Nr. 73/2012
Respektierung der Privatsphäre / Opferbilder

(«Blick», «L’illustré», «Schweizer Illustrierte») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 9. November 2012

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Zusammenfassung

Carunfall Siders: Unerlaubte Opferbilder
Angehörige müssen Publikation zustimmen

Dürfen Medien bei aufsehenerregenden Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen ausnahmsweise Opferbilder veröffentlichen, damit die Öffentlichkeit am Leid der Hinterbliebenen Anteil nehmen kann? Für den Presserat ist dies nur zulässig, wenn die Hinterbliebenen der Publikation ausdrücklich zustimmen. Dies gilt auch dann, wenn Bilder von Todesopfern bei Gedenkanlässen allgemein zugänglich sind. Nur wenn die Angehörigen explizit einwilligen, dürfen Journalisten in ihren Berichten Opfer bildlich herausheben.

Im März 2012 starben bei einem Carunfall im Wallis 28 belgische Staatsangehörige, vor allem Kinder. Medien in Belgien und anderen europäischen Ländern – in der Schweiz namentlich «Blick», «Schweizer Illustrierte» und «L’illustré» – brachten Fotos von Unfallopfern. Dies stiess sowohl in Belgien als auch in der Schweiz auf Kritik und veranlasste den Schweizer Presserat, den Fall von sich aus aufzugreifen.

Der Presserat attestiert den drei Redaktionen, die Opfer nicht in sensationeller Weise darzustellen. In Bezug auf die Privatsphäre hält das Selbstkontrollorgan der Medienbranche hingegen fest, dass Journalisten Fotos verstorbener Opfer eines Unfalls nur dann zeigen dürfen, sofern die Angehörigen die Bilder explizit zur Veröffentlichung freigeben. Dies gilt auch, wenn Bilder von Todesopfern in einer Gedenkkapelle und bei öffentlichen Trauerfeiern zugänglich sind. Ebenso wenig dürfen Medien Bilder aus dem allgemein zugänglichen Blog eines Skilagers voraussetzungslos weiterverbreiten.

Résumé

Accident de car à Sierre: photos non autorisées de victimes
La publication requiert l’approbation des proches

Les médias peuvent-ils, lors d’accidents spectaculaires, de catastrophes ou de crimes, publier exceptionnellement des photos de victimes afin que le public puisse prendre part au deuil des survivants? Pour le Conseil de la presse, cela n’est admissible qu’avec l’autorisation expresse des proches. Il en va de même s’agissant d’images de défunts exposées en public lors de cérémonies funéraires, les journalistes ne peuvent mettre les victimes en évidence par l’image qu’avec l’accord explicite des proches.

En mars 2012, 28 personnes de nationalité belge (essentiellement des enfants) ont péri dans un accident d’autocar en Valais. Les médias, belges et européens – en Suisse, «Blick», «Schweizer Illustrierte» et «L’illustré» notamment – ont publié des photos de victimes de l’accident. Cela a suscité des protestations en Belgique aussi bien qu’en Suisse, et incité le Conseil suisse de la presse à se saisir du cas de sa propre initiative.

Le Conseil de la presse reconnaît que les trois rédactions n’ont pas consacré un traitement par trop sensationnel aux victimes. Eu égard à la sphère privée, l’organe d’autocontrôle de la presse relève par contre que les journalistes ne peuvent rendre publiques des photos de victimes décédées lors d’un accident sans l’approbation formelle des proches. Cela vaut également pour des images de victimes rendues publiques dans une chapelle ardente ou lors d’une cérémonie funéraire. De même, les médias ne sont pas autorisés à diffuser sans nouvelle autorisation des images reprises sur le blog d’un camp de ski.

