Nr. 8/1992
Stellungnahme des Presserates vom 23. Dezember 1992 zur Berichterstattung über Suizide

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Stellungnahme

Respektierung der Privatsphäre

1. Suizide und Suizidversuche sind eine soziale Realität. Sie können für die Massenmedien grundsätzlich kein Tabu sein.

2. Die Art und Weise, wie Menschen leben und sterben, gehört zu ihrer Privatsphäre. Berichte über den Tod eines Menschen bedeuten daher immer, dass die Grenze zum Intimbereich überschritten wird. Darum müssen die Massenmedien bei Suizidfällen grösste Zurückhaltung üben. Es gilt abzuwägen zwischen dem Schutz der Privatsphäre (Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person, Gefühle der Angehörigen) und dem Anspruch der Oeffentlichkeit auf Information. Im Zweifelsfall ist nicht zu berichten.

3. Suizidfälle können Gegenstand der Berichterstattung sein, – wenn sie grosses öffentliches Aufsehen erregen, – wenn sie im Zusammenhang mit einem von der Polizei gemeldeten Verbrechen stehen, – wenn sie Demonstrationscharakter haben und auf ein ungelöstes Problem aufmerksam machen wollen, – wenn dadurch eine öffentliche Diskussion ausgelöst wird – oder wenn Gerüchte und Anschuldigungen im Umlauf sind.

4. Ebenfalls ein Thema journalistischer Behandlung sind Häufungen von Suizidfällen in öffentlichen Institutionen (wie Gefängnissen, Kasernen, Heilanstalten, Heimen), weil sie Fragen aufwerfen, die die Leitung, den Führungsstil, den Umgangston und den psychischen Druck in den betroffenen Institutionen betreffen.

5. In allen Fällen gehören in die Berichterstattung keine Namen und Bilder der Personen, die Suizid begangen oder den Versuch der Selbsttötung unternommen haben, keine Bilder der Tatorte, keine Adressen und keine weiteren Angaben aus dem Bereich der Privatsphäre und der Krankengeschichten.

6. Nehmen sich Personen der Zeitgeschichte das Leben und steht ihr Handeln zumindest in einem vermuteten öffentlichen Zusammenhang, so hat die Oeffentlichkeit einen Anspruch auf Information. In diesem Fall muss der Name genannt werden; auch ein Bild ist zulässig. Aber auch hier ist grösste Zurückhaltung geboten in der Art der Schilderung.

7. Wegen der Gefahr der Nachahmung sind detaillierte Berichte über Suizide und Suizidversuche zu vermeiden. Dies gilt nicht nur für reale Fälle, sondern auch für fiktive in Kriminalfilmen, Beziehungsgeschichten, Milieufilmen usw. Die Frage der Medienwirkung ist beim Entscheid über die Publikation oder Ausstrahlung eines Berichtes über einen Suizidfall mitzuberücksichtigen.

Prise de position

Respect de la sphère privée

1. Les suicides et tentatives de suicides sont une réalité sociale. Ils ne peuvent constituer fondamentalement un tabou pour les médias.

2. La manière dont les hommmes vivent et meurent relève de leur sphère privée. Les informations relatives au décès d’une personne impliquent donc toujours que la limite de la sphère intime sera franchie. Les médias doivent donc, dans une affaire de suicide, faire preuve de la plus grande retenue. Il y a lieu de mettre dans la balance d’une part, la protection de la sphère privée (droit de la personnalité de la personne concernée, sentiments de ses proches) et d’autre part, le droit du public à être informé. En cas de doute, il y a lieu de s’abstenir de rendre compte.

3. Les suicides peuvent faire l’objet d’une information dans les cas suivants:

– En raison du grand écho public auquel ils ont donné lieu;

– Lorsqu’ils sont commis en relation avec un crime révélé par la police;

– Lorsqu’ils ont un caractère de manifestation et qu’ils visent à rendre l’opinion attentive à un problème non-résolu;

– Lorsqu’ils donnent lieu de ce fait à une discussion publique;

– Ou encore lorsque des bruits circulent et des accusations sont proférées.

De même la multiplication des suicides dans des institutions publiques (prisons, casernes, établissements de cure, homes, etc.), peuvent être traités journalistiquement s’ils soulèvent des questions touchant la direction, le mode de commandement, le contexte ou des pressions psychiques dans le cadre de l’institution en question.

5. Dans tous les cas, les noms et l’image des personnes qui se sont données la mort ou ont tenté de se la donner ne relèvent de l’information. Il en est de même des images du lieu, des adresses et de toute autre donnée qui relève de la sphère privée, ni, enfin, des informations relatives à l’état de santé des intéressés.

