Nr. 23/2009
Respektierung der Privatsphäre/Anhörung bei schweren Vorwürfen/Wahrheits- und Berichtigungspflicht

(X. c. «Blick») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 24. April 2009

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I. Sachverhalt

A. Am 25 April 2008 berichtete Beat Michel im «Blick» unter dem Titel «Kifferparadies im Eigenheim» über eine Hausdurchsuchung und Beschlagnahmung von Drogenhanf durch die Zürcher Kantonspolizei. Der Lead lautete: «Diese Frau braucht keinen Garten, damit ihre 5 Kinder im Grünen aufwachsen – sie hat eine Hanfplantage im Keller.» Laut Augenzeugen hätten die Beamten «Dutzende von Hanfpflanzen mit einem Kleinlaster abtransportiert. Zudem beschlagnahmten die Polizisten eine Bewässerungsanlage, Pumpen, Rohre und Ventilatoren. Versteckt war die Drogenplantage im Keller eines zweistöckigen Einfamilienhauses.» Vor einundeinhalb Jahren sei die Polizei schon einmal bei der «erfahrenen Marihuana-Züchterin» gewesen. «Auch damals hatte sich die Zürcherin ein illegales Kifferparadies ergärtnert. (…) Der Tierschutz war gestern ebenfalls bei der Hanfpflanzerin zu Besuch. Er holte mehrere Kartäuser-Katzen aus der Zucht der Frau ab.» Im Text wurde der Name des Ortes erwähnt. Zudem erfuhr die Leserschaft, bei welcher Firma – einem Grossverteiler – die «erfahrene Marihuana-Züchterin» arbeitet.

B. Am 28. Mai 2008 gelangte X., mit einer Beschwerde an den Presserat. «Blick» habe im obengenannten Artikel über eine Hanfrazzia in ihrem Haus berichtet, ohne mit ihr Rücksprache zu nehmen. An sich habe sie keinen Einwand gegen eine Veröffentlichung gehabt, nur müssten die Fakten stimmen. Obwohl sie von «Blick» mehrmals eine Berichtigung verlangt habe, sei nie etwas geschehen. Entgegen dem Bericht sei sie keine erfahrene Hanfzüchterin. Ebenso wenig habe sie bereits eineinhalb Jahre vorher ein «Kifferparadies ergärtnert». Vielmehr habe sie der Polizei einen Einbruch melden müssen. «Der Täter ist gefasst, Verfahren noch hängig.» Schliesslich sei es zwar richtig, dass sie seit 22 Jahren Kartäuser-Katzen züchte. Der Tierschutz sei aber noch nie in ihrem Haus gewesen. Soweit sie die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» als Laie verstehe, habe «Blick» mit der Veröffentlichung des beanstandeten Berichts die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 5.1 (Berichtigung von Falschmeldungen) und 7.6 (Namensnennung) verletzt.

C. Am 1. September 2008 beantragte die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit der Presserat überhaupt darauf eintrete. Da die Beschwerdeführerin aufgrund des Berichts in keiner Art und Weise erkennbar sei – «es werden weder ihr Vorname noch Initialen noch ihr Alter noch die Adresse genannt, es gibt kein Bild von ihr oder auch nur vom Haus -, ist der Beschwerde von vorne herein die Grundlage entzogen. (…) Nur Personen aus ihrem engsten Umfeld, die sie aber kennen, können allenfalls auf die Beschwerdeführerin schliessen.» Der Arbeitgeber sei mit der «privaten Angelegenheit» der Beschwerdeführerin nicht in Verbindung gebracht worden. Auch wenn der Keller fremdvermietet war, sei jedenfalls nicht bestritten, dass dort eine Hanfplantage war, die von der Polizei beschlagnahmt wurde. «Es ist im Übrigen schwer vorstellbar, dass die Beschwerdeführerin nicht hätte Anlass haben müssen, sich über das, was ihr angeblicher Mieter im Keller so macht, nicht einige Gedanken zu machen. Pumpen, Rohre und Ventilatoren sowie eine Bewässerungsanlage müssen doch einem durchschnittlich aufmerksamen Vermieter in einem Einfamilienhaus irgendwann auffallen; es geht hier nicht um ein Kellerabteil im 3. Untergeschoss eines anonymen Mehrfamilienhauses mit Dutzenden von Wohnungen und Kellern. (…) Bezüglich des Polizeieinsatzes von vor einem Jahr und der Katzen hält meine Mandantschaft an ihrer Darstellung fest. Es liegen ihr die entsprechenden Informationen vor (…) Da es in beiden Fällen nicht um einen schweren Vorwurf geht, wurde allenfalls etwas Unzutreffendes berichtet, das aber kein ‹schwerer Vorwurf› im Sonne von Richtlinie 3.8 darstellt.»