Riassunto

il dramma di Sierre: le foto delle vittime non dovevano essere pubblicate
Occorreva il consenso dei parenti

Nel caso di infortuni, catastrofi o crimini di grande risonanza, possono i media eccezionalmente pubblicare la foto delle vittime, come segno di partecipazione al dolore delle famiglie colpite? Per il Consiglio della stampa, la pubblicazione è consentita solo con l’accordo esplicito dei congiunti. Ciò vale anche nel caso in cui le foto delle vittime siano state esposte al pubblico nel corso dei funerali o di  cerimonie in memoria. Le immagini delle vittime destinate a pubblicazione devono essere autorizzate esplicitamente dai parenti.

Il Consiglio della stampa aveva deciso di propria iniziativa di occuparsi delle critiche sollevate dalla pubblicazione delle foto delle vittime del dramma di Sierre, in cui, nel marzo del 2012, morirono 28 cittadini belgi – in prevalenza bambini – su un torpedone che aveva urtato la parete di una galleria stradale. Le foto erano state pubblicate da vari giornali, sia in Belgio e in altri Paesi d’Europa sia in Svizzera (qui, in particolare, dal «Blick», dalla «Schweizer Illustrierte» e da «L’illustré»).

Il Consiglio della stampa apprezza che da parte delle tre redazioni non si sia fatto un uso sensazionalistico delle immagini. Il principio della tutela della sfera privata induce tuttavia l’organismo di autodisciplina a ribadire che le foto di vittime di incidenti possono essere pubblicate solo con il consenso dei parenti alla pubblicazione. Ciò vale anche se le foto delle vittime siano state esposte in un luogo della memoria o nel corso dei funerali. Ancora meno si giustifica la pubblicazione non autorizzata di foto scattate in un corso di sci e postate su un blog.

I. Sachverhalt

A. Am 13. März 2012 starben bei einem Carunfall in einem Tunnel der Autobahn A9 in der Nähe von Siders 28 Menschen, vor allem Kinder. Die Opfer, belgische Staatsangehörige, befanden sich auf der Heimfahrt von einem einwöchigen Skilager im Wallis.

B. Am 16. März 2012 kündigte «Blick» auf der Titelseite an: «Für alle Kinder, die beim Car-Drama im Wallis gestorben sind, erklärt ‹Blick› die Geschichte von Emma.» Das Bild des Mädchens ist grossformatig abgedruckt. Auf den Seiten 2 bis 4 berichtet die Zeitung ausführlich in Wort und Bild über den Unfall. Ein Teil der Bilder zeigt Emma, ihren Vater sowie ihre drei besten Freundinnen. Auf weiteren Bildern sind Trauernde zu sehen, darunter Eltern der Toten, beim Besuch der Aufbahrungskapelle in Sitten. Schliesslich zeigt «Blick» auch elf weitere der verstorbenen Kinder sowie vier verstorbene Betreuungspersonen und den Chauffeur des Unglücksfahrzeugs.

C.
Gleichentags kritisierte die flämische Medienministerin Ingrid Lieten die Veröffentlichung der Fotos von Opfern des Busunfalls im Wallis durch belgische und ausländische Medien. Bloss weil Fotos irgendwo im Internet verfügbar seien, heisse das noch lange nicht, dass Medien sie weiterverbreiten dürften. Vor allem dann nicht, wenn die Einwilligung zur Veröffentlichung fehle. In der Schweiz kritisierte der Präsident des Schweizer Presserats, Dominique von Burg, den «Blick» für die Veröffentlichung der Fotos. Ein Informationswert sei nicht ersichtlich und er frage sich, ob die Eltern der Kinder ihr Einverständnis für die Veröffentlichung gegeben hätten.

D.
Tags darauf erzählte «Blick» auf Seite 4 die Geschichte von «Andrea», die den Unfall schwer verletzt überlebt hat. Zwei Bilder zeigen Andrea, einmal allein und einmal zusammen mit ihrem Grossvater, der sich unbedingt bei den Schweizer Sanitätern bedanken wolle. Auf einer weiteren Doppelseite zeigt «Blick» erneut Bilder von verstorbenen Kindern.