6. Si des personnalités de la vie publique s’ôtent la vie et qu’il y a entre cet acte au moins la présomption d’un rapport avec leurs activités officielles, l’opinion publique a le droit d’être informée. En ce cas, le nom peut être mentionné et une photographie peut être publiée. Mais même dans ce cas, il y a lieu de faire preuve de la plus grande retenue dans la manière de présenter les faits.

7. Compte tenu du danger d’instigation, des comptes rendus détaillés sur les suicides et tentatives de suicide doivent être évités. Cela ne vaut pas seulement pour des affaires qui se sont réellement passées, mais aussi pour des fictions tels que les films policiers, les films sur le milieu etc. Il y a lieu de se poser la question de l’influence du média au moment de décider de la publication ou de la diffusion d’information sur un suicide.

Presa di posizione

Rispetto della sfera privata

1. Suicidi e tentativi di suicido sono una realtà sociale e per gli organi d’informazione non sono, per principo, tabù.

2. Appartiene alla sfera privata di una persona l’atto di morire. La notizia della morte di una persona invade sempre i confini della sfera intima. Per questo motivo i casi di suicidio devono essere trattati dagli organi d’informazione con grande ritegno. La protezione della sfera privata (la personalità dell’individuo in questione, i sentimenti dei congiunti) e il diritto dell’opinione pubblica all’informazione devono essere oggetto di ponderazione. In caso di dubbio, non dev’essere pubblicato nulla.

3. Sui suicidi è possibile riferire,

– quando il caso abbia fatto sensazione nel pubblico; – quando vi sia relazione con un crimine riferito dalla polizia; – quando il gesto abbia carattere dimostrativo, intenda cioè attirare l’attenzione su un problema irrisolto; – quando ne scaturisca un pubblico dibattito; – quando si tratti di precisare voci o sospetti.

4. Possono essere ritenuti d’interesse giornalistico anche i suicidi ripetuti all’interno di pubblici istituti (carceri, caserme, ospedali psichiatrici, case per anziani) che aprano interrogativi sulla direzione, la gestione, il clima e la pressione psichica che vi sussistano.

5. Sono comunque da omettere i nomi e le fotografie delle persone che hanno commesso o tentato il suicidio, le fotografie del luogo, l’indirizzo delle persone e particolari attinenti alla sfera privata, per es. sulle malattie di cui soffrivano.

6. Persone di pubblica rilevanza o in relazione perlomeno presunta con un pubblico ufficio possono essere menzionate per nome; anche la pubblicazione di una foto, in questo caso, si giustifica. Nel riferire si deve comunque usare grande ritegno.

7. A causa del pericolo di imitazione si devono evitare i particolari sulle modalità del suicidio. Ciò vale non solo per i casi reali, ma anche per la finzione cinematografica o televisiva. Quando si tratta di suicidi, occorre sempre riflettere all’effetto di suggestione proprio degli organi d’informazione.

I. Sachverhalt

A. Am 2l. März 1992 berichtete die Luzerner Zeitung; über den Suizid der reformierten Pfarrerin von Littau-Reussbühl. Die Pfarrerin war in ihrer Gemeinde umstritten gewesen, und Gemeindemitglieder hatten Unterschriften gesammelt, um ihre Abwahl zu erwirken, aber das Quorum nicht erreicht. Die Kirchenpflege hatte sie für die neue sechsjährige Amtszeit zur Wiederwa
hl vorgeschlagen. Die Luzerner Zeitung titelte Tragischer Tod der Littauer Pfarrerin, und fragte im Untertitel Gibt es Zusammenhang mit einer Unterschriftensammlung? Im Kommentar wies Beat ‚.i.’Baumgartner vor allem auf die ungenügende Streit- und Konfliktkultur in der Kirchgemeinde hin. Andere Zeitungen griffen den Fall auf (so beispielsweise der „Blick“ und die „Berner Zeitung“). In der Regel wurde der Name der Pfarrerin erwähnt.

B. Veranlasst durch diesen Fall, rief am 30. März 1992 der Journalist Alex Höchli (Engelberg) den Presserat an und bat um eine grundsätzliche Klärung der Berichterstattung über Suizide. Er fragte:

„- In welcher Art und Weise – wenn überhaupt – soll über einen Suizidfall berichtet werden?

