Nr. 26/2000
Wahlberichterstattung

(S. c. „Neue Zürcher Zeitung“)Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 24. August 2000

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I. Sachverhalt

A. Am 18. Juni 2000 wählte der Kanton Zürich einen 80-köpfigen Verfassungsrat, der eine neue Kantonsverfassung auszuarbeiten hat. S. war im Wahlkreis III (Stadt Zürich) der einzige Kandidat auf der Liste 2 („Züri z’lieb“). Auf den 26. Mai 2000 lud er die Medien zu einem „Kennenlern-Apéro“ ein. Die“Neue Zürcher Zeitung“ verzichtete auf eine Teilnahme, bestellte jedoch die Medienmappe. Auf dem entsprechenden Talon schrieb der Leiter des Ressorts Zürich und Region: „Wir beschränken unsere Berichterstattung auf die im Kantonsrat vertretenen Parteien.“ S. schickte darauf am 25. Mai 2000 dem Ressortleiter ein Fax, in dem er die Erwartung ausdrückte, die Zeitung möge ihren Entscheid ändern und über seine Kandidatur berichten. Doch die NZZ blieb bei ihrer Haltung.

B. Mit Schreiben vom 28. Mai 2000 reichte S. eine Beschwerde beim Presserat ein. Darin kritisierte er den Grundsatz der NZZ als undemokratisch und nicht dem Volkswillen entsprechend. Das Volk habe bewusst die Ausarbeitung der neuen Verfassung nicht dem Kantonsrat, sondern einem eigenen Gremium anvertraut, es wünsche sich „eine möglichst breite Mitwirkung weiterer kompetenter ausserparlamentarischer Personen.“ Die NZZ verletze die Informationspflicht und fördere mit ihrem Vorgehen „die Parteieninzucht und den Parteienfilz“. S. stellte zwei Anträge: Die NZZ sei zu verpflichten, „alle zur Wahl stehenden Listen angemessen in der Berichterstattung zu berücksichtigen“. Die Zeitung sei zu verpflichten, den Entscheid des Presserates zu publizieren. Und schliesslich bat S. den Presserat um die sofortige Behandlung seiner Beschwerde, noch vor der Wahl am 18. Juni 2000.

C. Am 29. Mai veröffentlichte S. eine Medienmitteilung mit der Überschrift „NZZ verweigert Berichterstattung. S. klagt beim Presserat“.

D. Mit Schreiben vom 31. Mai 2000 machte der Sekretär des Presserates den Beschwerdeführer darauf aufmerksam, dass der Presserat als privatrechtliche Organisation eine Zeitung rechtlich nicht verpflichten könne, eine allfällige Stellungnahme des Presserates abzudrucken. Weiter sei es dem der Presserat nicht möglich, wie ein Zivilgericht eine vorsorgliche Verfügung zu erlassen. Das Verfahrensreglement des Presserates schliesslich räume dem Beschwerdegegner eine Frist von 30 Tagen zur Stellungnahme ein, weshalb eine Behandlung der Beschwerde vor den Wahlen ausgeschlossen sei. Am 13. Juni 2000 erklärte S., er wolle seine Beschwerde im Hinblick auf künftige ähnliche Fälle weiterbehandelt sehen.

E. In der Wahl zum Verfassungsrat vom 18. Juni 2000 erzielte S. rund 1800 Stimmen, was nicht für einen Sitz reichte. Am 7. Juli 2000 erhob S. bei der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich Wahlbeschwerde. Er beanstandete, im Wahlkreis III sei der Stadtpräsident von Zürich, Josef Estermann, sowohl Kandidat für den Verfassungsrat als auch Präsident der Kreiswahlvorsteherschaft gewesen.

F. In ihrer Beschwerdeanwort vom 18. Juli 2000 beantragten der Chefredaktor und der stellvertretende Leiter des Ressorts Zürich und Region der NZZ, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Beschränkung der Berichterstattung auf die im Kantonsrat vertretenen Parteien sei rational, um der grossen Zahl von Kandidaten einigermassen gerecht zu werden. Grundsätzlich sei die freie Presse in der Schweiz nicht dazu verpflichtet, die Rolle eines amtlichen Publikationsorgans zu übernehmen und im redaktionellen Teil der Zeitung die Namen sämtlicher Kandidaten zu bringen. Der Verfassungsrat weise achtzig Sitze weniger auf als der Kantonsrat. Deshalb sei es trotz der Beschränkung auf drei Wahlkreise kaum wahrscheinlich dass Kleinstparteien und einzelne freie Listen in diesem Gremium Einsitz nehmen würden. In den drei Wahlkreisen hätten auf insgesamt 13 Listen rund 1000 Kandidatinnen und Kandidaten an der Wahl teilgenommen. „Pressefreiheit heisst nach wie vor, dass die Vertreter der Medien – freilich nach rationalen Kriterien – selbst entscheiden, über welche Themen und welche Personenkreise sie schreiben wollen und sich in diesem Bericht keine Auflagen gefallen lassen müssen.“