E. Patrik Müller, Chefredaktor von «Sonntag», kritisierte in der Ausgabe vom 18. März 2012 die Berichterstattung von «Blick» über «Emma» («Medien haben Grenzen überschritten»): «Hat man die Angehörigen dieses Mädchens um Erlaubnis gefragt? Und daran gedacht, dass all die Details auch jenen Menschen wehtun, die selber schon Fa
milienmitglieder durch einen Unfall verloren haben?» Im Falle einiger Medien gelte das «Geschäftsprinzip: Auflage und Klicks gehen vor, Ethik und Pietätsüberlegungen sind bloss lästig. Wozu dieses Prinzip in letzter Konsequenz führen kann, haben wir beim Abhörskandal in England gesehen. Er endete (…) mit der Einstellung derjenigen Zeitung, die am übelsten vorgegangen war. (…) Muss auch bei Tragödien nur eines stimmen: Das Geschäft?»

F. Am 19. März 2012 veröffentlichte die «Schweizer Illustrierte» auf der Titelseite («Gestorben am 13. März 2012. Die Schweiz trauert mit Belgien») die Einzelporträts mit Vornamen von 15 der verstorbenen Kinder und berichtete auf insgesamt 22 Seiten ausführlich in Bild und Text über das «Car-Drama». Darin zeigt die «Schweizer Illustrierte» unter anderem ein Mädchen, das um seinen Bruder trauert, ein Skilagerfoto der verunfallten Klasse, Bilder von einem Trauergottesdienst in der belgischen Stadt Lommel, aus der ein Grossteil der Verstorbenen stammte, Mitschüler, die bei einer Gedenkstätte vor einer Schule in Lommel Blumen und Zeichnungen niederlegen sowie die bereits von «Blick» porträtierte «Emma» mit ihren besten Freundinnen.

G. Am 20. März 2012 brachte die «Medienwoche» ein Kurzinterview des Ringier-Mediensprechers Edy Estermann mit «Blick»-Chefredaktor Ralph Grosse-Bley. Dieser macht darin geltend, um der Katastrophe ein Gesicht zu geben, könne man nicht bloss einen Tunnel, einen zerstörten Bus und eine Pannennische zeigen. Erst die Bilder von Menschen, von Betroffenen mache das Ausmass des Dramas wenigstens ansatzweise sichtbar. «Blick» habe den Vater von Emma getroffen und mit dem Opa von Andrea gesprochen. «Beide haben der Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt, uns selbst Fotomaterial zur Verfügung gestellt. Unser Team in Belgien und auch im Newsroom hat ganz hervorragende Arbeit geleistet und sich absolut nichts vorzuwerfen. Wenn das der Presserat anders sieht, dann kann ich das nicht nachvollziehen.» «Blick» mache die Zeitung nicht für den Presserat und die Medien-Konkurrenz.

H. Am 21. März 2012 brachte «L’illustré» eine mit derjenigen der «Schweizer Illustrierten» vergleichbare Reportage auf 26 Seiten. Die Titelseite («Drame de Sierre – L’Hommage») zeigt sämtliche 22 beim Unfall verstorbenen Kinder und nennt in der Bildlegende ebenfalls die Vornamen. Die Reportage von «L’illustré» zeigt zum Teil die identischen Bilder wie diejenige der «Schweizer Illustrierten» sowie eine ganze Reihe von Bildern aus dem Skilager-Blog. Zusätzlich zeigt «L’illustré» auch die Fotos der vier verstorbenen erwachsenen Begleitpersonen.