– Wenn grundsätzlich nein, gibt es Ausnahmefälle, in welchen von einer grundlegenden Regel abgewichen werden darf?“

Und er kommentierte: „Ein Freitod ist – so meine ich – eine intime und derart persönliche Handlung, dass dieser Akt auch nicht veröffentlichungswürdig ist. Dabei spielen zwei Aspekte eine Rolle:

– Der Respekt gegenüber der Person, die sich zu diesem Schritt entschlossen hat.

– Das soziale Umfeld (in diesem Fall Unterschriften sammelnde Kritiker der Pfarrerin) könnte in eine Schuldperspektive geraten, die es nicht verdient hat.“

C. Der Presserat beschloss, das Thema aufzugreifen und bei einer Anzahl Redaktionen nachzufragen, wie sie die Berichterstattung über Suizide handhabt. Dabei ersuchte er die Adressaten, zu drei – theoretischen – Fällen Stellung zu nehmen:

(1) Suizid eines 25jährigen Aids-Kranken, dessen Familie und er selber in seiner Umgebung zwar bekannt war, der aber im übrigen in der Oeffentlichkeit keine Rolle spielte.

(2) Suizid eines Pfarrers, der in seiner Gemeinde umstritten war.

(3) Suizid eines Alt-Nationalrates.

Angefragt wurden: „Neue Zürcher Zeitung“, „Tages-Anzeiger“, „Der Bund“, „Berner Zeitung“, „Luzerner Zeitung“, „Luzerner Neuste Nachrichten“, „La Liberté“, „Basler Zeitung“, „St. Galler Tagblatt“, „Thurgauer Zeitung“, „24 heures“, „Le Nouveau Quotidien“, „Journal de Genève“ und „La Suisse“. Die Umfrage fand im Juni und in einer Nachfass-Aktion nochmals Ende August 1992 statt. Geantwortet haben acht der 14 Redaktionen.

D. Aus den Antworten lässt sich entnehmen, dass die Medien die Berichterstattung über Suizide ähnlich handhaben und nur in Nuancen voneinander abweichen. Folgende Verhaltensregeln wurden genannt:

(1) Bei Suiziden herrscht grosse journalistische Zurückhaltung. Suizide sind zwar nicht an sich ein Tabu, aber in der Regel wird eher nicht berichtet. Der Entscheid, ob und wie berichtet wird, wird von Fall zu Fall gefällt (LNN, TA, BaZ, NQ, 24 h.)

(2) Grundsätzlich wird nicht berichtet, wenn sich jemand aus persönlichen, familiären, medizinischen oder anderen privaten Gründen das Leben genommen hat (LNN).

(3) Suizide, von denen die Redaktion (auf irgendeinem Weg) erfährt, werden in der Regel nicht gemeldet. Liegt jedoch eine Polizeimeldung vor, so ist eine Publikation denkbar, aber ohne Namensnennung (LZ). Vor allem Suizide im Zusammenhang mit Familiendramen werden erwähnt (BaZ).

(4) Ueber Suizide (oder Suizidversuche), die öffentliches Aufsehen erregen (Polizei- und Feuerwehreinsatz, Verkehrsstau, Volksauflauf etc.), wird berichtet (BaZ, TA).

(5) Ueber Suizide, die einen Demonstrationscharakter haben und die mithin auf ein Problem aufmerksam machen wollen (z.B. öffentliche Selbstverbrennung), wird in der Regel berichtet.

(6) Wenn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (Personen der Zeitgeschichte) durch Suizid sterben, so drängt sich eine Berichterstattung auf, – wenn die wahrscheinlichen Motive in einem Bezug zum Oeffentlichen (zum Amt, zu einem laufenden Verfahren) stehen (SGTgbl., LNN); – wenn der Tod zu einer öffentlichen Diskussion führt und die Zusammenhänge erörtert werden müssen (LZ); – wenn der selbstgewählte Tod seit langem angekündigt war – wie zum Beispiel bei Jean Améry (BaZ).

(7) Bei allen Berichterstattungen ist Rücksicht zu nehmen auf die Persönlichkeitsrechte der verstorbenen Person, auf die Gefühle der Angehörigen und auf die Pietät (LZ, TGZtg.).

(8) Aus all dem ergibt sich auch das Verhalten gegenüber den drei zur Diskussion gestellten – theoretischen – Fallbeispielen:

– 25jähriger Aids-Kranker: Die meisten Zeitungen würden nichts publizieren. Falls der Suizid bekannt wäre und in der Oeffentlichkeit diskutiert würde, könnte man ihn nicht vertuschen (LNN). Dabei wäre auch das Verhalten der Familie von Belang (TGZtg.). Diese könnte beispielsweise bewusst auf die Aids-Problematik hinweisen wollen. Falls der Fall exemplarischen Charakter aufweist, wäre ohne Namensnennung darüber zu berichten (NQ).

