Nr. 5/2000
Redaktionelle Bearbeitung von Zuschriften im Wahlkampf

(B. c. „Tagesspiegel“-Zeitungen) Stellungnahme des Presserates vom 9. Februar 2000

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I. Sachverhalt

A. Am 30. September 1999 stellte der Beschwerdeführer und damaliger Ständeratskandidat der Katholischen Volkspartei drei Zeitungen des „Tagesspiegel“-Verbunds eine kurze Medienmitteilung zu, worin er seiner Kritik am Projekt Expo 01 kundtat und darauf hinwies, dass er an einer öffentlichen Wahlveranstaltung als einziger der anwesenden Ständeratskandidaten den „Abbruch der Übung“ verlangt habe.

B. Am 7. Oktober wurde die Medienmitteilung des Beschwerdeführers von den „Tagesspiegel“-Zeitungen fast vollständig abgedruckt. Gekürzt wurde jedoch der Satz „Der Schreibende war jedenfalls am 7. September 1999 in Aadorf der einzige mit einem Votum zum Abbruch der Übung.“ Weiter wurde der Titel von „Cliquen-Staat 01“ in „Cliquen-Staat 02“ umgewandelt und wurde statt der vom Beschwerdeführer in der Medienmitteilung verwendeten Bezeichnung „Ständeratskandidat“ seine Funktion als „Präsident KVP Schweiz“ wiedergegeben.

C. Mit Schreiben vom 8. Oktober 1999 forderte der Beschwerdeführer die „Tagesspiegel“-Zeitungen auf, seine Medienmitteilung „unter Hinweis auf die mehreren Fehler (…) in der ursprünglichen, beiliegenden Fassung nochmals zu publizieren.“

D. Am 23. Oktober 1999 gelangte der Beschwerdeführer an den Presserat und machte die „Verletzung journalistischer Regeln“, insbesondere die Unterschlagung wesentlicher Informationselemente und eine Verletzung der Berichtigungspflicht, geltend.

E. Das Presseratspräsidium wies die Beschwerde der 1. Kammer zu. Dieser gehörten Roger Blum als Präsident sowie Sylvie Arsever, Sandra Baumeler, Esther Maria Jenny, Enrico Morresi sowie Edy Salmina an. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihren Sitzungen vom 16. Dezember 1999 und 9. Februar 2000.

F. In Ihrer Stellungnahme vom 6. Januar 2000 erläuterte die Redaktion der „Tagesspiegel“-Zeitungen ihr Vorgehen bei der Bearbeitung der Zuschrift des Beschwerdeführers und wies seine Vorwürfe vollumfänglich zurück.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass weder aus der Wahrheitspflicht (Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten) noch aus weiteren berufsethischen Pflichten eine journalistische Verpflichtung zum Abdruck von Zuschriften oder Medienmitteilungen abgeleitet werden kann (vgl. u.a. die Stellungnahmen i.S. S. c. Baillod vom 13. 6. 1986, Sammlung 1983-1989, S. 42ff. und i.S. KVP Luzern c. „Neue Luzerner Zeitung“, Sammlung 1998, S. 102ff.). Ebenso sind die Redaktionen grundsätzlich frei, Leserbriefe nicht abzudrucken oder gegebenenfalls zu kürzen (vgl. zuletzt die Stellungnahme i.S. B. c. „La Liberté“ vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 154ff.). Dies gilt auch für Zuschriften von politischen Parteien und ihren leitenden Vertretern. Allein journalistische Kriterien wie diejenigen des „Newscharakters“, der Originalität und der Verhältnismässigkeit können für die Auswahl durch die Redaktion massgebend sein (Stellungnahme i.S. B. und KVP des Kantons Thurgau c. „St. Galler Tagblatt“ / „Bodensee Tagblatt“ vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 145ff. sowie die dort angeführten Verweise).

2. Wenn sich eine Redaktion aber für den Abdruck einer Zuschrift entscheidet, sind deren wesentlichen Züge wiederzugeben. In anderen Worten sind bei einer Publikation die journalistischen Regeln insoweit zu befolgen, als der veröffentlichte Text im wesentlichen die Idee korrekt wiedergeben muss, die der Autor in seiner Zuschrift ausdrückt. (Stellungnahme i.S. B. c. „Basler Zeitung“ vom 15. Oktober 1998, Sammlung 1998, S. 129ff.) Dieser Ansatz trägt sowohl dem Interesse des Autors, seine Meinung öffentlich zu äussern, als auch dem Anspruch des Publikums auf Kenntnis von Tatsachen und Meinungen Rechnung.

3. In Bezug auf die Zuschrift des Beschwerdeführers ist festzustellen, dass die „Tagesspiegel“-Redaktion drei Änderungen vorgenommen hat: Erstens hat sie hat den Titel von „Der Cliquen Staat 01“ in „Der Cliquen-Staat 02“ sowie im Text „Expo 01“ in „Expo 02“ verändert. Zweitens hat sie den Satz gestrichen „Der Schreibende war jedenfalls am 7. September 1999 in Aadorf der einzige mit einem Votum zum Abbruch der Übung.“ Und schliesslich hat sie die vom Beschwerdeführer verwendete Bezeichnung „Ständeratskandidat“ weggelassen und stattdessen die Bezeichnung „Präsident KVP Schweiz“ hinzugefügt.

