Nr. 70/2012
Respektierung der Privatsphäre / Identifizierung

(X. c. «Blick»/«Blick Online») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 16. November 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 28. Juni (Online) und am 29. Juni 2012 (Print) berichteten «Blick» und «Blick Online», der ehemalige Skirennfahrer Paul Accola habe mit seinem Traktor einen achtjährigen Knaben totgefahren (Titel: «Davos geschockt! Paul Accola fuhr auf dieser Wiese den kleinen Jann-Andri tot»). Der Printartikel ist mit einem Bild der Wiese illustriert. Darauf montiert ist ein Bild Accolas. Weiter enthält der Artikel ein Bild des verstorbenen Knaben mit verpixelter Augenpartie sowie ein weiteres (unverpixeltes) Foto, das den Pächter der Wiese in einem Traktor zeigt. Die Online-Version zeigt ähnliche Bilder. Der Artikel nennt den Vornamen und den Initial des Nachnamens des Opfers sowie die vollen Namen von Paul Accola und dem Pächter der Wiese. In einem separaten Kasten kommt der Schulratspräsident von Davos zu Wort. Auch dieser Bericht ist mit einem Bild (des Schulratspräsidenten) illustriert.  

B. Tags darauf titelten «Blick» und «Blick Online»: «Accola will zur Beerdigung … wenn die Eltern des toten Jann-Andri es zulassen». Und «Blick Online» fuhr noch gleichentags fort: «Nach Treffen mit Jann-Andris (†8) Eltern. Paul Accola darf zur Beerdigung». Während das Bild in der Printausgabe wie tags zuvor verpixelt ist, verzichtete «Blick Online» auf diese Massnahme.

C. Am 3. Juli 2012 berichteten «Blick» und «Blick Online» über die Trauerfeier («Die Trauerfeier für den kleinen Jann-Andri (†8). Die Eltern umarmen Accola in der Kirche»). Diesmal zeigt auch die Printausgabe das unverpixelte Bild des verstorbenen Knaben sowie ein Bild aus der Kirche, auf dem die Trauerfamilie in der vordersten Bankreihe individuell erkennbar ist. Laut der Bildlegende hat die Familie «das Foto zur Veröffentlichung freigegeben». Zwei weitere Fotos zeigen Paul Accola zusammen mit anderen Trauergästen.

D. Am 31. Juli 2012 beschwerte sich X. als «Freund der betroffenen Familie, des verunfallten Knaben, aber auch als Einwohner einer Gemeinde, die (…) regelrecht in ihrer Trauer gestört wurde», die Berichterstattung von «Blick» und «Blick Online» verstosse gegen die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Respektierung der Privatsphäre; Identifizierung, Kinder, Notsituationen).

Unmittelbar nach Bekanntwerden des Unfalls habe die Familie des verstorbenen Knaben Telefonanrufe von «Blick» erhalten. «Blick»-Journalisten seien auf der Unfallstelle aufgetaucht, obwohl Paul Accola unmittelbar nach dem Unfall darauf hingewiesen habe, man solle die Familie des Unfallopfers in Ruhe lassen. Die Brüder des Opfers hätten sich zeitweise nicht auf die Unfallstelle getraut, weil sie gefürchtet hätten, ungefragt abgelichtet oder interviewt zu werden. «Blick» habe das Foto des verstorbenen Knaben von einer Website des Sponsors einer Sportveranstaltung heruntergeladen und in einem anderen Kontext veröffentlicht. Zusammen mit der Nennung des seltenen Vornamens Jann-Andri sei der Knabe identifizierbar.

Zudem habe «Blick» die prinzipielle Zusage der Familie, ein Bild der Trauerfeier zu veröffentlichen, dazu ausgenützt, eine Frontalaufnahme der Trauerfamilie und damit alle Gesichter unverfälscht zu publizieren. Ebenso habe die Zeitung ein Interview mit dem Psychologen und Schulratspräsidenten Robert Ambühl entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Interviewten mit einem Bild illustriert. Das entsprechende Bild habe die Redaktion ungefragt der Homepage Ambühls entnommen.

E. Am 16. August 2012 teilte die Redaktion «Blick» mit, sie verzichte auf eine Stellungnahme.

F. Am 21. August 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde durch das Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 16. November 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Ziffer 7 der «Erklärung» respektieren Journalistinnen und Journalisten «die Privatsphäre der einzelnen Person, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die Richtlinie 7.4 betont dazu, dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen. Die Richtlinie 7.2 nennt Fälle, in denen eine Identifizierung zulässig ist. So insbesondere, wenn die betroffene Person in die Veröffentlichung einwilligt oder wenn eine Person in der Öffentlichkeit allgemein oder aufgrund einer gesellschaftlich wichtigen Tätigkeit bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht. Die Richtlinie 7.1 weist zudem darauf hin, dass auch im öffentlichen Bereich das Fotografieren oder Filmen von Privatpersonen nur dann ohne Einwilligung der Betroffenen zulässig ist, wenn sie auf dem Bild nicht herausgehoben werden.

