Nr. 31/2005
Unterschlagung von Informationen / Berichtigungspflicht

(X. c. «Basler Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 15. Juli 2005

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I. Sachverhalt

A. Im Vorfeld des Basler Stadtlaufs vom 27. November 2004 veröffentlichte die «Basler Zeitung» am 13. November 2004 einen Artikel des Sportjournalisten Z. Unter dem Titel «Schau, wie die alten Knacker laufen!» porträtierte der Autor den ältesten angemeldeten Teilnehmer, den Deutschen Y. aus Ettlingen, Jahrgang 1915, geboren in England, aufgewachsen in Belgien. Der Artikel beschränkt sich im grossen Ganzen auf die sportliche Vita von Y., erwähnt aber auch die wichtigsten biographischen Lebensstationen, darunter den «Russland-Feldzug»: Y. sei in den 2. Weltkrieg gezogen, «um gegen den Bolschewismus zu kämpfen» (O-Ton des Interviewten).

B. Am 16. November 2004 schrieb X. per E-Mail an die Leserbriefredaktion der «Basler Zeitung», diese Geschichte «sei ein einziges Ärgernis», denn Y. habe als «Belgischer SS-Freiwilliger am deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion teilgenommen». X. fragt wörtlich: «Wie viele slawische Untermenschen hat er wohl umgebracht, wie viele Juden gequält und erschossen – vielleicht in Babi Jar?» Offenbar empfinde Y. «keinerlei Reue», wie seine «widerwärtige Formulierung» vom «Feldzug gegen den Bolschewismus» zeige, worin «der alte Nazistolz» mitschwinge. Auch passe ins Bild, dass Y. seine Frau «in Franco-Spanien» kennengelernt habe, «nach dem Krieg für viele Nazis das bevorzugte Dorado». X. findet es «in höchstem Masse obszön», dass ein solcher Mann in Basel, einst Zufluchtsort vieler Verfolgter, am Stadtlauf teilnehmen darf und «vom Monopolblatt eigens noch gefeiert wird».

Eine Kopie des Leserbriefes schickte X. an das Organisationskomitee des Basler Stadtlaufes mit der Bitte, entsprechend zu handeln.

C. Nachdem der Leserbrief fünf Tage ohne Antwort geblieben war, schickte X. eine E-Mail-Kopie an den Chefredaktor der «Basler Zeitung» mit der Bitte um «Remedur»: «Man sollte einen Mörder nicht laufen lassen».

D. Am 22. November 2004 antwortete der Autor per E-Mail X., er habe sich mit Y. vor allem über den Stadtlauf und die vielen Läufe unterhalten, die dieser bestritten habe. «Schliesslich habe ich ihn nach seiner Jugend gefragt und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei hat mir Y. ausführlichst geantwortet – und es machte nicht den Anschein, als ob er sein damaliges Tun und die damals herrschenden Verhältnisse verherrlichen würde. Im Gegenteil. Weil es eine lange Geschichte ist, die zu vielen Missverständnissen führen kann, habe ich sie weggelassen – bis auf den einen Satz («gegen den Bolschewismus»), der einzig und allein seinen damaligen Beweggrund wiedergibt, aber nichts über seine heutige Gesinnung besagt. Ich habe mich schliesslich nach Rücksprache mit einem Historiker sowie Recherchen über jene Zeit dazu entschlossen, über Herrn Y. zu berichten und an seiner Darstellung nicht zu zweifeln (…) Herr Y. machte nicht den Eindruck, als ob er etwas verstecken würde. Er erzählte offen, wie es dazu kam, dass er (mit Hunderten anderer Belgier) nach Russland zog und einer SS-Kommandatur unterstellt wurde.»

E. Im weiteren Mailverkehr zwischen den Parteien bestand X. auf der Publikation seines Briefes, während die «Basler Zeitung», dies mit mit Hinweis auf die von X. erhobenen «unbewiesenen» schweren Vorwürfe unter Berufung auf das Prinzip der Unschuldsvermutung ablehnte. Daraufhin startete X. eine Online-Petition zuhanden des Organisationskomitees des Basler Stadtlaufs unter dem Titel: «Der SS-Mann soll dem Stadtlauf fernbleiben!». Darin beschuldigte er auch die «Basler Zeitung» Y.’s «Karriere als SS-Freiwilliger» mit Vorbedacht verschwiegen zu haben.

