Nr. 50/2006
Rechercheinterviews / Respektierung der Privatsphäre

(Spring c. «NZZ am Sonntag» / «SonntagsZeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 17. November 2006

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Der Papst ist ein Depp» berichtete Pascal Hollenstein am 4. Dezember 2005 für die «NZZ am Sonntag», die Kommunikationschefin der CVP, Monika Spring, habe am Rande der Wintersession der Eidgenössischen Räte in Bern schwere Vorwürfe gegen den Papst erhoben. Spring habe in Gegenwart mehrerer Journalisten gesagt, «sie überlege sich einen Austritt aus der Katholischen Kirche. ‹Der Papst ist ein Depp. Das können Sie ruhig schreiben›, begründete Spring ihre Erwägungen auf Nachfrage. Spring fügt an, ihre Qualifikation des Papstes beziehe sich sowohl auf den verstorbenen Johannes Paul II. als auch auf den amtierenden Benedikt XVI. Spring sagte, ihr sei insbesondere die Haltung des Papstes gegenüber Homosexuellen unverständlich. Immerhin, so die CVP-Kommunikationschefin weiter, handle es sich bei der katholischen Kirche ‹um die grösste Schwulenorganisation der Welt›.»

B. Gleichentags veröffentlichte die «SonntagsZeitung» in der Rubrik «Politohr» folgende Kurzmeldung: «CVP-Sprecherin Monika Spring erwägt den Austritt aus der katholischen Kirche. ‹Der Papst ist ein Depp. Das können sie ruhig schreiben›, begründet sie. Und weiter: Es sei absurd, dass Rom gegen schwule Priester vorgehe, denn die katholische Kirche sei ‹die grösste Schwulenorganisation der Welt›.»

C. Mit Beschwerde vom 22. Dezember 2005 gelangte die anwaltlich vertretene Monika Spring, Basel, an den Presserat. Mit ihren Veröffentlichungen vom 4. Dezember 2005 hätten die Redaktionen von «NZZ am Sonntag» und «SonntagsZeitung» die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Entstellung von Informationen), 5 (Berichtigungspflicht) und insbesondere 7 (Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Der «NZZ am Sonntag» warf sie zudem eine Verletzung der Ziffern 1, 3 und 7 durch den Abdruck überwiegend negativer Leserbriefe und der nochmaligen Veröffentlichung eines im Vergleich zum ursprünglichen Artikel ca. doppelt so grossen Bildes von Monika Spring vor.

Das besagte Gespräch habe am 30. November 2006 zwar stattgefunden, sei jedoch beidseitig als «private Konversation» und «inoffiziell» deklariert worden. An diesem scherzhaften Gespräch sei zuerst nur Pascal Hollenstein von der «NZZ am Sonntag» anwesend gewesen. Später sei dann Andreas Windlinger von der «SonntagsZeitung» hinzugekommen.

Monika Spring habe nie gesagt, dass sie sich zur Zeit einen Austritt aus der katholischen Kirche überlege. Sie habe lediglich darauf hingewiesen, dass sie wie ein grosser Teil der jungen Katholiken diesen Schritt auch schon in Erwägung gezogen, dann aber wieder verworfen habe. Ebenso wenig habe sie die Aussage «der Papst ist ein Depp» so geäussert, sondern den Journalisten eindringlich erklärt, dass sich vor allem junge Menschen heute nicht mehr mit der Kirche und seinem Oberhaupt identifizieren könnten. Dabei gehe es nicht um den Papst als Person oder Staatsoberhaupt, sondern um die von der Kirche vertretene Lehre, vor allem die Sexuallehre. Sie habe nach dieser Aussage lachend und scherzhaft angeführt, dass dies ruhig zitiert werden dürfe, um dann sogleich anzufügen, dass das selbstverständlich nicht zitiert werden könne, da diese Aussagen natürlich äusserst überspitzt, undifferenziert und scherzhaft seien und es sich ja nicht um ein offizielles Gespräch handle. Dies sei seitens der Journalisten auch mit einem Nicken bestätigt worden.

