Nr. 54/2006
Respektierung der Menschenwürde / Diskriminierung

(X. c. «Blick») Stellungnahme des Presserates vom 1. Dezember 2006

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I. Sachverhalt

A. Im Zusammenhang mit dem unfreundlichen Empfang der Schweizer Fussballnationalmannschaft im Vorfeld des entscheidenden WM-Ausscheidungsspiels gegen die türkische Nationalmannschaft titelte der «Blick» am 15. November 2005: «Pfui! Hass-Empfang für Nati. Schikanen am Zoll. Spieler als Hurensöhne beschimpft. Training unmöglich. Schämt euch, ihr Türken!»

B. Am 5. Dezember 2005 gelangte X. mit einer Beschwerde an den Presserat und beanstandete, mit der Veröffentlichung der Schlagzeile «Schämt euch, ihr Türken!» habe Blick gegen Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierungsverbot; Respektierung der Menschenwürde) verstossen. Die Ausdrucksweise der Boulevardzeitung verletze die über 100’000 in der Schweiz lebenden Menschen türkischer Nationalität in ihrer Menschenwürde. «Es wird sinnbildlich mit Fingern auf Menschen türkischer Nationalität gezeigt; sie werden gescholten, obwohl sie unschuldig sind.»

C. Am 6. Januar 2006 wies die anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion die Beschwerde als unbegründet zurück, soweit überhaupt darauf einzutreten sei. Die blosse Aufforderung, eine staatlich, geografisch oder ethnisch umschriebene Gruppe solle sich «schämen», habe keinen Bezug zu deren Menschenwürde. Die Schlagzeile «Pfui! Schämt euch, ihr Türken!» sei zudem weder extrem noch diskriminierend noch überschreite sie die Grenzen des guten Geschmacks. Entgegen der Beschwerde beziehe sich der Begriff «Türke» nicht zwingend und ausschliesslich auf Personen türkischer Nationalität und schon gar nicht auf die «in der Schweiz lebenden Türken». «Es ist sonnenklar, dass sich ‹Blick› mit seiner Schlagzeile nicht auf die Türken (…) in der Schweiz bezogen hat, wenn er über den Mob aus Istanbul berichtet.» Vielmehr gehe es allein um das Verhalten derjenigen Türken, die für die «inakzeptablen Umstände bei der Ankunft der Schweizer Nationalmannschaft in der Türkei» verantwortlich sind. «Wenn man Ausländern im Ausland auf Grund ihres Verhaltens sagt, sie sollten sich ‹schämen›, so appelliert man an ihr allfällig doch noch vorhandenes Anstandsgefühl (…), aber man spricht den Betroffenen dadurch nicht Ihre Menschenwürde ab oder setzt sie in der von der Richtlinie 8.1 bzw. Ziffer 8 Pressekodex vorausgesetzten intensiven Weise herab.»

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 11. Januar 2006 teilte der Presserat den Parteien mit, der Schriftenwechsel sei abgeschlossen und die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

I. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 1. Dezember 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 8 der «Erklärung» lautet: «Sie (die Journalistinnen und Journalisten) respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben.»

b) Die Richtlinie 8.1 zur «Erklärung» (Menschenwürde) weist darauf hin, dass sich die Informationstätigkeit an der Achtung der Menschenwürde orientieren soll. «Sie ist ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen. Das gilt sowohl hinsichtlich der betroffenen oder berührten Personen als auch gegenüber der gesamten Öffentlichkeit.»

2. Die umstrittene «Blick»-Schlagzeile richtet sich zumindest für eine unvoreingenommene Leserschaft nicht an in der Schweiz lebende türkischen Staats- und Doppelbürger. Die scharfe Kritik am «Empfang» der Schweizer Fussballnationalmannschaft in Istanbul im November 2005 richtet sich – dies ergibt sich auch aus dem Kontext – in erster Linie an die Beteiligten vor Ort. In Bezug auf die gerügte Verletzung der Menschenwürde kommt hinzu, dass die Aufforderung, sich für ein unbestrittenermassen verpöntes Verhalten zu «schämen», weder bestimmte individualisierbare Personen verunglimpft noch die Adressaten dieser Aufforderung in ihrem Menschsein herabwürdigt (Stellungnahme 1/2005). Dies gilt selbst dann, wenn der Wortlaut der Aufforderung – wie bei der hier zur Diskussion stehenden Schlagzeile – über den Kreis der zu Recht Kritisierten hinausgeht. Entsprechend ist eine Verletzung der Menschenwürde der über 100’000 in der Schweiz lebenden Menschen türkischer Nationalität zu verneinen.

3. a) Angesichts der pauschalen Formulierung der Schlagzeile «Schämt euch, ihr Türken!» kann man sich hingegen fragen, ob diese als diskriminierende Anspielung im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung» zu werten ist. Nach der Praxis des Presserates zum Diskriminierungsverbot ist eine Anspielung diskriminierend, wenn in einem Medienbericht durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen einer geschützten Gruppe beeinträchtigt, die Gruppe kollektiv herabgewürdigt wird. In der Stellungnahme 21/2001 empfahl der Presserat, bei jeder Aussage «kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird».

b) In der Stellungnahme 52/2001 hat der Presserat zwei zumindest missverständliche Aussagen über das Verhalten jugoslawischer Fussballfans anlässlich eines Länderspiels in Basel als diskriminierend gerügt. Zum einen habe der Eindruck entstehen können, dass Gewalt von jugoslawischen Fussballfans in den Stadien generell Ausdruck einer erworbenen jugoslawischen Wesensart seien. Zum anderen habe der Text dahin verstanden werden können, das verurteilenswürdige Treiben von jugoslawischen Hooligans in einem Fussballstadion werde von den Jugoslawinnen und Jugoslawen generell gutgeheissen, weil die Serbinnen und Serben aufgrund ihrer Geschichte und Sozialisation generell zu Gewalttätigkeit und Arroganz neigen würden.

c) Zwar ist die Schlagzeile «Pfui! Schämt euch, ihr Türken!» auf der Titelseite des «Blick» vom 15. November 2005 von ihrem Wortlaut her insofern zu pauschal formuliert, weil damit (theoretisch) auch Menschen aufgefordert werden, sich zu schämen, die mit dem unfreundlichen Empfang in Istanbul persönlich nichts zu tun hatten. Zum einen wird aber bereits aufgrund des Hauptartikels auf den Seiten 2 und 3 der gleichen Ausgabe klar, dass sich die scharfe Kritik nicht an die Gesamtheit einer ethnischen oder nationalen Gruppe, sondern vielmehr an bestimmte Akteure vor Ort (Zöllner, Flughafenarbeiter, «Fans», Medien) richtet. Zum anderen ist dieser Kritik – selbst wenn sie bei Menschen mit Vorurteilen gegen Türken diese Vorurteile noch verstärken mag – nicht zu entnehmen, dass das beanstandete Verhalten angeblich «typisch türkisch» und somit Ausdruck angeborener oder kulturell erworbener türkischer Eigenschaften sei.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird abgewiesen.