Nr. 23/1999
Umgang mit Leserbriefen

(Schmidhauser c. „Tages-Spiegel“) Stellungnahme des Presserates Nr. 23/99 vom 16. Dezember 1999

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I. Sachverhalt

A. Am 20. Juli 1999 erschien in den dem „Tagesspiegel“-Verbund angeschlossenen Zeitungen auf der Seite „Thurgau“ unter dem Titel „Auf dem rechten Auge sehend“ ein Artikel über ein Skinhead-Treffen in der Nähe von Müllheim/TG vom vorangegangenen Wochenende. Darin wurde u.a. berichtet, dass die Polizei die Veranstaltung zwar überwacht, auf Personenkontrollen aber verzichtet habe, da kein Grund zum Eingreifen bestanden habe. Weiter wurde darauf hingewiesen, dass die Schweizer Neonazi-Szene in den zwei vorangegangenen Jahren von 300 auf 500 Personen angewachsen sei, und dass Thurgauer darin eine wichtige Rolle spielen würden. Gezeichnet war der Artikel von Marc Haltiner, der sich zum Thema zusätzlich in einem vom Artikel getrennten Kommentar äusserte. Darin plädierte er unter dem Titel „Hinsehen, handeln“ für eine energischere Haltung der Polizei und für ein Tätigwerden der Politik gegen rechtsextreme Strömungen.

B. Willy Schmidhauser, Präsident der Schweizer Demokraten Thurgau, gelangte daraufhin am 21. Juli 1999 mit einem Leserbrief an die Redaktion des „Tagesspiegel“ und kritisierte unter dem Titel “Skinheadzulauf dank Maulkorb“ den am Vortag erschienen Artikel und den Kommentar sinngemäss dahingehend, dass Gruppierungen aller politischer Richtungen das Recht darauf hätten, ungestört ein Sommerfest zu veranstalten und dass die Polizei keinen Anlass zum Einschreiten habe, solange nicht davon auszugehen sei, dass Rechtsnormen verletzt würden. Weiter vertrat Schmidhauser im Leserbrief die These, dass je mehr „die freie Meinungsäusserung unterdrückt und von einer angeblich freien Presse im Sinne von linken Machern ausgenutzt wird, umso grösser wird der Zulauf dieser Gruppen. Wenn also die Zunahme der Skins im Thurgau auffällig ist, dann sollte dies vor allem den verantwortlichen Medienleuten zu denken geben.“ Und wenn schon Flaggen und Fahnen zu verbieten seien, habe dies sowohl für die Rechts-, als auch für die Linksextremen zu gelten.

C. Am 27. Juli 1999 druckten die „Tagesspiegel“-Zeitungen einen Leserbrief der Grünen Partei Thurgau mit dem Titel „eine Hochburg von Neonazis?“ ab, in dem die Grüne Partei ihre Entrüstung darüber ausdrückt, „dass im Thurgau wiederum ein Treffen von Neonazis stattgefunden hat. Zugleich sind wir empört darüber, dass das Image unseres Kantons damit ein weiteres Mal angekratzt wird.“

D. Die „Tagesspiegel“-Zeitungen druckten den Leserbrief Schmidhausers am 29. Juli 1999 ab, nahmen allerdings zwei Kürzungen vor. Zum einen wurde bei der sowohl im Artikel von Marc Haltiner, als auch im Leserbrief von Willy Schmidhauser erwähnten Journalistin Eva Büchi, das von Schmidhauser zugeordnete Attribut „neomarxistische Skin-Head-Jägerin“ weggelassen. Zum anderen wurde aus dem Satz „Auch im Thurgau singen die Sozialdemokraten mit Herrn Onken und erst recht die Linksextremen die Lieder der linken von Stalin, Mao, Pol Pot und vielen anderen Verbrechern – die Internationale und grüssen einander wie eh und je mit „liebe Genossinnen und Genossen“ der Einschub „und erst recht die Linksextremen die Lieder der linken von Stalin, Mao, Pol Pot und vielen anderen Verbrechern“ weggelassen.

E. In einem in den „Tagesspiegel“-Zeitungen am 30. Juli 1999 publizierten Leserbrief äusserte sich auch Hans Eigenmann, Frauenfelder Gemeinderat und Mitglied der Grünen Partei zum Skinhead-Treffen und u.a. auch zu Äusserungen von Willi Schmidhauser. Diesem warf er vor, in fast peinlicher Art dargelegt zu haben, dass die Linke mehr Opfer verschulde als die Rechte und als Konsequenz darauf zu fordern, dass daher die Machenschaften der heutigen Rechtsextremen mindestens zu dulden seien. Damit positioniere er sich und seine Gruppierung politisch ganz klar und habe die Reste demokratisch-rechtsstaatlicher Glaubwürdigkeit verspielt, die er immer noch gehabt habe.