b) Der Presserat hat sich in den Stellungnahmen 1 und 24/2010 zu zwei Berichten von «Blick» und «Schweizer Illustrierte» über den Tod des Kinds eines Schriftstellers geäussert. Er hat dabei festgehalten, dass sowohl die Veröffentlichung eines Bildes der Grabstätte eines eben erst verstorbenen Kindes als auch ein Bericht über dessen Beerdigung die geschützte Privatsphäre der Hinterbliebenen berührt. «Ebenso wie bei Hochzeiten und Taufen darf über Beerdigungen auch bei Prominenten nur dann berichtet werden, wenn sie selber mit den Informationen an die Öffentlichkeit gegangen sind bzw. ihr Privat- und Familienleben den Medien seit jeher in einem breiten Umfang zugänglich gemacht haben. Ebenso vorzubehalten sind Berichte über grosse Traueranlässe und -gottesdienste, die öffentlich sind.»

2. a) Vorliegend ist zwar Paul Accola insoweit eine Person des öffentlichen Lebens, als dieser auch nach Beendigung seiner Karriere als Sportler regelmässig in der Öffentlichkeit auftritt. Personen, die ihr Privatleben zu weiten Teilen öffentlich machen, verzichten damit aber nicht auf jeglichen Schutz ihres Privatlebens. Selbst Paul Accola muss es sich deshalb nicht gefallen lassen, am Rande einer privaten Trauerfeier gegen seinen Willen fotografiert zu werden.

b) Eindeutig nicht zu den öffentlichen Personen gehören demgegenüber die Familie des verunfallten Knaben sowie der Pächter des Landes, auf dem der Unfall passiert ist. Entsprechend durfte «Blick» ohne ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen nicht identifizierend über den verstorbenen Knaben, über dessen Familie sowie über den Pächter des Landes berichten (Richtlinie 7.2 zur «Erklärung») und sie insbesondere auch nicht bildlich herausheben (Richtlinie 7.1).

Zulässig war es hingegen, ein Bild des Unfallortes und das Bild des Schulratspräsidenten zu zeigen. Dieser gab «Blick» im Zusammenhang mit seiner öffentlichen Funktion Auskunft, so dass die Zeitung identifizierend und mit Bild über ihn berichten durfte (vgl. dazu die Stellungnahme 20/1999). Und soweit die Trauerfamilie dazu einwilligte, war «Blick» berechtigt, ein Bild von der Trauerfeier zu veröffentlichen.

3.
Der Presserat kann gestützt auf die ihm vom Beschwerdeführer eingereichten Unterlagen nicht feststellen, ob die Familie des verstorbenen Knaben, der Pächter des Landes sowie Paul Accola ihr Einverständnis zur Veröffentlichung (eines Teils) der Bilder gegeben haben. Nachdem der Beschwerdeführer geltend macht, dem verstorbenen Knaben und dessen Familie nahe zu stehen, hat der Presserat aber keinen Anlass, von vornherein an seiner Sachverhaltsdarstellung zu zweifeln. Zumal «Blick» mit dem Verzicht auf eine Beschwerdeantwort den Vorwürfen des Beschwerdeführers nicht widerspricht. Deshalb ist die Beschwerde insoweit gutzuhei
ssen, als «Blick» identifizierend über den verstorbenen Knaben berichtet, dessen Bild unverpixelt publiziert, seine Familie auf dem Bild der Trauerfeier herausgehoben und Bilder von Paul Accola und weiteren Gästen der Trauerfreier veröffentlicht hat.

4.
Der Presserat hat «Blick» und «Blick Online» bereits in der Stellungnahme 3/2012 darauf hingewiesen, dass es den Medien im Rahmen des öffentlichen Interesses zwar nicht verwehrt ist, über die Hintergründe eines Unfalls zu recherchieren. Es ist aber unverhältnismässig und übersteigt nach Auffassung des Presserats das berufsethisch Zulässige, wenn eine Redaktion nach einem Unfall systematisch das private Umfeld der Beteiligten durchleuchtet. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, «Blick»-Journalisten hätten unmittelbar nach dem Unfall die Familie des verstorbenen Knaben angerufen, obwohl Paul Accola sie ausdrücklich darum gebeten habe, diese in Ruhe zu lassen, haben «Blick» und «Blick Online» die Privatsphäre der Trauerfamilie auch unter diesem Gesichtspunkt verletzt.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick» und «Blick Online» haben mit ihren Berichten über den Unfalltod eines Knaben die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Ohne explizite Einwilligung der Betroffenen durften «Blick» und «Blick Online» weder identifizierend über den bei einem Unfall verstorbenen Knaben berichten und dessen Bild unverpixelt veröffentlichen, noch seine Familie und andere Gäste der Trauerfeier bildlich herausheben. Und sie hätten die Familie unmittelbar nach dem Unfall in Ruhe lassen sollen.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. «Blick» und «Blick Online» durften hingegen ein Bild der Unfallstelle zeigen und ein Interview mit dem Schulratspräsidenten mit dessen Bild illustrieren.