I. Der flämische Raad voor de journalistiek verabschiedete am 12. April 2012 eine Richtlinie zur Verwendung von Bildern aus Websites und sozialen Netzwerken. Dabei kam der Rat zu ähnlichen Schlüssen wie der Schweizer Presserat in der Stellungnahme 43/2010. Danach ist bei der Weiterverbreitung von Bildern darauf abzustellen, in welchem Kontext diese öffentlich gemacht worden sind. Aus der Veröffentlichung eines Bildes in einem bestimmten Kontext dürfen Medienschaffende nicht ableiten, dass die abgebildete Person damit einverstanden ist, das Bild in einem ganz anderen Kontext zu veröffentlichen. Fehlt die Einwilligung, dürfen Redaktionen Personenbilder nur bei einem den Schutz der Privatsphäre überwiegenden öffentlichen Interesse veröffentlichen. Besondere Rücksicht ist bei der Identifikation von Kindern sowie den Opfern von Verbrechen, Katastrophen und Unglücksfällen sowie ihrer Angehörigen angebracht. Bei schwer verletzten oder getöteten Opfern, die nicht zu den öffentlichen Personen gehören, dürfen keine persönlichen Einzelheiten veröffentlicht werden, solange nicht sichergestellt ist, dass die Angehörigen informiert sind. Vor der Weiterverbreitung von Bildern von persönlichen Webseiten oder eines sozialen Netzwerks ist die Einwilligung einzuholen. Wenn die Angehörigen oder die Opfer eine Veröffentlichung ablehnen, ist dies zu respektieren.

J. Am 5. Juni 2012 behandelte der Beschwerdeausschuss 1 des deutschen Presserats zwei Beschwerden gegen «Bild» («Die toten Kinder aus dem Reisebus») und den «Berliner Kurier» («Klassenfahrt in den Tod»). «Bild» zeigt in einer Bildergalerie 15 Fotos der 22 verstorbenen Kinder und teilt mit: «Auf Wunsch der Eltern bleiben die Namen der Kinder ungenannt». Die Zeitung weist darauf hin, dass der Bürgermeister der Stadt Lommel die Bilder der Kinder am Tag zuvor öffentlich im Rathaus aufgelegt habe. Demgegenüber zeigt die Titelseite des «Berliner Kurier» ein Bild des zerstörten Busses sowie ein Gruppenbild der Klasse vor einer Bergkulisse. Der deutsche Presserat wies die Beschwerde gegen «Bild» mit der Begründung ab, es bestehe ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung und die Redaktion habe glaubhaft gemacht, dass sie vor der Aufnahme der Bilder im Gedenkraum zwei verantwortliche Personen der Stadtverwaltung um Erlaubnis gefragt habe. Sie habe deshalb in gutem Glauben davon ausgehen können, dass die Einwilligung der Eltern vorliege. Hingegen hiess der deutsche Presserat die Beschwerde gegen den «Berliner Kurier» gut. Die veröffentlichten Fotos stammten aus dem Privatbereich und eine Einwilligung der Eltern zur Publikation habe nicht vorgelegen.

K. Auf Antrag des Presseratspräsidiums entschied das Plenum des Schweizer Presserats per 6. Juli 2012 auf dem Korrespondenzweg, die Veröffentlichung von Opferbildern bei der Berichterstattung über den Carunfall von Siders von sich aus aufzugreifen und zum Gegenstand einer Stellungnahme zu machen.

L. Beim für den flämischen Teil von Belgien zuständigen Ombudsmann des Raad voor de journalistiek gingen zwei Beschwerden von Angehörigen der Opfer sowie eines Vereins «Ouders van de Verongelukte Kinderen» gegen die Publikation von Opferbildern durch die Zeitungen «Het Niewsblad» und «Het laatste Nieuws» ein. In einem Vermittlungsverfahren einigten sich die Parteien darauf, dass sich die beiden Redaktionen für die Veröffentlichung der Fotos entschuldigten. Am 12. Juli 2012 veröffentlichten die beiden Zeitungen die entsprechende Mitteilung des Ombudsmanns.

