Nr. 35/2000
Unterschlagung von Informationen / Redaktionelle Unabhängigkeit

(B. c. „Wiler Zeitung“ / „Volksfreund“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 2. November 2000

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I. Sachverhalt

A. 1998 erhielt die Redaktorin Petra Künzle der Tageszeitung “Wiler Zeitung” / “Volksfreund” (nachfolgend: “Wiler Zeitung”) von einer Drittperson Unterlagen, die eine Auseinandersetzung zwischen dem Architekten B. und den Flawiler Gemeindebehörden dokumentieren. B. fühlt sich nach eigenen Angaben seit zwölf Jahren im Zusammenhang mit baurechtlichen Verfahren von den Gemeindebehörden schikaniert und wirft diesen Günstlingswirtschaft und Korruption vor. Er erwartete damals, dass die “Wiler Zeitung” aufgrund der Unterlagen einen Artikel über seine Vorwürfe an die Behörden veröffentlichen würde. Die “Wiler Zeitung” publizierte jedoch nichts darüber.

B. Am 14. Februar 2000 reichte B. beim Departement des Innern des Kantons St. Gallen eine umfangreiche Aufsichtsbeschwerde gegen die Behörden der politischen Gemeinde Flawil ein. Anlass der Beschwerde bildete die obengenannte Auseinandersetzung.

C. Mit Schreiben vom 14. März 2000 forderte er die Redaktion der “Wiler Zeitung” auf, “einen grösseren Bericht oder gar eine Berichtsfolge” über die aus seiner Sicht zu beanstandende Tätigkeit von Behörden und Verwaltung der Gemeinde Flawil zu publizieren.

D. Am 24. März 2000 fand zwischen B. und der Redaktorin der “Wiler Zeitung”, Petra Künzle ein Telefongespräch statt, dessen genauer Inhalt im Nachhinein unter den Beteiligten umstritten war. Unbestritten ist, dass sich Petra Künzle anlässlich des Gesprächs u.a. danach erkundigte, was B. mit seiner Aufsichtsbeschwerde bezwecke. B. war zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, über die Beschwerde Auskunft zu erteilen.

E. In einem Schreiben vom 27. März 2000 an Petra Künzle gab B. u.a. den Inhalt des Telefongesprächs vom 24. März 2000 aus seiner Sicht wieder. Abschliessend hielt er fest: “Ich muss davon ausgehen, dass der Volksfreund darüber keinen Artikel schreiben wird.”

F. Mit Schreiben vom 11. April 2000 kam Petra Künzle ihrerseits auf das Telefongespräch vom 24. März 2000 und auf das Schreiben von B. vom 27. März 2000 zurück. Sie habe aufgrund ihrer Recherchen erfahren, dass er beim Kanton eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht habe. Sie habe ihn daraufhin angesprochen, jedoch keine klärende Antwort erhalten. Generell mache die “Wiler Zeitung” keine Berichte über laufende Verfahren. Sie könne höchstens der Leserschaft mitteilen, dass eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht worden ist. Dazu brauche sie aber eine Bestätigung des Beschwerdeführers oder der betroffenen Behörde. “Wenn das laufende Verfahren abgeschlossen ist, und ein Bericht der Untersuchungsinstanz vorliegt, plane ich, entsprechend darüber in unserer Zeitung zu berichten. Im Bericht sollen alle Beteiligten zu Wort kommen.”

G. Mit Schreiben vom 25. April 2000 an Petra Künzle machte B. geltend, sie habe ihm anlässlich des Telefongesprächs vom 24. März 2000 zugesagt, einen Artikel zu schreiben, um nun doch wieder nichts zu publizieren “Seit eineinhalb Jahren haben Sie von dieser leidigen Geschichte Kenntnis und seit eineinhalb Jahren haben Sie noch nie auch nur die geringste Äusserung im Volksfreund darüber publiziert. Noch nie in dieser Zeit haben Sie mich kontaktiert, um mehr Informationen zu erhalten. (…) Nun, wenn Sie tatsächlich Interesse haben, umgehend einen Bericht darüber zu verfassen, so erwarte ich noch diese Woche Ihren Anruf. Ich gebe Ihnen die Chance, Versäumtes nachzuholen. Dann können Sie mich über die Sache ausfragen, aber nicht über Absichten, wie sie es am 24. gemacht haben. Ich bin auch bereit, Ihnen, sofern gewünscht, Beilagen zur Verfügung zu stellen.”