– In der Gemeinde umstrittener Pfarrer: Wenn der Pfarrer im Mittelpunkt einer öffenlichen Auseinandersetzung gestanden hat, wäre darüber zu berichten (BaZ, LNN, LZ). Mögliche Zusammenhänge zwischen Amtstätigkeit und Tod wären subtil herauszuarbeiten. Dabei müsste man einen Mittelweg zwischen Informationsaufgabe, Rücksicht auf die Angehörigen und Pietät finden (TGZtg.). Wenn in der Oeffentlichkeit Fragen und Gerüchte im Zusammenhang mit dem Tod auftauchen, besteht eine Informationspflicht (LZ, NQ).

– Alt-Nationalrat: Kriterium dafür, ob ein Bericht gerechtfertigt ist, wäre die politische Rolle, die der Verstorbene gespielt hat, der geographische Bezug des Mediums zur betreffenden Person sowie die öffentliche Relevanz der möglichen Suizid-Motive (TA, LNN, SGTgbl.). Auch hier können Gerüchte und Fragen in der Oeffentlichkeit eine Informationspflicht begründen (NQ). Eine Rolle spielen die Umstände bzw. die Offenkundigkeit des Suizids (24 h.). Insgesamt wäre in diesem Fall die Bereitschaft zu berichten am grössten.

II. Erwägungen

1. Die Suizidrate ist in der Schweiz im internationalen Vergleich verhältnismässig hoch. Jährlich werden 1500 Suizide gezählt, das sind täglich vier. Nur Ungarn, die frühere DDR, Finnland, Dänemark, Oesterreich und Belgien weisen in Europa eine höhere Suizidrate auf als die Schweiz. Die WHO-Statistik, die die Zahl der Suizide auf je 100’000 Einwohner misst, kam für 1988 (und zum Teil für frühere Stichjahre) auf folgende Werte:

Land Total Männer Frauen

Ungarn (1988) 39,9 59,6 23,0 DDR (1974) 34,2 48,3 23,6 Finnland (1987) 26,7 43,6 11,4 Dänemark (1988) 24,7 32,2 17,5 Oesterreich (1988) 22,6 35,6 11,6 Belgien (1986) 21,0 30,1 13,3 Schweiz (1988) 20,7 30,8 11,5 Sowjetunion (1987) 20,7 35,2 9,3 Frankreich (1987) 19,7 29,9 11,0 Yugoslawien (1987) 18,4 27,2 10,8 Tschechoslowakei (1974) 18,1 28,5 9,0 Luxemburg (1988) 17,3 27,3 7,9 Schweden (1987) 17,3 24,7 10,2 Island (1988) 16,1 27,2 4,9 Bulgarien (1987) 16,0 24,6 8,5 Deutschland (1988) 15,5 23,5 8,9 Norwegen (1987) 15,4 23,2 8,0 Polen (1988) 13,0 22,3 4,5 Niederlande (1988) 10,1 13,3 7,3 Grossbritannien (1988) 8,3 12,6 4,3 Portugal (1988) 7,9 13,4 3,4 Irland (1987) 7,9 12,0 4,2 Italien (1986) 7,6 11,7 4,2 Spanien (1985) 6,6 10,4 3,4 Griechenland (1987) 3,9 5,8 2,1 Malta (1988) 2,3 4,1 0,5

Auffällig ist, dass die Rate der Männer überall höher ist als die der Frauen. Ausserdem ist die Rate bei älteren Leuten höher als bei jüngeren. Die Daten deuten ferner darauf hin, dass Suizide besonders häufig sind in Ueberflussgesellschaften, in städtischen Verhältnissen, bei vereinsamten Menschen, bei Personen in zerrütteten Familien, bei Alkoholikern, Rauschgiftsüchtigen, Strafgefangenen. Suizidversuche hingegen kommen bei jungen Menschen und bei Frauen stärker vor als bei älteren Leuten und bei Männern. Man nimmt an, dass die Zahl der Versuche acht bis zehn mal höher ist als die Zahl der Suizide. Aber auch die Suizidrate ist in Wirklichkeit wahrscheinlich höher. Man geht davon aus, dass es eine Dunkelziffer gibt, da nicht alle Suizide amtlich festgestellt werden können. Fachleute beschreiben den Suizid als Ausdruck sozialer Desintegration, als eine Handlung, bei
der immer auch psychopathologische Faktoren im Spiel sind. Menschen, die Suizid begehen, stecken in einer hoffnungslos scheinenden Situation der Verzweiflung, in der Suizid als der einzige Ausweg erscheint. In Europa bringen sich jährlich mehr als 100’000 Menschen um. Das heisst: Suizide sind eine soziale Realität, gerade auch in der Schweiz.