M. Das Presseratssekretariat bat die Redaktionen «Blick», «L’illustré» und «Schweizer Illustrierte» am 16. August 2012, sich dazu zu äussern, inwieweit die Publikation von Bildern von Kindern, die beim Carunfall gestorben sind, in einem überwiegenden öffentlichen Interesse lag. Und bei welchen Bildern die drei Redaktionen die Einwilligung der Angehörigen oder weiterer Stellen eingeholt haben.

N. In seiner Stellungnahme vom 4. September 2012 machte Michel Jeanneret, Chefredaktor von «L’illustré», geltend, für eine Illustrierte seien Bilder und Berichte über menschliche Schicksale das Wichtigste. Deshalb habe es nahe gelegen, die Opfer zu zeigen. Die Veröffentlichung von Opferbildern entspreche einer gängigen Praxis beispielsweise seinerzeit beim Flugzeugabsturz der SR 111 bei Halifax. Es sei Aufgabe der Medien, die Anteilnahme der Öffentlichkeit bei einer derartigen Katastrophe zu begleiten. Dieser Intention entspreche die Titelseite mit den verstorbenen Kindern. Die bildliche Darstellung ermögliche es, die Dimension der Tragödie zu erfassen.

Der Korrespondent von «L’illustré» in Belgien habe Kontakt mit mehreren Familien gehabt. Einige hätten spontan Bilder zur Verfügung gestellt. Zudem habe der Protokollchef der Gedenkkapelle in Lommel der Presse erlaubt, die dort aufgestellten Bilder der Kinder zu reproduzieren. Es sei legitim, daraus abzuleiten, dass die Eltern mit der Veröffentlichung einverstanden waren. Zudem seien Bilder der verstorbenen Kinder während der vom belgischen Fernsehen übertragenen Trauerfeier gross auf einen Bildschirm projiziert worden. Mithin sei sämtliches Bildmaterial im Zusammenhang mit der fragl
ichen Berichterstattung der öffentlichen Sphäre zuzurechnen. Auf das Einverständnis der Eltern deute zudem auch der Umstand hin, dass sich die Direktbetroffenen nicht beschwert hätten.

O. Am 17. Dezember 2012 teilte «Blick»-Chefredaktor Ralph Grosse-Bley mit, er verzichte auf eine Stellungnahme zu den vom Presserat unterbreiteten Fragen. Angesichts der vorverurteilenden Äusserungen von Presseratspräsident Dominique von Burg mache es für «Blick» keinen Sinn, «jetzt noch Zeit, Kraft und Geld in eine Auseinandersetzung zu investieren. Wir hatten die Einwilligung der Angehörigen der Kinder, deren Schicksal wir erzählt haben. Niemand hat sich bei uns beschwert.»

P. In seiner Stellungnahme vom 20. September 2012 führte Stefan Regez, Chefredaktor der «Schweizer Illustrierten», an, die Redaktion habe sich den Entscheid, die Opferbilder des Busdramas im Wallis zu veröffentlichen, nicht leicht gemacht. Die «Schweizer Illustrierte» habe auf dem Titel die 15 verunglückten Kinder aus der belgischen Stadt Lommel gezeigt, deren Bilder vor Ort offiziell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. «Offensichtlich im Einverständnis mit den Angehörigen.» Die Porträt-Bilder der Kinder seien bei der grossen Trauerfeier in Belgien auch gut sichtbar an den Särgen angebracht worden. Auch dies offensichtlich wiederum im Einverständnis mit den Angehörigen. «Das Fernsehen übertrug die Beerdigung und machte die Bilder publik.» Auch diverse belgische Printmedien hätten die Bilder vor der «Schweizer Illustrierten» veröffentlicht. Damit sei die Privatsphäre und der Opferschutz ohnehin nicht mehr gewährleistet gewesen. Zudem sei der «Schweizer Illustrierten» wesentlich erschienen, «dass wir, unsere Leser, die Öffentlichkeit in der Schweiz der verunglückten Kinder in bester Erinnerung gedenken sollten. Das ist nur mit fröhlichen Porträtbildern möglich. Nicht aber mit grausigen Unfallbildern.»