F. Am 25. November 2004 teilte Anton Schmucki, Präsident des Organisationskomitees des Basler Stadtlaufs, X. per E-Mail mit: «Herr Y. wurde von der Startliste entfernt.»

G. Am 27. November 2004 thematisierte Z. in der «Basler Zeitung» diesen Entscheid und dessen Vorgeschichte unter dem Titel «Schwere Vorwürfe an Stadtläufer». Bezüglich der Auseinandersetzung über den Abdruck des Leserbriefs von X. führte er aus, die «Basler Zeitung» habe den Abdruck mit dem Hinweis auf die Unschuldsvermutung abgelehnt: «Zwar ist unbestritten, dass Y. in Russland einer SS-Einheit unterstellt wurde, es liegen jedoch keine Beweise vor, dass der Läufer Verbrechen begangen hat. Y. wurde nach dem Krieg in Belgien wegen seiner Teilnahme am Russlandfeldzug wie alle anderen Freiwilligen zum Tode verurteilt, später aber annestiert.» Samuel Althof, Sprecher der Aktion Kinder des Holocausts, bezeichne die Vorwürfe an Y. ohne Darbringung irgendwelcher Beweise als «höchst problematisch». «Althofs Recherchen ergaben, dass der Läufer nirgendwo als SS-Scherge aktenkundig ist».

H. X. gelangte darauf in E-Mails vom 29. und 30. November 2004 erneut an die «Basler Zeitung» und rügte, der Artikel vom 27. November 2005 enthalte zahlreiche Falschinformationen, darunter auch eine unrichtige Wiedergabe des Statements von Samuel Althof.

I. Die «Basler Zeitung» antwortete ihm nicht mehr direkt, publiziert aber am 2. Dezember 2004 folgende Berichtigung: «Samuel Althof, Sprecher der Aktion Kinder des Holocausts (AKdH), legt Wert auf die Feststellung, dass sich seine Recherchen bezüglich Y. auf die Zeit nach Kriegsende bezogen. Und da ist Y. nirgendwo als Aktivist oder Sympathisant der rechtsextremen Szene bekannt.»

K. Am 3. Februar 2005 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen die «Basler Zeitung» an den Presserat. Er rügte, die «Basler Zeitung» habe im Bericht vom 13. November 2004 die wichtige Information unterdrückt, dass Y. 1941 als belgischer SS-Freiwilliger am deutschen Angriffskrieg gegen die damalige Sowjetunion teilgenommen habe. Damit habe die Redaktion die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Unterschlagung wichtiger Informationen) verletzt. Ebenso habe die «Basler Zeitung» mit ihrem unannehmbaren Gebaren gegenüber der von ihm eingesandten Richtigstellung gegen die Berichtigungspflicht («Ziffer 5 der «Erklärung») verstossen. Schliesslich liege es nahe, dass das Verhalten der Redaktion der «Basler Zeitung» auch in diesem Falle von der Rolle des «faktischen Monopolblattes» als Sponsorin mitbestimmt worden sei.

L. In einer Stellungnahme vom 1. März 2005 wies die «Basler Zeitung» die Beschwerde von X. als unbegründet zurück. Sie habe ihren Leserinnen und Lesern keine wichtigen Tatsachen unterschlagen, sondern wahrheitsgemäss und fair über den ältesten Basler Stadtläufer berichtet. Sowohl in der Berichterstattung als auch beim Entscheid, die Leserbriefe von X. nicht abzudrucken, sei der Grundsatz der Unschuldsvermutung gewahrt worden. Zwischen der jahrelangen Medienpartnerschaft der Basler Zeitung Medien mit dem Stadtlaufkomitee und der Berichterstattung der Zeitung bestehe keinerlei Zusammenhang.

M. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi, Edy Salmina und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

N. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 15. Juli 2005 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Aufgrund der Rügen des Beschwerdeführers hat der Presserat zu prüfen, ob die «Basler Zeitung» im Artikel vom 13. November 2004 verpflichtet gewesen wäre, genauer über die freiwillige Teilnahme von Y. am Deutschen Vernichtungskrieg während des 2. Weltkriegs in Deutschland zu berichten. Und falls dies zu bejahen ist, ob die Zeitung diese Unterlassung mit ihrer darauffolgenden Berichterstattung korrigiert hat. Ebenso ist zu prüfen, o
b die von der «Basler Zeitung» nach dem zweiten Artikel vom 27. November 2005 veröffentlichte Berich-tigung den Anforderungen von Ziffer 5 der «Erklärung» genügte.

Nicht explizit Beschwerdegegenstand ist dagegen der Nichtabdruck der Leserbriefe X. Ohnehin hat der Presserat in zahlreichen Stellungnahmen der letzten Jahre darauf hingewiesen, dass es im alleinigen Ermessen der Redaktion liegt, ob sie bestimmte Leserbriefe abdruckt oder nicht (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 23, 25 und 40/2004). Gleichwohl empfiehlt er den Redaktionen generell, mit Stellungnahmen grosszügig umzugehen, dies auch, wenn darin scharfe Kritik an den Redaktionen oder den Autoren enthalten ist (vgl. die Stellungnahme 40 /2004). Denn so werde der Zugang zum öffentlichen Diskurs gewährleistet. Gerade Medien mit einer lokalen Monopol- oder Vormachtstellung sollten sich deshalb besonders grosszügig zeigen. Folglich wäre es der «Basler Zeitung» gut angestanden, mindestens der Leserbriefe von X. abzudrucken – gekürzt um die nicht belegten, diffamierenden Vorwürfe. Selbst dann, wenn die Zeitung dazu nicht verpflichtet war (vgl. hierzu die Stellungnahme 23/1999).

2. a) Gemäss Ziffer 3 der «Erklärung» sollen Journalistinnen und Journalisten keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen. In Bezug auf das am 13. November 2004 Porträt über Y. veröffentlichte Porträt ist dementsprechend zu fragen, ob die «Basler Zeitung» mit der Passage «Im zweiten Weltkrieg zog er in den Russland-Feldzug, um gegen den Bolschewismus zu kämpfen» entsprechend unvollständig informiert hat.

Analog zu einer früheren früheren Stellungnahme aus dem wirtschaftlich-medizinischen Bereich (9/1994) geht es hier darum, wie weit in diesem Sportlerporträt die Dimension historischer Richtigkeit zu beachten ist. Sie ist es jedenfalls dann, wenn der Journalist überhaupt historische Anspielungen einfügt.

b) Übertragen auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt ist aus diesen Grundsätzen folgendes abzuleiten: Wenn in einem Bericht gesellschaftspolitisch relevante biographische Angaben über Teilnehmer/innen gemacht werden, ist darauf zu achten, dass dies nicht allzu verkürzt und beschönigend geschieht. Dies gilt in besonderem Masse, wenn der geschichtliche Hintergrund – wie dies X. hier zu Recht geltend macht – nach wie vor als äusserst heikel erscheint.

c) Wie insbesondere aus der E-Mail von Z. an X. vom 22. November 2004 hervorgeht, war dem Autor zum Zeitpunkt der Publikation zumindest bekannt, dass Y. als Freiwilliger nach Russland zog und dort einem SS-Kommando unterstellt war. Selbst wenn X. für seine weiteren massiven Vorwürfe gegenüber X. keinerlei konkrete Beweise vorlegte, hätte die «Basler Zeitung» ihrer Leserschaft zumindest die Elemente «Freiwilligkeit» und «Unterstellung unter ein SS-Kommando» bei der Erwähnung dieses Lebensabschnittes nicht vorenthalten dürfen. Denn im Gegensatz dazu erscheinen die veröffentlichten Begriffe «Russland-Feldzug» und «Kampf gegen den Bolschewismus» als beschönigend und erinnern an Nazi-propaganda oder an heutige Rhetorik aus der rechtsextremen Ecke. Fair wäre es dann auch gewesen, Y.’s heutige Distanzierung («damals verführt») kurz mitzuliefern. Dementsprechend ist hier eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» zu bejahen.