H. Am 10. Mai 2000 erhob B. beim Presserat Beschwerde gegen die Druckerei Flawil AG als Herausgeberin und gegen die Redaktion der “Wiler Zeitung” “wegen vorsätzlicher und selektiver Informationspublikation zulasten der Bevölkerung”. Er vermutete, dass die Druckerei Flawil “aus wirtschaftlichen Überlegungen den Gemeinderat von Flawil nicht brüskieren will” und deshalb die Veröffentlichung seiner Anschuldigungen unterbunden habe. Der Verlag unterschlage “absichtlich wichtige öffentliche Sachverhalte, die das Gemeinleben in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht nachteilig beeinträchtigen. “Die Redaktion der ‚Wiler Zeitung‘ besteht nicht genügend auf ihrem Recht, Weisungen und Einmischungen des Verlags zurückzuweisen.” Damit werde Ziff. 1 der “Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten” verletzt, wonach die Öffentlichkeit das Recht habe, die Wahrheit zu erfahren. Diese Vermutung werde durch eine klare Äusserung eines Mitgliedes des Flawiler Gemeinderates bestätigt, wonach alle zu veröffentlichten Berichte zur Stellungnahme ins Gemeindehaus geschickt werden. Der Beschwerdeführer bat den Presserat zudem, zu entscheiden, ob die Abonnenten der “Wiler Zeitung” ihre bestellte journalistische Leistung vollumfänglich erhalten oder nicht. Der Beschwerdeführer begründete seine Vorwürfe, wonach die Zeitung nur publiziere, was einer kleinen korrupten Minderheit nütze, mit einem weiteren Beispiel. Die “Wiler Zeitung” habe anfangs des Jahres 2000 einen Leserbrief von G. zum Thema “Wasserkorporation O.”, zu Unrecht wegen angeblich ehrverletzenden Äusserungen nicht veröffentlicht. Im Leserbrief wurden schwere Vorwürfe gegen die Kommission der Wasserkorporation erhoben.

I. Mit Schreiben vom 13. Juni 2000 reichte der Beschwerdeführer eine erste Ergänzung zu seiner Beschwerde ein und teilte darin u.a. mit: “Kenner der Szene in Flawil haben auf Anhieb mitteilen können, dass sie gewusst haben, dass die Druckerei Flawil keine Schrift drucken wird, die den Gemeinderat belastet. Das ist eine Tradition, die aber nur wenigen bekannt ist, und in einem liberalen Umfeld entstanden ist. Der heutige Rädelsführer soll der Direktor und Verwaltungsrat der Druckerei Flawil AG, Max Stark sein. Er soll deshalb auch das Publikationsverbot gegenüber den Redaktoren ausgesprochen haben.”

K. Der Presserat wies den Fall der 3. Kammer zu, der Catherine Aeschbacher als Präsidentin sowie Esther Diener-Morscher, Judith Fasel, Sigmund Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann als Mitglieder angehören.

L. In einer Stellungnahme vom 29. Juni 2000 wies Matthias Unseld, der Chefredaktor der “Wiler Zeitung” die Beschwerde als unbegründet zurück. Er habe nie Weisungen verfügt, die Flawiler Gemeindebehörden in der Zeitung bevorzugt oder unkritisch zu behandeln. Auch habe er selber nie solche Weisungen von der Druckerei Flawil erhalten. Über den langjährigen Streit zwischen dem Beschwerdeführer und den Gemeindebehörden habe die Zeitung seinerzeit nichts berichtet, weil die Ereignisse im Fall “B.” – sie datierten aus dem Jahr 1988 – bereits rechtskräftig gewesen seien und darüber hinaus mit der aktuellen Situation nichts zu tun hätten.

Hinsichtlich des neuen Anlaufs von Herrn B. sei die Redaktion zum Schluss gekommen, dass einerseits das Leserinteresse fehle, andererseits die Vorwürfe des Beschwerdeführers vor allem aus Mutmassungen bestünden, welche die Redaktion aus zeitlichen und rechtlichen Gründen nicht alle auf ihre Richtigkeit überprüfen könne. Die Redaktion habe zudem nicht allein als Anwältin der Interessen von B. auftreten wollen.