F. Auf diesen Leserbrief reagierte Willy Schmidhauser am 31. Juli 1999 mit einer Replik, in der er Eigenmann und der Grünen Partei unterstellte, nicht akzeptieren zu wollen, dass die Versammlungsfreiheit für alle von Links bis Rechts gelte. Entgegen den Ausführungen von Eigenmann sei es ihm nicht darum gegangen, darzulegen, wer – Linke oder Rechte – mehr Opfer verschuldet habe. Vielmehr gehe es ihm darum, auch die Symbole, Fahnen, Lieder und Aktionen der linken und internationalistischen Extreme zu verbieten. Er verlange, dass die Linken endlich aufhörten, die Internationale zu singen und der „Mörder-Gruss“ „Liebe Genossinnen und Genossen“ gehöre definitiv auf den Abfallhaufen der Geschichte. Die roten Fahnen an Demonstrationen wie dem 1. Mai seien die Fahnen jener Mörderbanden, die Millionen Unschuldiger hingeschlachtet hätten. Dieser Leserbrief wurde von der „Tagesspiegel-Redaktion“ nicht abgedruckt.

G. Am 20. August 1999 gelangte Willy Schmidhauser mit einer Beschwerde wegen „Verunglimpfung meiner Person, Verhinderung einer Richtigstellung und bewusster, parteiischer Darstellung von Vorkommnissen im Thurgau“ an den Presserat. Darin rügte er das Vorgehen von Marc Haltiner bei der Recherche für den Artikel vom 20. Juli 1999, das er als „Bericht-Schusterung“ bezeichnete und den aus seiner Sicht einseitigen Kommentar. Weiter beanstandet er, dass sein Leserbrief vom 21. Juli 1999 erst nach mehrmaligen Interventionen und erst nach vorrangigem Abdruck eines Leserbriefs der Grünen Partei abgedruckt wurde. Der Inhalt des Leserbriefs sei durch die von der Redaktion vorgenommenen Kürzungen „massiv verändert“. Der Leserbrief sei trotzdem mit „Schweizer Demokraten, SD Thurgau“ gezeichnet, was aus Sicht der SD Thurgau eine „Urkundenfälschung“ darstelle, denn von den der Zensur der Redaktion wüssten die Leser nichts. Schliesslich sei der Abdruck seiner Antwort vom 31. Juli 1999 auf die Anwürfe von Eigenmann von der Redaktion zu Unrecht mit dem Argument verweigert worden, dass die SD Thurgau schon Stellung habe beziehen können.

H. In seiner Stellungnahme vom 29. September 1999 wies Marc Haltiner hinsichtlich des vom Beschwerdeführer erhobenen Vorwurfs einer parteiischen Berichterstattung darauf hin, dass es keine berufsethische Pflicht zu objektiver Berichterstattung gebe. Gerade bei diesem mit einer schweren geschichtlichen Hypothek belasteten Thema sei es legitim, dass die Leserschaft spüre, welche Meinung die Redaktion vertritt. Ausserdem sei der persönliche Kommentar des Redaktors korrekt getrennt und klar gekennzeichnet. Der Bericht selber sei sachlich abgefasst und gebe die Meinung der Journalistin Büchi und die Antwort der Polizei auf korrekte Weise wieder. Hinsichtlich des am 29. Juli 1999 abgedruckten Leserbriefs des Beschwerdeführers habe dieser mit einem ebenso scharfen Gegenleserbrief rechnen müssen. Schliesslich weist Haltiner hinsichtlich des nicht abgedruckten Leserbriefs des Beschwerdeführers vom 31. Juli 1999 darauf hin, dass kein Anspruch auf Abdruck einer Replik auf andere Leserbriefe bestehe. Auch die Herausgeberin einer Zeitung könne für persönlichkeitsverletzende Äusserungen in einem Leserbrief zur Verantwortung gezogen werden. Schmidhausers Antwort sei reine Polemik, gespickt mit ehrverletzenden Äusserungen. Deshalb sei es legitim gewesen, die publizistische Verantwortung wahrzunehmen und diesen Leserbrief nicht zu veröffentlichen.