4. Die erste redaktionelle Veränderung bietet keine besonderen Probleme. Wie dies auch von der Redaktion in ihrer Stellungnahme zur Beschwerde richtig dargelegt wird, hatte sich die Expo 01 aufgrund der zwischenzeitlichen Ereignisse bekanntlich in die Expo 02 „verwandelt“. Unter berufsethischen Gesichtspunkten war es deshalb vertretbar, die Zuschrift des Beschwerdeführers in diesem Sinne zu aktualisieren. Eine wesentliche Änderung des Sinnes des Texts hat sich daraus jedenfalls nicht ergeben.

5. Anders ist dagegen die Streichung des Satzes zu werten, die die Intervention des Beschwerdeführers an der Veranstaltung in Aadorf wiedergibt. Dieser Teil des Textes erscheint unter berufsethischen Gesichtspunkten deshalb wesentlich, weil die Leserschaft daraus die öffentlich an einer Wahlkampfveranstaltung geäusserte Haltung des Beschwerdeführers zu einem aktuellen politischen Thema entnehmen kann. Gerade in Zeiten des Wahlkampfes erscheint es besonders wichtig, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger über allfällige Differenzen zwischen Erklärungen und tatsächlichem Verhalten informiert werden. Die Redaktion wendet in ihrer Stellungnahme dazu ein, auch nach der Streichung des Satzes gehe die Opposition des Beschwerdeführers gegen die Expo 01/02 immer noch klar aus der Verlautbarung hervor. Dies trifft zwar zu, ist jedoch nicht allein wesentlich. Entscheidend erscheint ebensosehr, dass mit der Streichung des Satzes der Leserschaft ein wesentliches Element vorenthalten wird, die es ihr erlaubt, die Glaubwürdigkeit der vom Beschwerdeführer vertretenen Position abschätzen zu können. Zum besseren Verständnis dieser Überlegung stelle man als Gegenbeispiel einen Kandidaten vor, der sich zwar in einem Leserbrief für die Expo ausspricht, sich aber zuvor an einer Wahlveranstaltung jedoch nicht zu diesem Thema äusserte, sondern das Wort anderen Befürwortern überliess. Dessenungeachtet hatte der redaktionelle Eingriff, an dem sich der Beschwerdeführer zu Recht stört, keine gravierenden Folgen, weshalb es falsch wäre, die Bedeutung der ungerechtfertigten Streichung des Satzes durch die Redaktion überzubewerten. Denn auch mit dem publizierten Text war für die Leserschaft wie gesagt erkennbar, dass der Beschwerdeführer sich im Gegensatz zu anderen Thurgauer Ständeratskandidaten schon früher gegen die Expo 01/02 geäussert hat.

6. Hingegen ist die Steichung der Bezeichnung „Ständeratskandidat“ bei der Unterzeichnung der Zuschrift ein klarer Fehler. Gerade während des Wahlkampfes erscheint ein solcher redaktioneller Eingriff – wie bescheiden seine Bedeutung auch sein mag – unter berufsethischen Gesichtspunkten unverständlich. Denn es kann nicht Aufgabe einer Redaktion sein, durch Weglassung einer solchen Bezeichnung indirekt Wahlkampf zu betreiben. Den gerechtfertigten Bemühungen der Redaktionen, Propaganda für einzelne Kandidatinnen und Kandidaten nach Möglichkeit zu vermeiden, kann – und muss manchmal – durch andere Lösungen Rechnung getragen werden, so z.B. durch Beschränkung der Anzahl der pro Kandidat/in abgedruckten Zuschriften (jedenfalls wenn sie allzu zahlreich eingereicht werden und / oder unter journalistischen Gesichtspunkten nicht relevant erscheinen). Immerhin ist aber auch hier zugunsten der betroffenen Redaktion festzuhalten, dass bei der von ihr verwendeten Bezeichnung „Präsident KVP Schweiz“ und aus dem veröffentlichten Text für das Publikum t
rotzdem erkennbar wurde, dass sich die Meinungsäusserung des Beschwerdeführers auf den damals laufenden Ständeratswahlkampf bezog.

7. Der Beschwerdeführer rügt schliesslich den Nichtabdruck seiner mit Schreiben vom 8. Oktober 1999 verlangten Berichtigung. Gemäss Ziff. 5 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ ist eine solche nur zu veröffentlichen, wenn sich der Inhalt einer veröffentlichten Meldung ganz oder teilweise als falsch erweist. Diese Voraussetzung ist vorliegend offensichtlich nicht erfüllt.

III. Feststellungen

1. Wenn sich eine Redaktion für den Abdruck einer Zuschrift entscheidet, sind deren wesentlichen Züge wiederzugeben. Bei der redaktionellen Bearbeitung sind die journalistischen Regeln insoweit zu befolgen, als der veröffentlichte Text die Idee des Autors der Zuschrift im wesentlichen korrekt wiedergeben sollte. Dieser Ansatz trägt sowohl dem Interesse des Autors, seine Meinung öffentlich zu äussern, als auch dem Anspruch des Publikums auf Kenntnis von Tatsachen und Meinungen Rechnung.

2. Die Redaktion der „Tagesspiegel“-Zeitungen hat Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ dadurch verletzt, dass sie einen wesentlichen Satz einer von ihr publizierten Zuschrift des Beschwerdeführers gestrichen und seine Bezeichnung als Ständeratskandidat ungerechtfertigterweise weg gelassen hat. Insofern wird die Beschwerde teilweise gutgeheissen.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.