2. Gleichzeitig stellten Suizide im Laufe der Geschichte immer auch ein Tabu dar, über das man nicht spricht. Sich selber umzubringen galt als verwerflich, und wer es versuchte oder vollzog, war gesellschaftlich geächtet. Selbstmörder wurden vielfach nachträglich gepfählt und jedenfalls nicht schicklich begraben. Die Tat war ein Stigma für die Angehörigen. Die katholische Kirche hat sich immer gegen den Suizid gewandt, und so ist es nicht überraschend, dass in vielen noch stark katholisch geprägten Gesellschaften (Malta, Italien, Spanien, Portugal, Irland) die Suizidrate tief ist. Zwar sind der Suizid und der Suizidversuch in der Gesetzgebung der europäischen Staaten heute nicht mehr strafbar. Grossbritannien hob allerdings die Strafbarkeit des misslungenen Versuchs erst 1961 auf, und die Beteiligung ist nach wie vor strafbar in Italien, Japan, Oesterreich, Spanien, Ungarn und den Niederlanden. Auch die Schweiz stellt die Verleitung zum Selbstmord unter Strafe (Art. 115 StGB). Grundsätzlich wird aber in den Rechtsordnungen der freiverantwortliche Willensentscheid der Menschen, die ihrem Leben ein Ende bereiten wollen, respektiert. Umstritten ist allerdings, ob in einer Verzweiflungssituation, wie sie einem Suizid vorausgeht, der Wille überhaupt frei sein kann, ob tatsächlich eine Wahl besteht, ob mithin die Selbsttötung „freiwillig“ geschieht. Aber es gilt: „Der Suizid wird sozialethisch missbilligt, rechtlich aber weitgehend zugunsten der Privatautonomie toleriert“ (Kaiser, S. 32).

3. Wir stehen demnach vor folgender Situation: Die Rechtsordnung erlaubt den Suizid, aber die gesellschaftliche Moral missbilligt ihn. Zwar gibt es die Organisation „Exit“, deren Mitglieder sich auf einen allfälligen, ja wahrscheinlichen Suizid vorbereiten. Aber die Mehrheit der Bevölkerung empfindet Selbsttötungen immer noch als tragisch, als schrecklich, ja geradezu als Schande für die betroffene Familie. Die Angehörigen erleben den Suizid als Anklage, als Vorwurf des eigenen Versagens, als Katastrophe und versuchen – hin- und hergerissen zwischen Gefühlen der Schuld und Bedürfnissen nach Freispruch – dem Vorfall möglichst wenig Oeffentlichkeit zu verschaffen. Haben die Massenmedien den Auftrag, Oeffentlichkeit trotzdem herzustellen? In der Regel wohl kaum. Da es sich um keinen Straftatbestand handelt, muss nicht darüber berichtet werden wie über Vergehen und Verbrechen, die der Staat ex officio verfolgt. Und da die Art, wie die Menschen leben und sterben, zur Privatsphäre gehört, besteht für die Massenmedien im Prinzip kein Anlass, in diese Privatsphäre einzudringen. Der Persönlichkeitsschutz verbietet es geradezu. Etwas anderes ist es, wenn öffentlich relevante Motive zum Suizid geführt haben, wenn eine Person des öffentlichen Lebens in öffentlich relevantem Zusammenhang betroffen ist oder wenn eine öffentliche Diskussion stattfindet.

4. Die „Erklärung der Pflichten und Rechte des Journalisten“, vom Verband der Schweizer Journalisten 1972 verabschiedet und Grundlage der Arbeit des Presserates, hält in Art. 7 fest: „Er – der Journalist – respektiert die Privatsphäre des Einzelnen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Er unterlässt anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen.“

Der Presserat hat sich erst einmal zur Problematik der Suizide geäussert, nämlich durch den „avis du président“ vom 7. Juli 1989. Darin hielt Präsident Bernard Béguin fest, dass die Massenmedien bei Suiziden abwägen müssten zwischen dem Respekt der Privatsphäre und den Interessen der Oeffentlichkeit und dass sie mit gutem Grund meist sehr zurückhaltend seien, dass aber bei Suiziden in Gefängnissen und in Kasernen ein offensichtliches öffentliches Interesse an Informationen bestehe.