Die Aussage, die Kirche sei «die grösste Schwulenorganisation der Welt» stamme nicht von ihr selber, sondern sei ein Zitat aus einem am 25. November 2005 im «Spiegel» erschienenen Interview mit dem katholischen Priester Herrmann Kügler. Die Beschwerdeführerin habe gegenüber den beiden Journalisten lediglich ausgeführt, diese Aussage sei kürzlich in einem Bericht zu lesen gewesen.

Nachdem beide Journalisten nachträglich den inoffiziellen Charakter des Gesprächs verneinen würden und Monika Spring zudem identisch zitiert hätten, müsse von einer Absprache zwischen Pascal Hollenstein und Andreas Windlinger ausgegangen werden.

D. Am 31. Januar 2006 wiesen die durch den Rechtsdienst der Tamedia vertretene Redaktion der «SonntagsZeitung» und am 4. Februar 2006 Chefredaktor Felix E. Müller namens der «NZZ am Sonntag» die Beschwerde mit ähnlichen Argumenten als unbegründet zurück. Entgegen der nachträglich konstruierten Behauptung der Beschwerdeführerin habe es sich zwar um eine lockere, jedoch nicht um eine private Begegnung gehandelt. Vielmehr sei das Gespräch über politische Themen im Bundeshaus zwischen der CVP-Kommunikationschefin und ihr zwei beruflich bekannten Journalisten der Sonntagspresse, also in einem beruflichen Kontext geführt worden. Ebenso wenig sei zwischen den Beteiligten ein «Off-Record-Gespräch» vereinbart worden. Eine nachträgliche Autorisierung der Zitate sei nicht notwendig gewesen, da Monika Spring die Autorisierung bereits mit dem Nachsatz «das können Sie ruhig schreiben» erteilt habe. Dies hätte der Beschwerdeführerin, die nach eigenen Angaben «selbst lange als Journalistin gearbeitet» hat, bewusst sein müssen. Eine nachträgliche Absprache zwischen den beiden Journalisten habe nicht stattgefunden. An der Veröffentlichung der umstrittenen Aussagen habe ein öffentliches Interesse bestanden. Das Verhältnis der CVP zur katholischen Kirche sei gerade in den Monaten vor der Publikation im Zusammenhang mit der Abstimmung über die Sonntagsverkäufe breit thematisiert worden. Dementsprechend interessiere, wie die CVP-Exponenten – dazu gehöre aufgrund ihrer Funktion auch die Kommunikationschefin – zum Papst und zur Kirche stehen. Schliesslich – so die «NZZ am Sonntag» – sei ihre Auswahl der am 11. Dezember 2005 abgedruckten Leserbriefe entgegen der Darstellung von Monika Spring repräsentativ gewesen.

E. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

F. Am 14. Februar 2006 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher, behandelt.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 17. November 2006 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Der Presserat weist immer wieder darauf hin, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, in einem Medienbericht enthaltene, zwischen den Parteien umstrittene Faktenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (vgl. hierzu u.a. die Stellungnahme 2/2006). Der Presserat ist nicht in der Lage, ein umfangreiches Beweisverfahren zur Klärung komplexer Sachverhalte durchzuführen und kann dementsprechend nicht näher auf divergierende Darstellungen der Parteien eingehen, soweit diese nicht durch Urkunden belegt sind.