Zum Vorwurf, dass Zeitungsberichte zur Stellungnahme ins Gemeindehaus geschickt würden, schreibt Matthias Unseld: “Interviews werden den betroffenen Personen zum Gegenlesen gegeben. In seltenen Fällen werden fachspezifische oder komplizierte Berichte zum Gegenlesen an Fachpersonen weitergeleitet. Korrigiert würden nur fachlich falsch dargestellte Zusammenhänge.”

Zum unveröffentlichten Leserbrief von G. führt Matthias Unseld aus, der Leserbrief im Fall “Wasserkorporation U.” habe nicht den redaktionseigenen “Richtlinien für Leserbriefe” entsprochen, weil er bereits in einem a
nderen Presseorgan publiziert worden sei. Falls der Leserbriefschreiber nicht über die Ablehnung des Abdrucks orientiert worden sei, handle es sich um einen Fehler der Redaktion. Gewöhnlich werde bei eine Ablehnung der Autor via das Informationsblatt “Richtlinie für Leserbriefe” orientiert oder sogar telefonisch kontaktiert, wenn es die Aktualität erfordere.

M. Am 13. August 2000 ergänzte der Beschwerdeführer seine Beschwerde mit folgendem Sachverhalt: Am 8. August 2000 schickte er einen Leserbrief an die “Wiler Zeitung”. Darin kritisiert er, dass der Flawiler Gemeinderat “illegal” einen Dienstleistungsauftrag ohne öffentliche Ausschreibung an die Druckerei Flawil vergeben und damit gegen die Submissionsverordnung des Kantons St. Gallen verstossen habe. Am 10. August 2000 teilte Hans-Ruedi Gut, Leiter Geschäftsfeld Verlag der Druckerei Flawil AG dem Beschwerdeführer mit, dass sein Leserbrief nicht veröffentlicht werde, da dieser auf einem Missverständnis bzw. unzureichender Detailinformation beruhe. Mit der neuen Lösung für die amtlichen Publikationen der Gemeinde Flawil werde kein neues Auftragsverhältnis begründet, sondern lediglich eine bestehendes Auftragsverhältnis erweitert.

N. Am 25. August und 1. September 2000 reichte der Beschwerdeführer zwei weitere Beschwerdeergänzungen ein. Darin wies er u.a. darauf hin, dass sein Leserbrief vom 8. August 2000 auch nach mehreren Wiedererwägungsanträgen nicht veröffentlicht worden sei.

Weiter wird aus den vom Beschwerdeführer eingereichten Unterlagen u.a. ersichtlich, dass er zwischenzeitlich sämtliche Schriftenwechsel mit Beilagen via Internet veröffentlichte und dass die Beschwerdegegnerin darüber berichtete. Ebenso wurde in der “Wiler Zeitung” über ein Wahlkomitee berichtet, das bei den Wahlen in der Gemeinde Flawil vom 24. September 2999 eine Gegenkandidatin zum amtierenden Gemeindepräsidenten portierte. Dabei wurde auch der Name des Beschwerdeführers genannt und darauf hingewiesen, dass er im Hintergrund die Fäden ziehe. Schliesslich legte der Beschwerdeführer seine Position in der 1. Ausgabe der “Flawiler Nachrichten” vom 31. August 2000, die laut seinen Angaben an sämtliche Haushalte der Gemeinde Flawil verteilt wurde, auf zwölf Seiten umfassend dar.

O. Mit Schreiben vom 11. September 2000 nahm Chefredaktor Matthias Unseld namens der “Wiler Zeitung” zu den Beschwerdeergänzungen vom 13. und 25. August 2000 Stellung. Es sei Sache des Gemeinderates und nicht der Redaktion, wie die Gemeinde Flawil ihr Publikationsorgan gestalten wolle. Verhandlungspartner der Gemeinde in Sachen Publikationsorgan sei nicht die Chefredaktion sondern der Verlag. Die Publikation des Leserbriefes des Beschwerdeführers habe er abgelehnt, weil darin verdächtigt und verunglimpft statt argumentiert worden sei. Als Chefredaktor habe er die Veröffentlichung des Leserbriefes abgelehnt und das Ganze an Herrn Gut vom Verlag zur Beantwortung weitergeleitet.

P. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an den Sitzungen vom 24. August und 2. November 2000.

II. Erwägungen

1. Soweit sich die Beschwerde auch gegen den Verlag Druckerei Flawil AG richtet, kann darauf nicht eingetreten werden. Die Aufgabe des Presserates besteht darin, zu Fragen der Berufsethik der Journalistinnen und Journalisten und nicht zu solchen der verlegerischen Ethik Stellung zu nehmen. Ebenso ist es nicht Aufgabe des Presserates, zu entscheiden, ob die Abonnenten der “Wiler Zeitung” ihre bestellte journalistische Leistung vollumfänglich erhalten oder nicht. Es ist Sache der Abonnentinnen und Abonnenten, zu beurteilen, ob die “Wiler Zeitung” ihr Bedürfnis nach Information über die Gemeinde Flawil abdeckt oder nicht. Gegebenenfalls haben sie die Möglichkeit, das Abonnement zu kündigen. Dementsprechend nimmt der Presserat allein zu den vom Beschwerdeführer gerügten Verletzungen der journalistischen Berufsethik Stellung.

2. Aus der Präambel und aus Ziff. 1 der “Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten” kann kein Anspruch auf die Veröffentlichung von Informationen abgeleitet werden, die einer Medienredaktion von Dritten zugetragen werden. Journalistinnen und Journalisten sind berufsethisch verpflichtet, allein nach journalistischen Kriterien, namentlich nach Aktualität, Originalität und Relevanz einer Nachricht zu entscheiden, ob eine Information abgedruckt wird (Stellungnahme des Presserates vom 19. Juni 1998 i.S. KVP Luzern c. “Neue Luzerner Zeitung”, Sammlung 1998, S. 102ff., Stellungnahme vom 1. Oktober 1999 i.S. B./KVP Thurgau c. “St.Galler Tagblatt”/“Bodensee Tagblatt”, Sammlung 1999, S. 145ff.).

3. Die Gründe dafür, dass die Redaktion der “Wiler Zeitung” die Vorwürfe des Beschwerdeführers an die Gemeinde nicht veröffentlicht hat, sind für den Presserat nachvollziehbar und entsprechen journalistischen Kriterien. Es handelt sich bei den Vorwürfen – jedenfalls soweit dies aus den dem Presserat vorliegenden Unterlagen ersichtlich wird – um unbewiesene Behauptungen. Gemäss Ziff. 3 der “Erklärung” müssen Journalisten und Journalistinnen die Quelle und die Glaubwürdigkeit jeder Information überprüfen. Die Redaktion der “Wiler Zeitung” sah sich nach eigenen Angaben aber nicht in der Lage, die zahlreichen Vorwürfe, die der Beschwerdeführer geäussert hat, auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Es wäre zwar ideal, wenn Medienredaktionen personell derart grosszügig ausgestattet wären, dass sie so ein komplexes Dossier, wie dasjenige der Auseinandersetzung zwischen dem Beschwerdeführer und den Gemeindebehörden von Flawil umfassend nachrecherchieren könnten. Die Realität in den Redaktionen sieht jedoch anders aus, weshalb der Redaktion der “Wiler Zeitung” kein Vorwurf gemacht werden kann, wenn sie einstweilen das Ergebnis des Aufsichtsbeschwerdeverfahrens abwarten wollte. Im Gegenteil wäre es berufsethisch fragwürdig gewesen, wenn sie die Vorwürfe des Beschwerdeführers ungeprüft veröffentlicht hätte.

4. Über die Tatsache, dass der Beschwerdeführer eine Aufsichtsbeschwerde beim Departement des Innern des Kantons St. Gallen gegen die Gemeinde eingereicht hatte, wollte die “Wiler Zeitung” zuerst einen Artikel publizieren. Daraufhin wollte der Beschwerdeführer allerdings keine Auskunft geben, weil er befürchtete, die Redaktion wolle als Vertreterin der Druckerei Flawil nur seine mit der Beschwerde verfolgten Absichten erkunden. Aufgrund dieser Weigerung entschied sich die Redaktion gemäss Chefredaktor Matthias Unseld, das Ergebnis der Aufsichtsbeschwerde abzuwarten und dann bei dessen Veröffentlichung alle Beteiligten gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen. Aus Sicht des Presserates vermag diese Begründung der Beschwerdegegnerin nicht vollumfänglich zu überzeugen. Zwar war ihr wie bereits ausgeführt, nicht zuzumuten, sich vollumfänglich auf die vom Beschwerdeführer gegenüber der Gemeinde erhobenen Vorwürfe einzulassen. Auch einer kleinen Redaktion wie der “Wiler Zeitung” wäre es ungeachtet der Auskunftsverweigerung des Beschwerdeführers aber ohne weiteres möglich und unter dem Gesichtspunkt der umfassenden Information der Öffentlichkeit auch angezeigt gewesen, die Leserschaft bereits im vergangenen Frühjahr über die Tatsache der Einreichung einer Aufsichtsbeschwerde durch den Beschwerdeführer zu orientieren.