Der deutsche Presserat hingegen hat eine Richtlinie (8.4) formuliert, die sich mit der Selbsttötung befasst und die lautet: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte handelt und dabei öffentliches Interesse an der Berichterstattung besteht.“

Dreimal war der deutsche Presserat gezwungen, diese Richtlinie anzuwenden:

a) 1987/88 berichtete eine Boulevardzeitung mehrmals über einen 18jährigen, der wiederholt versucht hatte, von einer Brücke zu springen, um sich das Leben zu nehmen. In einem Fall hatte der junge Mann von einem Dach aus mit Ziegeln um sich geworfen. Die Boulevardzeitung beschrieb die jeweiligen Rettungsmassnahmen von Angehörigen, Polizei und Feuerwehr, über Absperrmassnahmen auf der Brücke, Verletzungsfolgen sowie über psychotherapeutische Folgemassnahmen, die unter anderem durch die Behörden veranlasst wurden. Eine Wohlfahrtsorganisation, die den Jugendlichen betreute, sah ihn durch die Berichterstattung zum Gespött seiner Umgebung gemacht. Die Zeitung hingegen hielt ein öffentliches Informationsinteresse für gegeben, da die Handlungen des Betroffenen zu jeweils gravierenden polizeilichen Massnahmen geführt hätten.

Der deutsche Presserat anerkannte, dass über die zahlreichen spektakulären Aktionen des Jugendlichen, die öffentliches Aufsehen erregt hatten, grundsätzlich berichtet werden durfte. Aber er kritisierte die herabwürdigende Art und Weise der Berichterstattung: Mit Namensnennung und Fotos seien der Betroffene ins Lächerliche gezogen und seine Intimsphäre verletzt worden. „Verhaltensgestörte Menschen kann man nicht in dieser Weise wiederholt in der Oeffentlichkeit zur Schau stellen. Die besondere Schutzbedürftigkeit dieses Menschen hätte durch eine bessere Recherche bestätigt werden können und zu einer zurückhaltenderen Berichterstattung führen müssen“, stellte der Presserat fest. Er betrachtete die entsprechende Bestimmung des Pressekodex als verletzt. (B 63/88)

b) Eine Lokalzeitung berichtete 1989 über den Versuch einer Frau, sich durch einen Sprung vom Dach ihres Wohnhauses das Leben zu nehmen. Aus dem Bericht war zu erfahren, dass die Frau unter Depressionen leide und zur psychiatrischen Behandlung in die Landesnervenklinik gebracht worden sei. Ein Foto zeigte das Wohnhaus der Frau, die Bildlegende nannte den Namen des Ortes und der Strasse. Eine Leserin der Lokalzeitung sah in dem Bericht eine unzulässige Verbreitung von Informationen über Krankheitszustände mit unkalkulierbaren Auswirkungen.

Der deutsche Presserat liess auch in diesem Fall keinen Zweifel daran, dass die Zeitung grundsätzlich über diesen Versuch einer Selbsttötung berichten durfte. Seine Kritik richtete sich jedoch gegen die Art und Weise, in der die Zeitung persönliche Details der Frau mitteilte und damit bewirkte, dass sie in dem kleinen Ort erkennbar und blossgestellt wurde. Insbesondere hielt der Presserat die Angaben über die Wohnung und die Krankheit der Frau sowie die Abbildung ihres Wohnhauses für unzulässig. Auch die Mitteilung, die Frau sei in eine Nervenklinik eingeliefert worden, wäre nach Ansicht des Presserates besser unterblieben, da sie den Anschein erweckt, als sei die Einweisung in diesem Zusammenhang etwas Aussergewöhnliches. „Einzelheiten aus der Persönlichkeitsphäre eines Menschen dürfen in dieser Form nicht an die Oeffentlichkeit gebracht werden. Auch entsprechende Mitteilungen der Polizei entbinden die Redaktion nicht von ihrer Verpflichtung, sensibel zwischen den Interessen betroffener Einzelpersonen und denen der Oeffentlichkeit abzuwägen“, schreibt der deutsche Presserat. Auch in dieser Berichterstattung sah er einen Verstoss gegen den Pressekodex. (B 54/88)