b) Die Sachverhaltsdarstellung der Parteien klafft sowohl hinsichtlich des Gesprächsrahmens (ausdrückliche Deklaration als «privat» und nicht zur Veröffentlichung bestimmt oder ein berufliches Gespräch zwischen zwei Journalisten und einer Parteiexponentin?) wie auch des Inhalts des Gesprächs weit auseinander (wurden die Aussagen «der Papst ist ein Depp» und die Kirche sei «die grösste Schwulenorganisation der Welt» von Monika Spring so geäussert oder nicht? Oder werden die Aussagen zumindest in einem ganz anderen Kontext wiedergegeben?). In einem Verfahren, in dem es darum geht, zu prüfen, ob die betroffenen Journalisten im Zusammenhang mit den beanstandeten Publikationen gegebenenfalls gegen berufsethische Normen verstossen haben, kann der Presserat nicht einseitig auf Behauptungen der beschwerdeführenden
Partei und deren Plausibilitätserwägungen abstellen. Entsprechend hat er bei den umstrittenen Sachverhalten – mangels verfügbarer schriftlicher Beweismittel -grundsätzlich von der Darstellung der beiden beschwerdebeklagten Redaktionen auszugehen.

2. a) Ungeachtet des konkreten strittigen Sachverhalt ist durch den Presserat aber jedenfalls zu prüfen, ob die Umstände des Gesprächs vom 30. November 2005 grundsätzlich eher für oder gegen die Zulässigkeit der Veröffentlichung der unbedacht scheinenden Äusserungen der Beschwerdeführerin durch die beiden Redaktionen sprechen.

b) In der Stellungnahme 1/1996 hat der Presserat in Anlehnung an ein Interview-Theoriebuch des Leipziger Publizistikprofessors Michael Haller grundlegende Regeln zu journalistischen Befragungen aufgestellt, die später auch in die entsprechende Richtlinie zum Thema (Richtlinie 4.5 zum verabredeten Interview) eingeflossen sind. Danach ist grundsätzlich zwischen drei Gesprächssituationen zu unterscheiden: «1. ‹on the record›: Befragte dürfen namentlich mit ihren wörtlichen Antworten zitiert werden. 2. ‹off the record›: Die Aussagen der Befragten dürfen zitiert werden, ohne dass eine Quelle genannt wird. 3. ‹background›: Die Aussagen der Befragten dürfen nicht zitiert werden; sie dienen lediglich als Hintergrund-Information.»

c) In der Stellungnahme 43/2001 wies der Presserat darauf hin, dass es in der journalistischen Praxis allerdings nicht nur verabredete Interviews gibt. «Häufig hängt es nicht von einer Verabredung, sondern von der Gunst des Augenblicks ab, ob Medienschaffende eine für sie wichtige Person erreichen und ihr Fragen stellen können.» Es sei berufsethisch durchaus zulässig und zuweilen geradezu geboten, dass Medienschaffende versuchen, Personen der Öffentlichkeit, eine Stellungnahme zu entlocken. Der Presserat bejahte damals, es sei zulässig den Inhalt des an einem öffentlichen Anlass geführten Tischgesprächs mit einer prominenten Person zu veröffentlichen. Alles, was Prominente an einem offiziellen Anlass zu Medienleuten sagen, sei grundsätzlich auch journalistisch verwertbar – es sei denn, gewisse Dinge würden Medienvertretern ausdrücklich unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt.

d) Ähnlich liegt die Sachlage beim hier zu beurteilenden lockeren Gespräch zwischen der Kommunikationschefin einer Bundesratspartei und zweien Journalisten der Sonntagspresse. Es entspricht durchaus den üblichen Gepflogenheiten, dass Äusserungen von Exponenten des eidgenössischen Politbetriebs – hierzu gehören neben den Parlamentarier/innen, dem Bundesrat und der Bundesverwaltung insbesondere auch die Bundeshausjournalist/innen sowie die Parteivertreter/innen und weiteren Lobbyist/innen – auch ausserhalb von vereinbarten Interviews, Pressekonferenzen, Communiqués usw. veröffentlicht werden. Das Gespräch vom 30. November 2005 fand unstrittig im Bundeshaus, im zeitlichen Umfeld der Wintersession 2005 der Eidgenössischen Räte statt, also in einem politisch/beruflichen Kontext. Ob sich die Beteiligten dabei in- oder ausserhalb der Wandelhallen ansprachen, ist nicht entscheidend. Die Beschwerdeführerin musste – vorbehältlich der ausdrücklichen Vereinbarung gegenseitigen Stillschweigens – unter den gegebenen Umständen jedenfalls damit rechnen, dass ihre – aufgrund ihrer beruflichen Funktion politisch relevanten – Äusserungen an die Öffentlichkeit gelangen könnten. Da der Presserat – wie ausgeführt – keine Beweisverfahren durchführt, muss mangels klarer, schriftlicher Beweise die Frage offen bleiben, ob wie von der Beschwerdeführerin behauptet Stillschweigen vereinbart worden ist. Entsprechend hat der Presserat aufgrund der konkreten Gesprächsumstände zu Gunsten der Beschwerdegegner davon auszugehen, dass der Inhalt des Gesprächs vom 30. November 2005 im Prinzip publiziert werden durfte. Vorbehalten bleiben die nachfolgenden Erwägungen zur Autorisierung sowie zur Respektierung der Privatsphäre der Beschwerdeführerin.