D. Am 5. September 2008 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 24. April 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 7 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, die Privatsphäre des einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil gebietet. Gestützt auf diese Bestimmung ist nach ständiger Praxis des Presserats vorbehältlich von eng begrenzten Ausnahmen nicht nur eine namentliche, sondern generell eine identifizierende Berichterstattung zu unterlassen. Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält entsprechend fest, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden».

b) War die Beschwerdeführerin aufgrund der beanstandeten Berichterstattung über das engere Umfeld hinaus identifizierbar? Bei einem Wohnort mit mehreren tausend Einwohnern erscheint dies trotz der zusätzlichen Angaben unwahrscheinlich. Kein öffentliches Interesse bestand hingegen daran, in einem derartigen Bericht den Arbeitgeber der Frau namentlich zu erwähnen. Die Nennung des Berufs der Frau hätte es auch getan. Mit der namentlichen Erwähnung des Arbeitgebers nahm «Blick» in Kauf, dass der Arbeitgeber die Mitarbeiterin aufgrund der weiteren Angaben des Berichts identifizieren konnte. Selbst wenn die Beschwerdeführerin nicht geltend macht, vom Arbeitgeber auf den Medienbericht angesprochen worden zu sein oder dass ihr in diesem Zusammenhang gar Unannehmlichkeiten entstanden wären, ist eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre) deshalb zu bejahen.

2. a) Enthält ein Medienbericht schwere Vorwürfe gegen einen Dritten, ist dieser gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» dazu anzuhören und ist die Stellungnahme im Bericht angemessen wiederzugeben. Der Presserat hat in seiner Stellungnahme 21/2007 (vgl. zuvor schon die Stellungnahme 8/2000) daran festgehalten, dass die Anhörung bei schweren Vorwürfen auch bei einer an sich anonymisierten Berichterstattung zwingend ist, sofern der von schweren Vorwürfen Betroffene aufgrund der Medienberichts zumindest für sein näheres soziales Umfeld erkennbar ist.

b) Dies ist im konkreten Fall – wie auch die Beschwerdegegner indirekt einräumen – aufgrund der im Bericht enthaltenen Angaben (Wohnort, Arbeitgeber, Anzahl Kinder, Zucht von Kartäuser-Katzen) ohne weiteres zu bejahen. Die im Artikel erhobenen Vorwürfe – die Beschwerdeführerin sei eine erfahrene Marihuana-Züchterin; die Polizei sei deswegen nicht zum ersten Mal bei ihr vorbeigekommen; zudem habe der Tierschutz mehrere Katzen aus ihrer Zucht abgeholt – wiegen schwer. Deshalb hätte «Blick» die Beschwerdeführerin vor der Veröffentlichung anhören und ihrer Sachverhaltsdarstellung im Artikel kurz und fair Raum geben müssen.

3. Ob «Blick» darüber hinaus auch gegen die Wahrheits- und die Berichtigungspflicht (Ziffern 1 und 5 der «Erklärung») verstossen hat, kann der Presserat anhand der ihm vorliegenden Unterlagen nicht beurteilen. Insbesondere legt die Beschwerdeführerin keine Unterlagen vor, die zumindest darauf hindeuten würden, dass nicht sie, sondern zwei Mieter die Hanfplantage im Keller ihres Hauses angelegt hätten. Gemäss von der Beschwerdeführerin eingereichten – und als «korrekt» bezeichneten – weiteren Medienberichten über den Polizeieinsatz war zu diesem Zeitpunkt noch «unklar», wer die Hanfanlage betrieb. Ebenso geht die Sachverhaltsdar
stellung der Parteien in Bezug auf die angeblichen früheren polizeilichen Ermittlungen gegen die Beschwerdeführerinnen wegen Marihuana-Anbaus sowie der von «Blick» behaupteten Intervention des Tierschutzes diametral auseinander. Der Presserat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, ein Beweisverfahren über bestrittene Sachverhalte durchzuführen (vgl. z.B. die Stellungnahmen 34/2007, 3/2008). Im Ergebnis ist eine Verletzung der Ziffern 1 und 5 der «Erklärung» deshalb zu verneinen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «Kifferparadies im Eigenheim» in der Ausgabe vom 25. April 2008 die Ziffern 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

4. «Blick» hat die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigung von Falschmeldungen) der «Erklärung» nicht verletzt.