurf wie folgt zu Wort: AWD-Chef Remo Weibel habe die Sachlage mit der Familie persönlich besprochen. «Es sei nicht das Ziel von AWD, ‹Rechnungen von Kunden mit der Abgabe von Empfehlungen zu verrechnen›.»

– Weiter berichtet die Konsumentenzeitschrift von einer Kundin, der bei einem Monatseinkommen von 5000 Franken neben einer Versicherungspolice der Säule 3a mit einer Monatsprämie von 400 Franken zusätzlich eine zweite Sparversicherung mit einer monatlichen Belastung von 750 Franken vermittelt worden sei. Inzwischen habe auch der AWD das Missverhältnis zwischen Lohn und monatlicher Belastung eingesehen und der Frau die bereits bezahlten Monatsraten der zweiten Sparversicherung zurückbezahlt. Der gleichen Frau habe AWD eine neue Krankenversicherung vermittelt, ohne die bisherige zu kündigen. Diesen Fehler habe AWD mit der Bezahlung einer Entschädigung von 1000 Franken ausgebügelt. Immer noch der gleichen, alleinstehenden Kundin habe der AWD-Berater eine Rechtsschutzversicherung für einen Mehrpersonenhaushalt vermittelt und es bei der Autoversicherung versäumt, günstigere Konkurrenzofferten einzuholen.

– Eine andere Kundin habe auf Anraten von AWD eine steuerbegünstigte Säule-3a-Police mit einer Laufzeit von mehr als 20 Jahren abgeschlossen. Schon beim Abschluss habe der Verkäufer gewusst, dass ein Umzug in die USA bevorstand. Er habe versichert, die Anlage könne auch dort weitergeführt werden. Dies sei aber aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Die Kundin habe die Anlage deshalb mit einem Verlust von rund 50 Prozent vorzeitig auflösen müssen. «Der AWD sagt dazu, die Kundin habe sich nicht frühzeitig gemeldet. Sonst wäre eine Überführung ihrer Police von der Säule 3a ins freie (nicht steuerbegünstigte) Sparen (Säule 3b) möglich gewesen.»

– Einer weiteren Kundin mit einer Säule 3a, die ebenfalls ins Ausland umgezogen sei, drohe aus dem gleichen Grund ein Verlust von gegen zwei Dritteln der bisher einbezahlten Beträge. «Der AWD entgegnet, die Kundin habe nicht rechtzeitig mit dem AWD Kontakt aufgenommen, und sie habe mehrere zugeschickte ‹Umwandlungsanträge› nicht retourniert.»

– Schliesslich habe ein AWD-Berater einem Kunden mit einem Säule 3a-Sparkonto und einer separaten Risikoversicherung für den Todesfall geraten, das Konto und die Versicherung in eine Fondspolice zu überführen. Nun sei der Kunde 15 Jahre gebunden und habe keine Alternativen mehr. Falls er vorzeitig aussteige, verliere er viel Geld. «Der AWD sagt, bei der Beratung damals sei auch die ‹Möglichkeit des reinen Banksparens› besprochen worden.»

Ausgehend von diesem Beispielen ist festzustellen, dass der «K-Tipp» den einzelnen Kundenreklamationen jeweils eine kurze Stellungnahme von AWD folgt lässt. Den kurzen Statements ist zu entnehmen, dass AWD den Vorwurf einer schlechten Beratung zurückweist und in den Fällen, in denen effektiv Probleme auftraten, die Schuld dafür ihren Kunden zuweist. Unter diesen Umständen sieht der Presserat keine Verletzung der Anhörungspflicht.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «K-Tipp» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Über den Tisch gezogen» in der Nr. 20/2010 vom 1. Dezember 2010 die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.