3. a) Die Richtlinie 4.5 zur «Erklärung» hält fest, dass vereinbarte (formelle Interviews) vorbehältlich einer abweichenden Vereinbarung zwischen den Parteien zur Autorisierung zu unterbreiten sind. Demgegenüber ist bei Recherchegesprächen (Richtlinie 4.6) eine Autorisierung nur dann erforderlich, wenn dies vom Interviewten ausdrücklich verlangt wurde. Vorausgesetzt, dem Gesprächspartner ist bewusst, dass eine Autorisierung der Zitate verlangt werden könnte.

b) Die Äusserungen von Monika Spring gegenüber den beiden Journalisten von «NZZ am Sonntag» und «SonntagsZeitung» erfolgten nicht im Rahmen eines verabredeten Interviews. Entsprechend wäre eine Autorisierung ihrer Zitate nur dann zwingend gewesen, wenn die Beschwerdeführerin darauf ausdrücklich bestanden hätte. Dagegen spricht zumindest die von der Beschwerdegegnerin unbestrittene Formulierung «das können Sie ruhig schreiben», auf die der Presserat abzustellen hat. Ob sie diese, wie sie geltend macht, bloss scherzhaft gemeint und unmittelbar nachher relativiert und in ihr Gegenteil verkehrt hat, muss mangels Beweisen wiederum offen bleiben.

4. Ebenso ist für den Presserat keine Verletzung der Privatsphäre im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung» ersichtlich. Zwar sind persönliche Haltungen zu Glaubensfragen der Privatsphäre zuzuordnen. Bei einer christlichen Volkspartei wie der CVP ist das Verhältnis der Partei zur Kirche jedoch Bestandteil des politischen Diskurses. Das Thema war gerade im Vorfeld der Publikationen vom 4. Dezember 2005 wegen der Volksabstimmung über die Sonntagsverkäufe aktuell. Entsprechend ist bei der Berichterstattung über die persönliche Haltung von Parteiexponenten – zu denen auch die Kommunikationschefin gehört – der von der Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» geforderte Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Berichterstattung und der politischen Tätigkeit offensichtlich gegeben. In Bezug auf die umstrittenen Äusserungen kommt hinzu, dass aufgrund der Aussage «das können Sie ruhig schreiben» – von der der Presserat wie ausgeführt auszugehen hat – die Betroffene in die Publikation einwilligte.

Zulässig war unter den gegebenen Umständen ebenso der zweimalige Abdruck des Bildes von Monika Spring durch die «NZZ am Sonntag» in den Ausgaben vom 4. und 11. Dezember 2005, selbst wenn die Publikation des zweiten – im Vergleich zum ersten doppelt so grossen – Bildes zusammen mit dem mehrdeutigen Titel «Wenig intelligent» unmittelbar nach ihrer Entlassung aus Sicht der Beschwerdeführerin nicht gerade von besonderer Rücksichtnahme zeugen mag.