5. Die Behauptungen des Beschwerdeführers, dass alle Berichte in der “Wiler Zeitung” vorgängig zur Stellungnahme ins Gemeindehaus geschickt würden und dass seitens des Verlags ein Publikationsverbot ausgesprochen worden sei, wird von Chefredaktor Matthias Unseld zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer räumt in seiner Beschwerde selber ein, dass er diese Vorwürfe nicht beweisen kann. Die von ihm in diesem Zusammenhang angegebenen Quellen sind denn auch nur vage (“klare Äusserung eines Mitglieds eines Gemeinderates”; “verschiedene Bürger” die der Redaktion einen Brief schreiben; “Empörung von Flawilern” usw.).

Grundsätzlich ist zudem dara
uf hinzuweisen, dass Interviews im Normalfall autorisiert werden müssen. Es entspricht also durchaus den berufsethischen Pflichten, wenn Interviews der befragten Person vor dem Abdruck vorgelegt werden (Ziff. 4.5 der Richtlinien zur “Erklärung”). Auch wenn in einem Artikel fachlich komplexe Sachverhalte dargestellt werden, kann es angebracht sein, dass Journalisten einen Text vor dem Abdruck noch einer Fachperson unterbreiten. Solche Praktiken dienen den berufsethisch gebotenen Bemühungen nach Genauigkeit und Wahrheit – sofern es bloss darum geht, fachlich falsch dargestellte Zusammenhänge zu korrigieren. Die Praxis der regelmässigen Einholung von Stellungnahmen bei den zuständigen Gemeindeorganen darf jedoch nicht dazu führen, dass diese faktisch kontrolliert, was im redaktionellen Teil eines Mediums veröffentlicht wird.

Im Ergebnis hat der Presserat ausgehend von diesen grundsätzlichen Überlegungen und aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen keinen Grund zur Annahme, dass die Journalisten und Journalistinnen der “Wiler Zeitung” unzulässige Weisungen des Verlages oder der Gemeindebehörden entgegennehmen, kritische Äusserungen über die Gemeindebehörden von Flawil zurückzuhalten.

6. Redaktionen entscheiden grundsätzlich selber, ob sie einen Leserbrief veröffentlichen oder nicht (vgl. z.B. die Stellungnahme 16/2000 vom 16. Mai 2000 i.S. Oui à la vie c. “La Liberté”).

Im ersten Fall, den der Beschwerdeführer kritisiert, entsprach der Leserbrief von G. i. S. Wasserkorporation O. nicht den Leserbrief-Richtlinien der “Wiler Zeitung”, weil der Beitrag bereits im “Allgemeinen Anzeiger Uzwil” erschienen war. Auch wenn man sich fragen kann, ob es unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Information der Öffentlichkeit in jedem Fall sinnvoll ist, den Abdruck eines Leserbriefs allein schon deshalb auszuschliessen, weil er bereits in einem anderen Medium publiziert worden ist, hat sich die “Wiler Zeitung” an die von ihr aufgestellten und publizierten Auswahlkriterien gehalten und war dementsprechend gemäss der erwähnten ständigen Praxis des Presserates von vornherein nicht verpflichtet, den bereits anderweitig publizierten Leserbrief abzudrucken.