Q. Der Presserat wies die Beschwerde der 2. Kammer zu, der Michel Bührer, Annik Dubied, Pascal Fleury, Anne Seydoux, Françoise Weilhammer und Michel Zendali angehören. Dominique von Burg (Kammerpräsident) trat von sich aus in den Ausstand.

R. Die 2. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 9. November 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» auferlegt den Medienschaffenden die Pflicht, die Privatsphäre der einzelnen Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Gemäss Ziffer 8 der «Erklärung» sollen Journalisten bei der Berichterstattung in Text, Bild und Ton das Leid der Betroffenen und die Gefühle der Angehörigen respektieren. Die Richtlinien zur «Erklärung» konkretisieren diese Pflichten in mehrfacher Hinsicht:

– Die Richtlinie 7.1 (Privatsphäre) weist darauf hin, dass das Fotografieren oder Filmen von Privatpersonen nicht bloss im Privatbereich einer Einwilligung bedarf. Vielmehr ist auch im öffentlichen Bereich eine Einwilligung erforderlich, wenn Privatpersonen auf dem Bild herausgehoben werden.

– Die Richtlinie 7.2 (Identifizierung) nennt eine Reihe von Fällen, in denen die Namensnennung oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist. Dies gilt insbesondere, wenn die betroffene Person in die Veröffentlichung einwilligt. «Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören.

– Die Richtlinie 7.3 (Kinder) betont, dass gerade Kinder besonders zu schützen sind.

– Die Richtlinie 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte) appelliert an die Medienschaffenden, sich besonders zurückhaltend zu zeigen «gegenüber Personen, die sich in einer Notlage befinden oder die unter einem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Dies gilt auch gegenüber den Familien und Angehörigen der Betroffenen.»

– Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt sollten laut der Richtlinie 8.3 (Opferschutz) immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abwägen. «Journalistinnen und Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren.»

Und schliesslich mahnt die Richtlinie 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen), dass Fotografien und Fernsehbilder von derartigen Ereignissen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen. «Dies gilt besonders im Bereich der lokalen und regionalen Information.»

2. Die Redaktionen «L’illustré» und «Schweizer Illustrierte» wenden zunächst zu Recht ein, sie hätten keine «grausigen» Unfallbilder veröffentlicht. Eben so wenig haben sie die Opfer in sensationeller Weise dargestellt, welche Menschen zu blossen Objekten degradiert (Richtlinie 8.3 zur «Erklärung»). Entsprechend steht vorliegend die Frage im Vordergrund, ob die (Bild-)Berichterstattung der drei Medien über den Carunfall von Siders mit der Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre) vereinbar ist. Nicht verletzt sieht der Presserat hingegen die Ziffer 8 der «Erklärung».

3. Der Presserat stellt weiter fest, dass die von «Blick», «L’illustré» und «Schweizer Illustrierte» publizierten Bilder unterschiedlicher Natur und Herkunft sind und unter dem Gesichtspunkt des Privatsphärenschutzes deshalb unterschiedliche berufsethische Fragen aufwerfen:

– Ein Teil der Bilder wurde von den Familien einzelner Unfallopfer zur Verfügung gestellt.
– Andere Fotos der verstorbenen Kinder wurden in der Gedenkkapelle in Lommel ausgestellt und dort aufgenommen.
– Und ein dritter Teil der Bilder stammt aus einem Blog über das Skilager.

Für jede dieser Kategorien von Bildern ist separat zu prüfen, ob ihre Veröffentlichung berufsethisch zulässig ist.