c) Am 10. Dezember 1991 berichtete die Kölner Boule
vardzeitung „Express“ unter dem Titel „Düsseldorfer Superintendent beging Selbstmord wegen Krebsleiden. Pfarrer starb im Baggersee“ über die Umstände des Freitods eines seit 25 Jahren amtierenden Geistlichen. Die Veröffentlichung enthielt Name, Dienst- und Lebensalter, Adresse sowie Bild des Verstorbenen. Der Beschwerdeführer sah die Persönlichkeitsrechte, das Privatleben und die Intimsphäre des Geistlichen verletzt. Ausserdem verstosse der Artikel gegen die Sorgfaltspflicht, denn er basiere nur auf Gerüchten. Es treffe nicht zu, dass der Geistliche an Krebs erkrankt sei. Die Zeitung verwies auf den ungewöhnlichen Vorgang und auf den Rang der Persönlichkeit. Beides hätte sie zu einer Berichterstattung verpflichtet.

Der deutsche Presserat sah auch hier einen schwerwiegenden Verstoss gegen den Pressekodex. Er hielt die Namensnennung, Fotoveröffentlichung und die detaillierte Schilderung der näheren Begleitumstände für unzulässig. Ein überwiegendes öffentliches Interesse sei nicht gegeben gewesen. (B 23/92)

5. In den Erwägungen des deutschen Presserates fällt auf, dass nicht nur die Namensnennung und die Fotos im Zusammenhang mit Suiziden oder Suizidversuchen kritisiert werden, sondern auch die detaillierte Schilderung des Ablaufs. Und hier liegt ein weiteres Problem, das vor allem die Massenmedien betrifft: jenes der Nachahmung. Schon 1838 empfahl der Franzose Esquirol in seinem Werk „Die Geisteskrankheit in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde“ den Zeitungsleuten, Selbstmorde nicht detailliert zu schildern. Die British Medical Association beantragte 1948, dass Pressemitteilungen über Suizide verboten würden, weil sonst andere Menschen dazu verleitet würden, die Tat nachzuahmen. Der Verdacht, dass es einen Nachahmungseffekt gebe, besteht folglich seit langem. Dabei stellt sich die Frage, ob detaillierte Berichte einen Einfluss ausüben auf die Zahl der Suizide – mehr Suizide nach einer entsprechenden Berichterstattung – oder ob sie bloss einen Einfluss haben auf die Modalitäten der Suizide – gleiche Art der Selbsttötung wie im Bericht. Die einen Autoren verweisen darauf, dass bislang nur Belege existieren für einen Einfluss auf die Art und Weise der Suizide. Andere Autoren zitieren Untersuchungen, die auch Veränderungen in der Selbstmordhäufigkeit nachweisen. In verschiedenen Grosstädten der USA wurde in den sechziger Jahren untersucht, ob bei einem längerdauernden Zeitungsstreik sich die Suizidrate im betroffenen Gebiet verändert. Es zeigte sich, dass die Suizidrate in den meisten Städten während des Streiks geringer war, aber nicht siginifikant. Zeitungsstreike in New York (1966) und Detroit (1967/68) führten zur Feststellung, dass in dieser Zeit die Selbstmordrate der Männer anstieg, jene der Frauen, vor allem der jüngeren, aber deutlich sank. Dabei ist anzumerken, dass in New York nicht alle Zeitungen bestreikt wurden und dass in der Beobachtungszeit stets Radio und Fernsehen als Informationsmittel zur Verfügung standen. Ein statistisch einwandfreier Beweis für oder gegen die „Ansteckung“ war jedenfalls mit dieser Methode nicht möglich.

Statt die Suizidrate in einer medienlosen Periode zu untersuchen, kann auch abgeklärt werden, ob die Suizidrate nach gross aufgemachten Medienberichten über Selbstmorde ansteigt. Für England und die USA konnte nachgewiesen werden, dass unmittelbar nach einem entsprechenden Bericht über einen Suizid in den Tageszeitungen die Zahl der Suizide in der Beobachtungsperiode 1947-1968 zugenommen hat. Je mehr über einen Suizidfall berichtet wurde, je mehr er publik und populär wurde, umso mehr stieg die Zahl der Suizide in der Folge an. Empirische Untersuchungen belegen auch, dass nach publizierten Suizidfällen die Motorfahrzeugunfälle ansteigen (und damit verbunden ist die Erkenntnis, dass bei Verkehrsunfällen bewusste und unbewusste Suizidabsichten eine wesentliche Rolle spielen). Berichte über spektakuläre Selbstmorde (zum Beispiel: Sturz vom Eiffelturm, Sturz von der Golden Gate Bridge) führten jeweils sofort zu zahlreichen Nachahmungen, zu einer eigentlichen „Epidemie“. 1978/79, nach der politisch motivierten Selbstverbrennung von Lynette Philipps vor dem Palais des Nations in Genf, kam es in England und Wales zu 82 Selbstverbrennungen – aus den unterschiedlichsten Gründen.