II. Erwägungen

1. Soweit der Beschwerdeführer den Artikel vom 21. Juli 1999 und den dazugehörigen Kommentar beanstandet, erweist sich die Beschwerde als offensichtlich unbegründet. Nach der ständigen Praxis des Presserates kann aus der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung abgeleitet werden (vgl. u.a. Stellungnahme des Presserates vom 11. Juni 1992 i.S. A. c. „Blick“, Sammlung 1992, S. 7ff., Stellungnahme i.S. Televisione svizzera di lingua italiana vom 4. Mai 19
99, Sammlung 195, S. 33ff.). Dementsprechend ist berufsethisch auch eine etwas einseitige, parteiergreifende Berichterstattung zulässig, so lange dass bei schwerwiegenden Vorwürfen das Prinzip des „audiatur et altera pars“ berücksichtigt wird (vgl. hierzu zuletzt die Stellungnahme Nr. 4/99 vom 25. Januar/10. März 1999 i.S. Thermoselect c. „La Regione“). Im vom Beschwerdeführer beanstandeten Artikel wird der Kantonspolizei des Kantons Thurgau breiter Raum für eine Stellungnahme geboten, so dass hier die berufsethischen Mindestbedingungen bei weitem erfüllt sind.

2. Der Beschwerdeführer rügt weiter die Verzögerung des Abdrucks und die Kürzung seines Leserbriefs vom 21. Juli 1999. Auch diese Rüge ist zurückzuweisen. Redaktionen sind aus Platzgründen berechtigt, sich den Entscheid über die Veröffentlichung und die Kürzung von Leserbriefen vorzubehalten (vgl. hierzu z.B. die Stellungnahme Nr. 15/98 vom 15. Oktober 1998 i.S. B. c. „Basler Zeitung“, Sammlung 1998 S. 129ff. sowie zuletzt die Stellungnahme Nr. 19/99 i.S. B. c. „La Liberté“ vom 1. Oktober 1999).Dementsprechend wäre die Redaktion des „Tages-Spiegels“ grundsätzlich berechtigt gewesen, den Abdruck des Leserbriefes des Beschwerdeführers gänzlich abzulehnen, weshalb eine diesbezügliche Verletzung der berufsethischen Pflichten zu verneinen ist. Die von der Redaktion vorgenommenen Kürzungen waren entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers keineswegs sinnverzerrend, vielmehr waren sie auch deshalb notwendig, weil sie ehrverletzende Passagen enthielten. Aus Sicht des Presserates erstaunt einzig, weshalb vorerst allein ein in die gleiche Richtung wie der Artikel und der Kommentar vom 21. September 1999 zielender Leserbrief der Grünen Partei veröffentlicht wurde, während die Redaktion mit der Veröffentlichung des Leserbriefs des Beschwerdeführers mehr als eine Woche zuwartete.

3. Abschliessend ist die Rüge des Beschwerdeführers zu prüfen, wonach die Beschwerdegegnerin durch den Nichtabdruck seiner Entgegnung auf den am 30. Juli 1999 abgedruckten Leserbrief von Hans Eigenmann, eine unzulässige Zensur durch die Redaktion darstelle. Bei Berücksichtigung der oben angeführten Grundsätze zur Publikation von Leserbriefen ist diesbezüglich vorab festzuhalten, dass auch hier die Redaktion grundsätzlich wiederum allein bestimmen durfte, ob sie den Leserbrief abdrucken wollte. Es gibt auch keine berufsethische Pflicht eine Replik zu einem Leserbrief abzudrucken , sofern dies in den von einer Zeitung publizierten „Spielregeln“ für die Leserbriefseite nicht ausdrücklich vorgesehen wird (vgl. Stellungnahme des Presserates i.S. E. c. „Tages-Anzeiger“ vom 23. Oktober 1991, Sammlung 1991, S. 29ff.). Hinzu kommt, dass auch dieser Leserbrief Passagen enthält, die von der Redaktion von vornherein nicht abgedruckt werden durften. Trotzdem stellt sich hier die Frage, ob Redaktionen unkorrekt verfasste Briefe einfach zurückweisen sollen oder ob es zur Förderung des gesellschaftlichen Diskurses nicht ihre Aufgabe ist, solche Leserbriefe in eine korrekte Form zu bringen. Nach Auffassung des Presserates wäre es durchaus möglich gewesen, auch den zweiten Leserbrief durch Weglassung der schlimmsten Entgleisungen so zu redigieren, dass der Abdruck von der Redaktion hätte verantwortet werden können. Dies erscheint im Lichte des Fairnessprinzips auch unter dem Gesichtspunkt vertretbar, dass bereits zwei Leserbriefe der Grünen abgedruckt worden waren, von denen der zweite einen massiven Angriff auf den Beschwerdeführer enthielt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen den „Tagesspiegel“ wird als unbegründet abgewiesen.

2. Es dient der Förderung des gesellschaftlichen Diskurses, wenn Redaktionen unkorrekt verfasste, ehrverletzende Leserbriefe durch Weglassung der ehrverletzenden Passagen in eine korrekte Form bringen, statt deren Abdruck abzulehnen und sie an den Verfasser zurückzuweisen.