4. Bei den Bildern, die den Medien direkt von den Familien der Opfer zur Verfügung gestellt worden sind, ist zu vermuten, dass die Betroffenen damit auch der Veröffentlichung zugestimmt haben. Zwar kann der Presserat gestützt auf die für ihn verfügbaren Informationen nicht beurteilen, ob diese Familien, die unmittelbar nach dem tragischen Unfall noch unter Schock standen, überhaupt in der Lage waren, die Tragweite ihrer Einwilligung abzuschätzen. Und die Kontaktnahme mit Angehörigen durch Medienschaffende unmittelbar nach dem Unfall wirft zumindest Fragen auf. Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 3/2012 darauf hingewiesen, dass es den Medien im Rahmen des öffentlichen Interesses zwar nicht verwehrt ist, über die Hintergründe eines Unfalls zu recherchieren. Es ist aber unverhältnismässig und übersteigt das berufsethisch Zulässige, wenn eine Redaktion nach einem Unfall systematisch das private Umfeld der Beteiligten durchleuchtet (Stellungnahme 70/2012). Dieser Vorbehalt ändert aber nichts daran, dass es grundsätzlich zulässig ist, Bilder von verstorbenen Opfern eines Verkehrsunfalls zu zeigen, soweit die Angehörigen explizit mit der Veröffentlichung einverstanden sind und die Fotos zur Verfügung stellen.

5. Ungeachtet der Frage, wie die Medien einzelne Familien dazu bewegt haben, Bilder zur Verfügung zu stellen, ist allerdings darauf Rücksicht zu nehmen, dass Menschen unterschiedlich auf tragische Ereignisse und Schicksalsschläge reagieren. Währenddem viele mit ihrer Trauer in Ruhe gelassen werden möchten,
hilft es manchen, ihr Leid (mit) zu teilen und anderen Menschen zu ermöglichen, Anteil zu nehmen. Gerade wenn wie beim Carunfall von Sierre die Familien und Angehörigen noch unter dem Schock eines Ereignisses stehen, darf eine Einwilligung deshalb nicht leichthin angenommen werden. Um die Bilder sämtlicher Opfer des Carunfalls zu veröffentlichen, genügt es deshalb nicht, wenn «Blick» die Einwilligung der Angehörigen von «Emma» und «Andrea» eingeholt hat. Und ebenso wenig darf «L’illustré» aus den Kontakten ihres Korrespondenten in Belgien «mit einigen Familien» schliessen, damit seien alle Familien mit der Publikation des Bildes ihres verstorbenen Kinds samt Namen einverstanden.

Ergänzend ist zudem auf Artikel 74 Absatz 4 der schweizerischen Strafprozessordnung hinzuweisen. Danach dürfen Behörden und Private die Identität des Opfers einer Straftat und Informationen, die seine Identifizierung erlauben, nur unter bestimmten Voraussetzungen ausserhalb eines öffentlichen Gerichtsverfahrens veröffentlichen: Wenn eine Mitwirkung der Bevölkerung bei der Aufklärung von Verbrechen oder bei der Fahndung nach Verdächtigen notwendig ist. Oder wenn das Opfer beziehungsweise seine hinterbliebenen Angehörigen der Veröffentlichung zustimmen.

6. War die Veröffentlichung der Fotos der verstorbenen Kinder hingegen zulässig, weil sie zuvor bereits in einer Gedenkkapelle und anlässlich der Trauerfeiern öffentlich gemacht wurden? Dagegen spricht bereits die Richtlinie 7.1 zur «Erklärung», wonach die Privatsphäre auch bei Bildern zu schützen ist, die im öffentlichen Bereich aufgenommen werden. Laut dem Ombudsmann des belgischen Raad voor de journalistiek wurden die Medienvertreter von den Verantwortlichen zwar in die Gedenkkapelle eingelassen. Allerdings bloss, um eine Gesamtsicht zu fotografieren, nicht aber für Aufnahmen der einzelnen Porträts der Kinder. Gegen die Publikation einer Gesamtsicht mit Bildern mehrerer Opfer ist unter diesen Umständen nichts einzuwenden.