5. a) Hätten die beiden Zeitungen trotz der prinzipiellen Zulässigkeit einer Veröffentlichung angesichts der Brisanz der Äusserungen auf die Publikation der umstrittenen Aussagen verzichten sollen? Oder hätten sie aus Rücksicht auf mögliche negative Folgen für die Beschwerdeführerin wenigstens noch einmal nachfragen müssen, ob Monika Spring diese wirklich zu Handen der Öffentlichkeit autorisieren wollte?

b) Der Presserat hat in der Stellungnahme 26/2002 im Zusammenhang mit dem Abdruck eines Bildes befunden, gegebenenfalls müssten Medienschaffende Betroffene vor sich selber schützen und von sich aus auf eine Publikation verzichten, selbst wenn diese der Veröffentlichung zugestimmt hätten. Damals ging es um die Privatsphäre zweier Mädchen, die zusammen mit ihrer Mutter, einer Mörderin, anlässlich des ersten Hafturlaubs der Mutter aufgenommen wurden. Das lustvolle Posieren der beiden Mädchen habe eher auf die Unreife von Kindern schliessen lassen, die sich den Kontext, in welchem die Bilder publiziert wurden, nicht hätten vorstellen können, so lautete damals die Begründung.

c) Nach Auffassung der Presserates würde es jedoch zu weit führen, aus dem Fairnessprinzip und der berufsethischen Verantwortung für die sich aus einer Publikation ergebenden Folgen abzuleiten, dass Journalistinnen und Journalisten vor der Veröffentlichung einer Äusserung immer auch abwägen müssten, welche (privaten) Konsequenzen dies für den Gesprächspartner ha
ben könnte und ob die ausdrückliche oder sich aus den Umständen ergebende Zustimmung reiflicher Überlegung entspringt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es wie hier um die Aussagen einer mündigen, erwachsenen Person geht, die eine verantwortungsvolle berufliche Funktion wahrnimmt und zudem gemäss eigenen Angaben über langjährige Medienerfahrung verfügt.

6. Abzuweisen ist die Beschwerde schliesslich in Bezug auf den beanstandeten Abdruck «fast ausschliesslich negativer» und vermutlich «nicht repräsentativer» Leserbriefe in der «NZZ am Sonntag» vom 11. Dezember 2005. Hierzu ist einerseits festzustellen, dass in einer der abgedruckten Zuschriften auch die Redaktion kritisiert wurde, die «die Veröffentlichung des Pamphlets hätte verhindern müssen». Ob die Auswahl der «NZZ am Sonntag» einseitig oder ausgewogen war, vermag der Presserat aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht zu beurteilen. Ohnehin ist aber darauf hinzuweisen, dass die Redaktionen gemäss ständiger Praxis des Presserates bei der Auswahl der abzudruckenden Leserbriefe frei sind und dass selbst eine einseitige Leserbriefauswahl nicht gegen die Berufsethik verstösst (vgl. zuletzt die Stellungnahme 24/2006).

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Wenn sich Träger wichtiger politischer Funktionen über ihre private Haltung zu Themen äussern, die einen unmittelbaren Bezug zu ihrer politischen Tätigkeit haben und sofern diese Äusserungen in einem politisch/beruflichen Kontext fallen, dann dürfen Medienschaffende davon ausgehen, dass diese Äusserungen für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

3. Aus dem Fairnessprinzip und der berufsethischen Verantwortung für die sich aus einer Publikation ergebenden Folgen kann nicht abgeleitet werden, dass Journalistinnen und Journalisten vor der Veröffentlichung einer Äusserung immer abwägen müssen, welche Konsequenzen dies für den Gesprächspartner haben könnte und ob die ausdrückliche oder sich aus den Umständen ergebende Zustimmung zur Publikation reiflicher Überlegung entspringt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es um die Äusserungen einer mündigen, erwachsenen Person geht, die eine verantwortungsvolle berufliche Funktion wahrnimmt und über langjährige Medienerfahrung verfügt.