Dies gilt zwar grundsätzlich auch für den Leserbrief, den der Beschwerdeführer am 8. August 2000 an die “Wiler Zeitung” geschickt hat. Der Presserat hat sich nicht zur Auslegung des Submissionsrechts des Kantons St. Gallen zu äussern und wäre dazu ohnehin nicht abschliessend in der Lage. Ungeachtet der hier offen zu lassenden Rechtsfrage erscheint die Kritik des Beschwerdeführers an der Erweiterung bzw. Neuausrichtung des von der Gemeinde an die Druckerei Flawil AG erteilten Publikationsauftrages jedoch zumindest als nicht von vornherein vollständig unhaltbar. Wenn eine Gemeinde beschliesst, eine bestehende publizistische Zusammenarbeit mit einem Verlag auszubauen und dafür Mehrausgaben beschliesst, kann dies in der öffentlichen Diskussion durchaus auch unter dem Gesichtspunkt des freien Wettbewerbs und der öffentlichen Ausschreibung von öffentlichen Aufträgen zur Diskussion gestellt werden.

Medienredaktionen sind aufgefordert, Reaktionen aus dem Publikum, die sich über eine Berichterstattung empören, grosszügig Raum zu geben. Dies gilt selbst dann, wenn sie die Redaktion scharf angreifen (Stellungnahme vom 31. Januar 1999 i.S. S. c. “Bündner Tagblatt”). Gerade wenn wie im konkreten Fall der Abdruck eines die Geschäftspraxis des Verlags kritisierenden Leserbriefs durch den Verlag und nicht durch die dafür an sich zuständige Redaktion abgelehnt wird, ist es nachvollziehbar, dass beim Leserbriefschreiber der Eindruck entstehen kann, die betroffenen Journalistinnen und Journalisten würden entgegen Ziff. 11 der “Erklärung” journalistische Weisungen von ausserhalb der Redaktion entgegennehmen. Soweit der Abdruck des Leserbriefs in einer späteren Phase damit abgelehnt wurde, dass er nach Auffassung der Redaktion ehrverletzende Äusserungen enthalte, wäre es der Redaktion zudem ohne weiteres möglich gewesen, redigierend einzugreifen und den Leserbrief diesbezüglich z.B. durch Streichung des Wortes “illegal” zu entschärfen (vgl. dazu die Stellungnahme vom 16. Dezember 1999 i.S. S. c. “Tages-Spiegel”, Sammlung 1999, S. 183ff.).

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.

2. Einer kleinen Redaktion kann berufsethisch kein Vorwurf gemacht werden wenn sie sich selber nicht in der Lage sieht, ein umfangreiches Dossier, in dem schwerwiegende unbewiesene Vorwürfe gegen Behörden erhoben werden, selber umfassend nachzurecherchieren. Unter diesen Umständen ist es richtig, mit der Veröffentlichung der Vorwürfe bis zur Abklärung durch die zuständige Aufsichtsbehörde zuzuwarten. Angezeigt wäre es dagegen, die Leserschaft über die Tatsache zu informieren, dass eine Aufsichtsbeschwerde gegen eine Behörde eingereicht worden ist.

3. Der Presserat hat keinen Grund zur Annahme, dass die Journalisten und Journalistinnen der “Wiler Zeitung” unzulässige Weisungen des Verlags oder der Gemeindebehörden entgegennehmen und deshalb kritische Äusserungen über die Gemeindebehörden von Flawil zurückhalten. Interviews sind der interviewten Person in der Regel vor dem Abdruck zur Autorisierung vorzulegen. Ebenso kann es bei fachlich komplexen Sachverhalten angebracht sein, einen journalistischen Text vor dem Abdruck einer Fachperson zu unterbreiten. Die Praxis der regelmässigen Einholung von Stellungnahmen bei den zuständigen Gemeindeorganen darf jedoch nicht dazu führen, dass diese faktisch kontrollieren, was im redaktionellen Teil eines Mediums veröffentlicht wird.

4. Redaktionen entscheiden frei, ob sie einen Leserbrief veröffentlichen. Reaktionen aus dem Publikum, die den hinter einer Zeitung stehenden Verlag kritisieren, sollte allerdings grosszügig Raum gegeben werden. Wird die Ablehnung eines solchen Leserbriefes durch den Verlag und nicht durch die dafür an sich zuständige Redaktion mitgeteilt, ist es nachvollziehbar, wenn beim betroffenen Leserbriefschreiber der Eindruck entsteht, die betroffene Redaktion nehme entgegen Ziff. 11 der „Erklärung“ journalistische Weisungen von ausserhalb der Redaktion entgegen.