3. a) Ziffer 5 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, jede von ihnen veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. Die einer Falschinformation folgende Berichtigung muss mindestens das Publikum in die Lage versetzen, den Sachverhalt nun korrekt würdigen zu können. Eine Berichtigung oder Klarstellung ist dementsprechend nicht nur bei der Veröffentlichung einer Falschmeldung, sondern auch bei einer Unterschlagung und / oder Entstellung von wichtigen Informationen angebracht.

b) Spätestens nach Erhalt der ersten E-Mail von X. vom 16. November 2004 hätte der «Basler Zeitung» klar werden müssen, dass ihr beschönigender Hinweis auf Y.’s Russland-Episode rasch und kurz hätte klarstellen sollen. Trotzdem verneint der Presserat hier eine Verletzung der Ziffer 5 der «Erklärung». Denn 14 Tage nach Erscheinen des ersten Artikels konnte die Leserschaft im Bericht vom 27. November 2004 (am Tag des Stadtlaufs) zur Kenntnis nehmen, dass Y. «im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger am Russlandfeldzug teilgenommen hatte» und dass er dort «einer SS-Einheit» unterstellt war. Damit lieferte die «Basler Zeitung» die im Erstbericht vom 13. November 2004 fehlenden wichtigen Informationselemente nach, selbst wenn sie dies offenbar nicht aus eigenem Antrieb sondern aus einem anderen äusseren Anlass tat (Streichung von Y. von der Startliste).

4. Ebensowenig zu beanstanden ist weiter die am 2. Dezember 2004 veröffentlichte Berichtigung des Statements von Samuel Althof, worin dieser klarstellte, dass er sich nur für den Zeitraum nach dem 2. Weltkrieg geäussert habe. Zwar rügte X. in seinen E-Mails vom 29. und 30. November 2004 zahlreiche weitere Falschinformationen. Diese sind aber für den Presserat nicht belegt. So hat der Beschwerdeführer dem Presserat weder Quellen angegeben noch Beweise für seine Angaben über die nach dem Krieg in Belgien erfolgten Verurteilungen und späteren Begnadigungen von Nazikollaborateuren eingereicht. Ebensowenig kann der Presserat aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen entscheiden, ob Y. wie X. dargelegt vom Basler Stadtlauf ausgeschlossen wurde oder ob er – wie dies die «Basler Zeitung» ebenfalls unter Berufung auf das Stadtlaufkomitee darlegt – in Absprache mit dem Komitee letztlich auf eine Teilnahme verzichtete.

5. Mangels näherer Begründung und entsprechender Belege nicht einzutreten ist schliesslich auf die sinngemässe Rüge einer Verletzung der Richtlinie 10.1 zur «Erklärung» (Trennung zwischen redaktionellem Teil und Werbung). Allein aus der Tatsache, dass die «Basler Zeitung» langjähriger Medienpartner des Basler Stadtlaufs ist, lässt sich nicht ableiten, dass des-halb die Trennung zwischen redaktionellen Berichterstattung über und der Werbung für diesen Anlass nicht mehr gewährleistet wäre. Wie bereits eingangs der Erwägungen zu den Leserbriefen von X. ausgeführt, ist aber – vorbehältlich der Kürzung ehrverletzender Passagen – auch unter diesem Gesichtspunkt eine möglichst grosszügiger Abdruck kritischer Zuschriften zu empfehlen.

 
III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die «Basler Zeitung» hätte bei einem Porträt über den ältesten Teilnehmer des Basler Stadtlaufs und der Erwähnung seiner «Teilnahme am Russlandfeldzug» im Zweiten Weltkrieg nicht unterschlagen dürfen, dass der Betroffene sich freiwillig für diesen Vernichtungskrieg meldete und dort einem SS-Kommando unterstand. Dann wäre es auch fair gewesen, die heutige Distanzierung des Betroffenen von der Kriegsteilnahme kurz zu vermerken.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen soweit darauf einzutreten ist.