G. Das Presseratspräsidium wies den Fall der 3. Kammer zu, der Catherine Aeschbacher als Präsidentin sowie Esther Diener-Morscher, Judith Fasel, Sigmund Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann als Mitglieder angehören. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 24. August 2000 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf Beschwerden nicht ein, wenn „die manifeste Gefahr der Beeinflussung eines hängigen Gerichtsverfahrens durch das Presseratsverfahren das Interesse des Beschwerdeführers an einer Stellungnahme des Presserates eindeutig überwiegt“ (Art. 15 Abs. 3 lit. a des Geschäftsreglements). Da die Wahlbeschwerde von S. an die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich einen anderen Inhalt hat als seine Beschwerde an den Presserat, ist die Gefahr einer präjudiziellen Beeinflussung nicht gegeben. Auf die Beschwerde von S. kann der Presserat daher eintreten.

2. Das Recht auf Information ist ein Menschenrecht, und vom Recht der Öffentlichkeit auf Kenntnis der Tatsachen und Meinungen leiten sich die Pflichten und Rechte der Medienschaffenden ab. Diese Grundsätze sind in der Präambel der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ enthalten.

Das Recht der Öffentlichkeit auf Information ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem Rechtsanspruch eines Einzelnen, der Öffentlichkeit im redaktionellen Teil einer Zeitung Informationen über sich selbst zukommen zu lassen. Ein solcher Anspruch existiert nicht, wenngleich das persönliche Interesse von S., der Leserschaft der NZZ vorgestellt zu werden, legitim und verständlich ist.

Ebensowenig bedeutet das Recht auf Information, dass eine Zeitung gezwungen wäre, alle ihr zufliessenden Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jede Redaktion muss notgedrungen aus der Fülle der Nachrichten und Meinungen auswählen. In dieser Auswahl konkretisiert sich die Pressefreiheit. Gegen die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verstiesse eine solche Auswahl erst dann, wenn wichtige Elemente von Informationen unterschlagen oder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Meinungen entstellt wiedergegeben würden (Ziff. 3 der „Erklärung“).

3. Der Presserat hat deshalb schon mehrfach erklärt, dass Medien grundsätzlich nicht verpflichtet sind, sämtliche Mitteilungen von politischen Parteien und Organisationen abzudrucken (Stellungnahme i. S. P. c. „L’Impartial“ vom 13.6.1986, Sammlung der Stellungnahmen 1983-1989, S. 42ff.; Stellungnahme i.S. KVP Luzern c. „Neue Luzerner Zeitung“, Sammlung 1998, S. 102ff.). Immerhin hat der Presserat kürzlich festgestellt, dass eine politische Minderheit zwar keine Sonderbehandlung verlangen kann, dass aber auch kleinen politischen Parteien und/oder deren Spitzenleuten ein Mindestmass an medialer Aufmerksamkeit zu gewähren ist. Soweit ein Medium von vornherein eine für das Publikum erkennbare Grundhaltung gewählt hat, ist es allerdings weniger als ein Forumsmedium gehalten, sämtlichen Auffassungen den gleichen Platz einzuräumen (Stellungnahme 18/1999 KVP Thurgau c. „St.Galler Tagblatt“/“Bodensee Tagblatt“, Sammlung 1999, S. 145ff).

4. Die in der obenerwähnten Stellungnahme aus dem Fairnessprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung eines Mindestmasses an medialer Aufmerksamkeit soll ein ethisches Mindestmass an fairer Behandlung von politischen Minderheiten gewährleisten. Da es sich bei der Kandidatur von S. unbestrittenermassen um eine Einzelkandidatur handelt, hinter der keine gesellschaftliche Gruppierung steht, lässt sich dieser Grundsatz jedoch nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen. Die NZZ hat in ihrer Wahlberichter
stattung die Öffentlichkeit über das gesamte für den Verfassungsrat relevante politische Spektrum von links bis rechts informiert. Die drei wichtigsten Slogans in der Wahlwerbung von S. („Selbstbestimmung“, „soziale Sicherheit und Gerechtigkeit“ und „ressourcenschonendes Umweltverhalten“) unterscheiden sich nicht von den Parolen einiger Parteien, über welche die NZZ durchaus berichtet hat. Von einer Unterschlagung wesentlicher Informationselemente kann dementsprechend keine Rede sein. Würde man demgegenüber eine Pflicht zur Berichterstattung über die Kandidatur von S. bejahen, könnten auch die übrigen rund 1000 Kandidatinnen und Kandidaten mit gutem Recht geltend machen, dass S. keine Sonderbehandlung zu gewähren sei, weshalb die NZZ auch über sie zu berichten habe. Eine derart umfangreiche Wahlberichterstattung würde sich selber ad absurdum führen. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass mit einer generellen Beschränkung der Wahlberichterstattung auf etablierte, im Parlament bereits vertretene Parteien den berufsethischen Regeln immer Genüge getan würde. Zumindest im Zusammenhang mit der Wahl für den Zürcher Verfassungsrat ist eine solche Beschränkung jedoch nicht zu beanstanden.

III. Feststellungen

Die NZZ hat nicht gegen die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verstossen. Die Beschwerde von S. ist daher abzuweisen.