Nr. 57/2015
Unschuldsvermutung / Menschenwürde

(X. c. «Blick.ch») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 31. Dezember 2015

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I. Sachverhalt

A. Am 30. März 2015 veröffentlichte «Blick.ch» unter dem Titel «Hier lernt der Todes-Pilot fliegen» einen Artikel über Andreas Lubitz, den Co-Piloten der Germanwings-Maschine, welche über den französischen Alpen abgestürzt war. Der Obertitel lautet: «Das Lächeln des Bösen». Im Lead heisst es: «Schon als Kind wollte er fliegen. Andreas Lubitz (✝27) verwirklichte seinen Traum. Jetzt ist ein neues Video aufgetaucht, das zeigt, wie viel Freude der Todes-Pilot einst am Fliegen hatte.» Im Artikel selbst wird ausgeführt, bereits mit 14 habe Lubitz seinen Gleitflugschein beim Segelflugclub LSC Westerwald gemacht. Die später absolvierte Ausbildung zum Piloten habe er jedoch gemäss einem Bekannten wegen psychischer Probleme unterbrechen müssen. Die Fluggesellschaft Lufthansa sei Spekulationen darüber, ob Lubitz an einer psychischen Erkrankung gelitten habe, mit einer Erklärung entgegengetreten, ihr sei von einer solchen Erkrankung nichts bekannt gewesen.

B. Am 30. März 2015 reichte X. gegen den Artikel Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Dieser verstosse gegen die Unschuldsvermutung gegenüber dem Co-Piloten des abgestürzten Germanwings-Flugzeugs, auch wenn die Indizienlage erdrückend sei. Zudem verstosse er in eklatanter und nicht zu akzeptierender Weise gegen das Gebot der Menschenwürde, indem ein Video von L., das ihn als Segelflugpiloten in jungen Jahren zeige, mit dem reisserischen Titel überschrieben sei: «Das Lächeln des Bösen – Hier lernt der Todes-Pilot fliegen». Die praktisch ausnahmsweise unisono missbilligenden Online-Kommentare zu dieser journalistischen Fehlleistung des «Blick» sprächen eine deutliche Sprache. Auch wenn der Presserat auf eine Beschwerde in einem ganz ähnlich gelagerten Fall (Stellungnahme 7/2013) gemäss seiner restriktiven Praxis erst gar nicht eingetreten sei, dürfe es dabei nicht sein Bewenden haben. Denn aus Sicht des Beschwerdeführers wäre es – bei allem Respekt für die Pressefreiheit – ausserordentlich bedauerlich, würde der Schweizer Presserat der Menschenwürde den Schutz de facto verweigern und damit einen Journalismus unterstützen, den nicht einmal mehr die «Blick»-Onlineleser selbst goutierten.

C. Gestützt auf Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserats behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

D. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Präsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann, hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2015 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Art. 11 Absatz 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn diese offensichtlich unbegründet erscheint.

2. Der Presserat hält fest, dass für Andreas Lubitz selbstverständlich die Unschuldsvermutung gemäss Richtlinie 7.4 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gilt. Wie bereits aus dem Titel hervorgeht, rückt der Artikel den Werdegang von Lubitz als Pilot in den Vordergrund und zeigt, wie viel Freude dieser am Fliegen hatte. Das Video von Lubitz als jungem Mann, der einen Motorsegler fliegt und dabei immer wieder lacht, unterstreicht dies. Lubitz’ mögliche Schuld am Absturz der Germanwings-Maschine ist dagegen nur ein Randaspekt.

Der Absturz fand am 24. März 2015 statt, der kritisierte Artikel stammt vom 30. März 2015. In diesem Zeitraum waren weitere Details über den Absturz an die Öffentlichkeit gelangt. Der Staatsanwalt der französischen Untersuchungsbehörden hatte an der Medienkonferenz am 26. März 2015 wenig Zweifel daran gelassen, dass er Andreas Lubitz für den Tod von 149 Menschen für verantwortlich hält. Lubitz habe den Absturz willentlich herbeigeführt. Die Medien konnten aufgrund der Aussagen des Staatsanwalts davon ausgehen, dass die französische Justiz starke Indizien für ihre Beschuldigung hatte. Am selben Tag sagte der Chef der Lufthansa, des Mutterhauses von Germanwings, an einer Medienkonferenz, das Flugzeug sei offensichtlich willentlich zum Absturz gebracht worden, mutmasslich durch den Co-Piloten. Der Beschwerdeführer selbst hält fest, dass die Indizienlage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels erdrückend war. «Blick.ch» weist im Artikel aber auch auf die Spekulationen in Bezug auf eine allfällige psychische Erkrankung von Lubitz hin und zitiert die Lufthansa, die weder von einer solchen Erkrankung noch von Sehproblemen etwas gewusst haben will. Diese Passage relativiert die Schuldzuschreibung an Lubitz.

Wenn im Artikel vom «Todes-Pilot» die Rede ist, so nimmt dieser Begriff die sechs Tage nach dem Absturz vorhandene erdrückende Indizienlage auf. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung liegt damit nicht vor. Dasselbe gilt für den Obertitel «Das Lächeln des Bösen». Dies ist eine wertende Zuschreibung, jedoch kein justiziabler Vorwurf. Es handelt sich um einen kommentierenden Titel, der als solcher für den Leser erkennbar und durch die Kommentarfreiheit gedeckt ist.

3. Da «Blick.ch» nach Auffassung des Presserats in Bezug auf Andreas Lubitz nicht generell behauptet, dieser verkörpere das Böse an sich, hat «Blick.ch» auch dessen Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung») offensichtlich nicht verletzt.

III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.