Nr. 16/2013
Verdachtsberichterstattung / Berichtigung / Identifizierung / Menschenwürde

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 26. April 2013

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «In den Händen des Sadisten» berichtete der Wiener Korrespondent des «Tages-Anzeiger», Bernhard Odehnal, am 26. Juni 2012 in einem ganzseitigen Artikel über schwere Vorwürfe des ehemaligen Schülers Walter Nowak gegen einen Pater des Thurgauer Klosters Fischingen. Nowak habe von 1962 bis 1972 im Kinderheim des Klosters gelebt und dort die Schule besucht. «Als er ins Heim kam, galt er als sozial geschädigt. Als er es wieder verliess, war er ein gebrochener Mensch.» Immer wieder sei er in diesen Jahren vom gleichen Pater geschlagen und sexuell missbraucht worden. Obwohl ein Fachgremium in Österreich seine Schilderungen als glaubwürdig eingestuft habe, verweigere ihm das Kloster eine Entschädigung.

Nowak sei nicht der Erste, der von Gewalt und Misshandlung im Kloster Fischingen erzähle. Bei Klosterdirektor Ibig hätten sich bisher sechs Missbrauchsopfer gemeldet. Ibig habe sie zum Gespräch eingeladen. Eine Entschädigung lehne er jedoch ab. «Wenn wir Geld anbieten, ist das so etwas wie eine Schuldanerkennung.» Konkret wolle Ibig zu den Vorwürfen nicht Stellung nehmen, denn das verbiete der Datenschutz. Laut den Informationen Nowaks lebe der fragliche Pater noch immer im Thurgau. «Klosterdirektor Ibig will das weder bestätigen noch dementieren.»

B. Am 18. Juli 2012 berichtete wiederum Bernhard Odehnal im «Tages-Anzeiger» («Pater S. bestreitet den Vorwurf, Schützlinge im Kloster Fischingen missbraucht zu haben»), der angeschuldigte Pater habe gegenüber der «Thurgauer Zeitung» und dem «St. Galler Tagblatt» erstmals Stellung zu den Vorwürfen genommen. Er sei fassungslos und «habe nichts zu verbergen». Ebenfalls zu Wort komme ein Ex-Schüler, der den Pater als «hervorragenden Lehrer» kennen gelernt hat, «ohne jede Neigung zu Gewalt oder Pädophilie». Die Vorwürfe seien ein «unglaublicher Rufmord». Für den «Tages-Anzeiger» sei der Pater nicht zu sprechen.

C. Am 25. August 2012 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» einen weiteren Artikel von Simone Rau zum Thema («Pater S. erhält Schützenhilfe von einstigen Schülern und Kollegen»). Mehrere ehemalige Schüler des Klosters Fischingen widersprächen der Darstellung von Walter Nowak. Der Befund eines österreichischen Psychologen beweise nichts. Es sei allgemein bekannt, dass es gewisse Leute schafften, einem Therapeuten nicht die Wahrheit zu sagen.

D.
Am 12. September 2012 vermeldete der «Tages-Anzeiger» («Kloster Fischingen klärt Missbrauch ab»), nach langem Zögern wolle das Thurgauer Kloster Fischingen nun doch dem Vorwurf nachgehen, dass es im Kinderheim zu sexuellem Missbrauch und Gewalt an Zöglingen gekommen sei. Der Vorstand des Trägervereins des Klosters habe beschlossen, die Vorwürfe von einer externen und neutralen Stelle überprüfen zu lassen.

E. Am 28. September und 4. Oktober 2012 beschwerte sich X. beim Schweizer Presserat über die von weiteren Medien «kolportierten», obengenannten Berichte des «Tages-Anzeiger», welche die Ziffern 3 (unbestätigte Informationen), 5 (Berichtigung von Falschmeldungen), 7 (Identifizierung; sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzten.

Der Leserschaft werde der vorverurteilende Eindruck vermittelt, es handle sich um feststehende Tatsachen. Dabei verbreite der «Tages-Anzeiger» bloss auf Annahmen beruhende schwerwiegende persönlichkeitsverletzende Informationen, ohne auf die Unschuldsvermutung Rücksicht zu nehmen. Unabhängig von dem, was wirklich geschehen sei, vermisst der Beschwerdeführer die Ausgewogenheit der Berichterstattung. Die Redaktion sei erst nach massiven Protesten von Zeitzeugen zurückbuchstabiert, indem nur noch von einem Pater in der Institution des Trägervereins Kinderheim Kloster Fischingen die Rede sei. Die Personenbeschreibung mit Standort und anderen Merkmalen wie Pater und Kloster Fischingen, das heute noch sechs Mönche habe, sei so genau, dass in Bezug auf die ganze Region der Persönlichkeitsschutz verletzt sei. Die Menschenwürde eines nicht rechtsgültig verurteilten Angeschuldigten werde mit Füssen getreten. Zudem enthalte die Berichterstattung diskriminierende unterschwellige Anspielungen in Bezug auf die klösterliche Zugehörigkeit und die sexuelle Orientierung.

F. Am 7. November 2012 beantragte die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion «Tages-Anzeiger», die Beschwerde sei abzuweisen.