Hingegen ändert die Erlaubnis der Verantwortlichen der Gedenkkapelle aber nichts daran, dass die verstorbenen Kinder ohne explizite Einwilligung der hinterbliebenen Angehörigen nicht bildlich herausgehoben werden dürfen. Der Presserat hat bereits in der Stellungnahme 1/2010 festgehalten, dass wer ein Foto eines Verstorbenen auf das Grab legt, damit nicht einwilligt, dass Massenmedien dieses Bild vergrössern und weiterverbreiten. Und über die beiden öffentlichen Trauerfeiern durften die Medien zwar selbstverständlich auch bildlich in verhältnismässiger Art und Weise berichten, ohne explizite Einwilligung der Angehörigen jedoch bildlich nicht auf einzelne Opfer fokussieren.

7. Die gleichen Grundsätze gelten schliesslich auch für die veröffentlichten Bilder aus dem Blog des Skilagers. Der Presserat hat in der bereits erwähnten Stellungnahme 43/2010 festgehalten, dass Medien Informationen und Bilder, die Private im Netz öffentlich machen, nicht voraussetzungslos weiterverbreiten dürfen. Öffentlichkeit bedeutet in Bezug auf das Internet nicht zwingend auch «Medienöffentlichkeit». Entscheidend ist – nicht nur im Internet –, mit welcher Absicht sich jemand im öffentlichen Raum exponiert. Selbst wenn der Blog des Skilagers öffentlich zugänglich und für jedermann einsehbar war, ist daraus nicht abzuleiten, dass die Bilder damit automatisch für die Berichterstattung über den Carunfall freigegeben sind.

8. Der Schweizer Presserat hat jüngst seine langjährige Praxis bestätigt, dass die Privatsphäre der Beteiligten – sofern es sich nicht um öffentliche Personen handelt und die Berichterstattung mit ihrer öffentlichen Tätigkeit in Zusammenhang steht – auch bei besonders aufsehenerregenden Unglücksfällen, Verbrechen und Katastrophen zu respektieren ist (Stellungnahme 62/2012). Die öffentliche Anteilnahme an einem tragischen Unglücksfall lässt sich auch ausdrücken, wenn Medien darauf verzichten, die Opfer bildlich und mit Namensnennung zu identifizieren.

III. Feststellungen

1. «Blick» (Ausgaben vom 16. und 17. März 2012), «Schweizer Illustrierte» (Ausgabe vom 19. März 2012) und «L’illustré» (Ausgabe vom 21. März 2012) haben mit der Veröffentlichung von Bildern von Todesopfern des Carunfalls von Siders die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» in denjenigen Fällen verletzt, in denen keine explizite Einwilligung der hinterbliebenen Angehörigen vorlag.

2. Journalisten dürfen Fotos von verstorbenen Opfern eines Verkehrsunfalls zeigen, sofern die Angehörigen die Bilder explizit zur Veröffentlichung freigeben.

3. Auch wenn Bilder von Todesopfern in einer Gedenkkapelle und bei öffentlichen Trauerfeiern öffentlich zugänglich sind, dürfen Medienredaktionen die einzelnen Opfer in ihrer Berichterstattung ohne explizite Einwilligung der Angehörigen nicht bildlich herausheben. Die Einwilligung ist nicht zu vermuten.

4. Medien dürfen Bilder aus dem Blog eines Skilagers nicht voraussetzungslos weiterverbreiten. Selbst wenn der Blog öffentlich zugänglich ist und jedermann ihn einsehen kann, ist daraus nicht abzuleiten, dass die Bilder für die Medienberichterstattung in einem anderen Kontext freigegeben sind.

5. Die Privatsphäre der Beteiligten – sofern es sich nicht um öffentliche Personen handelt und die Berichterstattung mit ihrer öffentlichen Tätigkeit zusammenhängt – ist auch bei aufsehenerregenden Unglücksfällen, Verbrechen und Katastrophen zu respektieren.