1981 und 1982 strahlte das ZDF die sechsteilige Serie „Tod eines Schülers“ aus, in der sich ein 19jähriger vor einen fahrenden Zug wirft. Eine Untersuchung ergab, dass in der Bundesrepublik Deutschland die mit gleicher Methode durchgeführten Selbstmorde in der Zeitspanne der Sendung und unmittelbar danach erheblich anstiegen. Schmidtke und Häfner, die Autoren dieser Untersuchung, stellten fest, dass es mit ihrer Studie erstmals gelungen sei, die lange verfolgte Hypothese, nämlich das Lernen am fiktiven Modell als Anstoss für Selbstmordhandlungen, zu belegen. Die Studie sei daher auch von grosser Bedeutung für die Verantwortung der Medien. Thomas Haenel meint, dass sich die Presse der Tragweite ihrer Berichte meist nicht bewusst ist. Und er stellt fest, nach den Untersuchungen von Schmidtke und Häfner müsse heute als gesichert gelten, dass nach entsprechenden Berichten durch die Medien auch Personen „angesteckt“ werden, die sonst wohl nie eine Suizidhandlung unternehmen würden. (S. 116)

III. Feststellungen

Aus diesen Gründen hält der Presserat fest:

1. Suizide und Suizidversuche sind eine soziale Realität. Sie können für die Massenmedien grundsätzlich kein Tabu sein.

2. Die Art und Weise, wie Menschen leben und sterben, gehört zu ihrer Privatsphäre. Berichte über den Tod eines Menschen bedeuten daher immer, dass die Grenze zum Intimbereich überschritten wird. Darum müssen die Massenmedien bei Suizidfällen grösste Zurückhaltung üben. Es gilt abzuwägen zwischen dem Schutz der Privatsphäre (Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person, Gefühle der Angehörigen) und dem Anspruch der Oeffentlichkeit auf Information. Im Zweifelsfall ist nicht zu berichten.

3. Suizidfälle können Gegenstand der Berichterstattung sein, – wenn sie grosses öffentliches Aufsehen erregen, – wenn sie im Zusammenhang mit einem von der Polizei gemeldeten Verbrechen stehen, – wenn sie Demonstrationscharakter haben und auf ein ungelöstes Problem aufmerksam machen wollen, – wenn dadurch eine öffentliche Diskussion ausgelöst wird – oder wenn Gerüchte und Anschuldigungen im Umlauf sind.

4. Ebenfalls ein Thema journalistischer Behandlung sind Häufungen von Suizidfällen in öffentlichen Institutionen (wie Gefängnissen, Kasernen, Heilanstalten, Heimen), weil sie Fragen aufwerfen, die die Leitung, den Führungsstil, den Umgangston und den psychischen Druck in den betroffenen Institutionen betreffen.

5. In allen Fällen gehören in die Berichterstattung keine Namen und Bilder der Personen, die Suizid begangen oder den Versuch der Selbsttötung unternommen haben, keine Bilder der Tatorte, keine Adressen und keine weiteren Angaben aus dem Bereich der Privatsphäre und der Krankengeschichten. Stets ist abzuwägen, ob in Nachrufen für Personen, die Suizid begangen haben, auf die Todesursache überhaupt hingewiesen werden muss.

6. Nehmen sich Personen der Zeitgeschichte das Leben und steht ihr Handeln zumindest in einem vermuteten öffentlichen Zusammenhang, so hat die Oeffentlichkeit einen Anspruch auf Information. In diesem Fall muss der Name genannt werden; auch ein Bild ist zulässig. Aber auch hier ist grösste Zurückhaltung geboten in der Art der Schilderung.

7. Wegen der Gefahr der Nachahmung sind detaillierte Berichte über Suizide und Suizidversuche zu vermeiden. Dies gilt nicht nur für reale Fälle, sondern auch für fiktive in Kriminalfilmen, Beziehungsgeschichten, Milieufilmen usw. Auch im Infotainment ist Zurückhaltung angebracht. Die Frage der Medienwirkung ist beim Entscheid über die Publikation oder Ausstrahlung eines Berichtes über einen Suizidfall mitzuberücksichtigen.