Bei den Aussagen von Walter Nowak handle es sich um gut belegte Verdächtigungen. Der «Tages-Anzeiger» habe sich aber nicht unbesehen zu dessen Lautsprecher gemacht. Die Glaubwürdigkeit Nowaks sei nicht nur von einem Psychologen begutachtet, sondern auch durch den Sprecher der österreichischen Opferschutzkommission bestätigt worden. Beim Autor des Berichts handle es sich zudem um einen erfahrenen Journalisten, der als langjähriger Kriegsberichterstatter und Interviewpartner von Folter- und Missbrauchsopfern die Glaubwürdigkeit von Informanten einschätzen könne.

Der «Tages-Anzeiger» habe sich zudem an die vom Presserat aufgestellten Kriterien der Verdachtberichtserstattung gehalten. An der Medienberichterstattung über Kindsmissbrauch, insbesondere in Kinderheimen bzw. Anstalten, in denen die Beteiligten voneinander abhängig sind, bestehe ein öffentliches Interesse. Im beanstandeten Artikel sei zudem nie von einer Verurteilung die Rede. Auch aufgrund der von der Gegenseite zitierten Aussagen werde klar, dass noch keine gerichtliche Beurteilung stattgefunden hat.

Die Beschwerdegegnerin habe dem Betroffenen zudem Gelegenheit gegeben, sich zu den Vorwürfen zu äussern. Der «Tages-Anzeiger» habe den Klosterdirektor zweimal um die Herstellung eines Kontaktes zu Pater S. gebeten, was dieser unter Berufung auf den Datenschutz abgelehnt habe. Ebenso habe er sich geweigert sich konkret zu den Vorwürfen zu äussern. Der Sekretär der Bischofskonferenz sowie der Abt des Klosters Engelberg, dem die Patres in Fischingen unterstellt sind, hätten es ihm gleich getan. Dem allgemein gehaltenen Statement von Klosterdirektor Ibig habe die Leserschaft aber zumindest entnehmen können, dass Pater S., das Kloster Fischingen und dessen Direktor in rechtlicher Hinsicht sämtliche Vorwürfe nach wie vor zurückwiesen.

In Bezug auf die gerügte Verletzung der Berichtigungspflicht gebe der Beschwerdeführer nicht genau an, welche der veröffentlichten Fakten falsch seien. Er rüge in erster Linie die sich einseitig auf die Schilderung von Walter Nowak abstützende Perspektive des Artikels. Dabei verkenne der Beschwerdeführer, dass die Aussagen Nowaks gutachterlich geprüft worden seien. Es habe somit kein Anlass bestanden, nachträglich Fakten zu berichtigen.

Ebenso wenig habe der «Tages-Anzeiger» die Privatsphäre von Pater S. verletzt. Einem lediglich durch die Medien Informierten sei es nicht möglich, den Pater aufgrund der im Artikel enthaltenen Angaben zu identifizieren. Schliesslich fänden sich im beanstandeten Artikel keinerlei Hinweise auf die kollektive Herabsetzung einer Gruppe, weder aufgrund ihrer religiösen Angehörigkeit noch aufgrund anderer Merkmale. Gemäss der Praxis des Presserats sei es zudem zulässig, konkrete Angaben zu sexuellen Missbrauchsfällen zu machen, um der Leserschaft zu vermitteln, was der Täter seinen Opfern angetan hat. Dabei seien auch unanständige und verletzende Beschreibungen erlaubt.

G. Am 12. November 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

H.
Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 26. April 2013 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Die Schilderung des Schicksals von Walter Nowak und die Beschreibung der von ihm behaupteten Misshandlungen durch einen Priester wirkt im ersten Artikel vom 26. Juni 2012 zwar äusserst anklagend und einseitig. Der Presserat hat aber in früheren Stellungnahmen mehrfach festgehalten, dass aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver» Berichterstattung abgeleitet werden kann. Im Gegenteil ist berufsethisch auch ein parteiergreifender anwaltschaftlicher Journalismus zulässig (vgl. z.B. die Stellungnahmen 27/2000, 17/2004, 42/2010).

b) Die Ziffer 3 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, unbestätigte Meldungen zu überprüfen und als solche zu bezeichnen. Unbestätigte Informationen sind aber nicht zwingend immer durch mindestens zwei Quellen abzusichern (2-Quellen-Regel; Stellungnahme 24/2012). An der Veröffentlichung eines Strafverdachts muss zunächst ein berechtigtes Informationsinteresse bestehen. Weiter muss für die Leserschaft erkennbar sein, dass es sich um eine noch nicht gesicherte Fremdaussage handelt. Zudem ist der Verdächtigte vor der Publikation des Vorwurfs dazu anzuhören und seine Stellungnahme ist im Bericht angemessen wiederzugeben (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»).

c) Die Berichterstattung über einen behaupteten Fall von gravierendem Missbrauch in einem Kinderheim liegt im öffentlichen Interesse. Bernhard Odehnal stellt im ersten Bericht vom 26. Juni 2012 zudem nicht bloss auf die Schilderung von Walter Nowak, sondern auch auf den Umstand ab, dass diese von einem Fachgremium in Österreich als glaubwürdig eingestuft wurde und dass von anderen ehemaligen Klosterschülern ebenfalls Missbrauchsvorwürfe erhoben werden. Zudem hat sich der Autor des Berichts um eine Stellungnahme des Klosters bemüht und sich auch nach dem Verbleib des angeschuldigten Priesters erkundigt. Ungeachtet des anklägerischen Tonfalls ist es für die Leserschaft schliesslich erkennbar, dass der Sachverhalt umstritten und noch kein Urteil ergangen ist. Unter diesen Umständen sind für den Presserat die Voraussetzungen für eine Verdachtsberichterstattung erfüllt.

d) Bei den weiteren Berichten vom 18. Juli, 25. August und 12. September 2012 wird für die Leserschaft erst recht klar, dass die Vorwürfe vom betroffenen Pater sowie von ehemaligen Schülern des Klosters bestritten werden und dass der Sachverhalt im Auftrag des Trägervereins des Klosters von einer unabhängigen Stelle untersucht werden soll. Eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» ist deshalb zu verneinen.

2. Der Beschwerdeführer beanstandet weiter eine Verletzung der Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung»). Er führt jedoch nicht näher aus, welche Passagen in welchen der beanstandeten Berichte des «Tages-Anzeiger» unrichtig sein sollen. Sinngemäss macht die Beschwerde geltend, der «Tages-Anzeiger» fokussiere die Vorwürfe zu Unrecht auf Pater S., obwohl keineswegs erwiesen sei, dass sich die Vorwürfe von anderen Ehemaligen ebenfalls auf den gleichen Pater bezögen. Zudem habe der «Tages-Anzeiger» bei den späteren Berichten offenbar zurückbuchstabieren müssen, in dem er nicht mehr von Pater S. sondern nur noch von «einem Pater» geschrieben habe.

Der Presserat stellt zunächst fest, dass er gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht beurteilen kann, ob sich die offenbar von verschiedenen ehemaligen Schülern im Kloster Fischingen erhobenen Vorwürfe alle auf den gleichen Pater oder auf verschiedene Patres beziehen. Weiter ist für den Presserat nicht erkennbar, dass der «Tages-Anzeiger» bei seinen späteren Berichten «zurückbuchstabiert» hätte. Er hat lediglich die anklagende Schilderung von Walter Nowak mit den Dementis des betroffenen Paters sowie von anderen ehemaligen Schülern ergänzt. Auch insoweit steht deshalb Behauptung gegen Behauptung. Unter diesen Umständen ist keine Verletzung der Wahrheitspflicht erstellt, aus der eine Pflicht zur Veröffentlichung einer Berichtigung abzuleiten wäre.

3. a) Ist Pater S. hingegen aufgrund der Berichte des «Tages-Anzeiger» in einem Ausmass identifizierbar, das gegen die Ziffer 7 der «Erklärung» verstösst? Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten gemäss der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.

b) Die Berichte des «Tages-Anzeiger» enthalten nur wenige Angaben über die Identität des verdächtigten Priesters. Sie nennen den ersten Buchstaben seines Vornamens, sein heutiges Alter (82-jährig), sowie den Ort seiner früheren Tätigkeit als Lehrer und heutigen Aufenthaltsort (Kloster Fischingen). Um die Missbrauchsvorwürfe einigermassen einordnen zu können, waren diese Informationen für die Leserschaft grösstenteils notwendig. Die Angabe des Initials des Vornamens trug zwar nichts zum Verständnis bei, war jedoch wegen der möglichen Verwechslungsgefahr mit anderen Priestern gerechtfertigt. Insgesamt wurde der Kreis derjenigen, die den Pater aufgrund der Medienberichte erkennen und so Kenntnis von den gegen ihn erhobenen schweren Vorwürfen erhalten, nach Ansicht des Presserats nicht in unverhältnismässiger Weise erweitert. Eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» ist deshalb ebenfalls zu verneinen.

4. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers enthalten die beanstandeten Berichte schliesslich weder diskriminierende, verallgemeinernde Anspielungen in Bezug auf die religiöse Zugehörigkeit noch auf die sexuelle Orientierung des von Walter Nowak beschuldigten Paters. Wie der Presserat in früheren Entscheiden festgehalten hat(vgl. dazu z.B. die Stellungnahmen 58/2008, 30/2012), ist es zudem zulässig, bei Berichten über sexuelle Missbräuche, die konkreten Taten in verhältnismässiger Weise zu beschreiben. An diese Vorgaben hat sich der «Tages-Anzeiger» vorliegend gehalten.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit den Berichten vom 26. Juni 2012 («In den Händen des Sadisten»), 18. Juli 2012 («Pater S. bestreitet den Vorwurf, Schützlinge im Kloster Fischingen missbraucht zu haben»), 25. August 2012 («Pater S. erhält Schützenhilfe von einstigen Schülern und Kollegen») und 12. September 2012 («Kloster Fischingen klärt Missbrauch ab») die Ziffern 3 (unbestätigte Meldungen), 5 (Berichtigung), 7 (Identifizierung) und 8 (Menschenwürde, Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.