Nr. 3/2012
Privatsphäre / Menschenwürde

(X. c. «Blick»/«Blick.ch») Stellungnahme des Presserates vom 8. Februar 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 3. November 2011 spielte der FC Zürich im Rahmen der Europa-League in Rom gegen Lazio Rom. Kurz vor Beginn der Partie explodierte im Sektor der Zürcher Fans eine Knallpetarde in den Händen eines Fans. Dem Mann wurden drei Finger abgerissen, zwei weitere Personen verletzt.

B. Am 7. November 2011 starteten «Blick», «Blick.ch» und «Blick am Abend» eine Artikel-Serie über den Verunfallten. Der erste Beitrag erschien unter dem Titel «Entlarvt! Das ist der Petarden-Trottel von Rom» in «Blick» und «Blick.ch». Benny Epstein schreibt, der 25-jährige Fan wohne mit zwei Freunden in einer Wohngemeinschaft in Adlikon. Die Leser und Leserinnen erfahren zudem seinen Vornamen, das Initial des Nachnamens und seinen Übernamen und sie sehen ein mit einem Balken versehenes Bild von ihm.

C. Am 8. November 2011 berichten Max Kern und Benny Epstein in «Blick» («Petarden-Trottel. Er arbeitet beim Film») und «Blick.ch» («Er ist nicht da, er ist verunfallt»), der 25-Jährige, der laut den Behörden in der Zwischenzeit wieder in die Schweiz zurückgekehrt sei und in einem Zürcher Spital liege – habe bisher beim Film gejobbt. Der Arbeitgeber habe sich gegenüber «Blick» nicht äussern wollen.

D. Am nächsten Tag fragen «Blick» und «Blick.ch»: «Was für eine Kinderstube hat der Petarden-Trottel? Sein Vater ist Schulpsychologe!» Der Artikel beschreibt, wie Benny Epstein vergeblich versucht, die Eltern des Verunfallten vor einem Mehrfamilienhaus in Adlikon zu einem Statement zu bewegen. Neben dem bereits in den vorherigen Berichten verwendeten Bild des Verunfallten (mit Balken) zeigt «Blick» das Haus in Adlikon, in dem die Wohngemeinschaft wohnt.

E. Schliesslich kündigen «Blick» und «Blick.ch» am 10. November an: «Petarden-Trottel kriegt keine IV». «Blick» habe in Erfahrung gebracht, dass der Verunfallte vor grossen Problemen stehe. So stecke er noch mitten in der Probezeit, weshalb ihm der Arbeitgeber kurzfristig kündigen könne. Mit einer Invalidenrente könne er kaum rechnen, dem FC Zürich müsse er noch eine UEFA-Busse in unbekannter Höhe zurückzahlen und die Arztkosten wegen Grobfahrlässigkeit wohl teilweise selber übernehmen.

F. Am 10. November 2011 beschwerte sich X. beim Presserat über die Artikelserie «Petarden-Trottel» im «Blick», «Blick am Abend» und «Blick.ch». Mit den vom 7. bis am 10. November veröffentlichten Berichten habe die «Blick»-Redaktion gegen die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde/Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

Die Art und Weise der Recherche und die Verwendung von zweifelhaften Bildern verletzten die Privatsphäre des Verunfallten und dessen Eltern. An der Berichterstattung habe kein öffentliches Interesse bestanden. Der Verunfallte sei allen vorliegenden Informationen gemäss nicht einmal für das Zünden der Petarde verantwortlich. Und weder die Reaktion seiner Eltern noch diejenige seines Arbeitgebers seien von öffentlichem Interesse.

Die Vorgehensweise der «Blick»-Redaktion respektiere zudem weder das Leid des Verunfallten noch dasjenige seiner Eltern. In diesem Zusammenhang sei auch die wiederholte Verwendung der Bezeichnung des Unfallopfers als «Petarden-Trottel» in Erwägung zu ziehen.

G. Am 14. Dezember 2011 teilte Blattmacher Urs Helbling im Auftrag von Chefredaktor Ralph Grosse-Bley mit, «Blick» verzichte auf eine Stellungnahme.

H. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Pia Horlacher, Francesca Luvini, Sonja Schmidmeister und David Spinnler (Mitglieder) angehören. Klaus Lange, Redaktor im Newsroom der «Blick»-Gruppe, trat in den Ausstand.

I. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 8. Februar 2012 sowie auf dem Korrespondenzweg.


II. Erwägungen

1. Die nachfolgenden Erwägungen beziehen sich auf die – mit Ausnahme eines Titels – identischen Berichte von «Blick» und «Blick.ch». Der Beschwerdeführer richtet seine Beschwerde zwar formell auch gegen «Blick am Abend», hat von diesem aber keine Berichte eingereicht.

2. a) Gemäss der Ziffer 7 zur «Erklärung» respektieren die Medienschaffenden «die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die zugehörige Richtlinie 7.1 bekräftigt, dass jede Person Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens hat. Deshalb ist jede Belästigung von Personen in ihrem Privatbereich zu unterlassen (Eindringen in Häuser, Verfolgung, Auflauern, telefonische Belästigung usw.). Die Richtlinie 7.2 (Identifizierung) verlangt, dass die Medienschaffenden «die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig» abwägen. Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.

b) Die Berichterstattung über die unerfreulichen Seiten der Fussball-Fankultur, insbesondere auch über die Vorfälle rund um das Europa-League Spiel des FC Zürich in Rom ist von öffentlichem Interesse. Dazu musste der Betroffene aber nicht ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt und an den Pranger gestellt werden. Die Beteiligung an dem tragischen Unglücksfall macht den Verunfallten ungeachtet davon, ob er die verhängnisvolle Petarde selber gezündet hat, nicht zu einer Person des öffentliches Interesses. Er hat sich nie selber öffentlich zu seinen Verletzungen geäussert.

c) Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen mehrfach darauf hingewiesen, dass öffentliches Interesse nicht mit öffentlicher Neugier zu verwechseln ist (Stellungnahme 52/2006). Denn die angebliche Entlarvung des jungen Mannes, der den Behörden bekannt ist, dient keineswegs dazu, zur Aufklärung einer möglichen Straftat beizutragen. Der Verunfallte ist laut den Berichten der Polizei bekannt und wurde von dieser ins Spital gebracht. Die «Entlarvung» dient in diesem Fall einzig dazu, den Betroffenen und seine Angehörigen an den Pranger zu stellen. Dies lässt sich im Lichte von Ziffer 7 der «Erklärung» selbst dann nicht rechtfertigen, wenn Bilder mit schwarzen Balken abgedeckt und der Name des Betroffenen nicht vollständig genannt werden. Zwar mag es zutreffen, dass bei separater Betrachtung der vier vom 7. bis am 10. November 2011 aufeinanderfolgend veröffentlichten Berichte nicht jeder einzelne davon eine Identifizierung zulässt. Insbesondere der Artikel vom 9. November («Was für eine Kinderstube hat der Petarden-Trottel? Sein Vater ist Schulpsychologe!») enthält mit der Angabe von Vornamen und dem Initial des Nachnamens, dem mit einem schwarzen Balken abgedeckten Bild des Verunfallten, dem Wohnort (Adlikon), dem Bild des Hauses, in dem die Wohngemeinschaft wohnt sowie dem Beruf des Vaters (Schulpychologe), der Angabe des Vornamens des Vaters und dem Hinweis, dass dieser an zwei Sekundarschulen im Kanton Zürich arbeitet, eine Vielzahl von Identifikationsmerkmalen, die eine Identifikation ausserhalb desjenigen Kreises von Personen als wahrscheinlich erscheinen lässt, die im Sinne der Richtlinie 7.2 ausschliesslich durch die Medien informiert werden.

d)
Über die eine Identifizierung ermöglichende Berichterst
attung hinaus erscheinen zudem die Recherchemethoden von «Blick» problematisch. Zwar ist es den Medien im Rahmen des öffentlichen Interesses nicht verwehrt, über die Hintergründe eines Unfalls zu recherchieren. Und ein einzelner Telefonanruf – sofern er nicht zur Unzeit erfolgt – stellt noch keine unzulässige Belästigung im Sinne der Richtlinie 7.1 dar (Stellungnahme 8/2007). Hingegen erscheint die Art und Weise, in der «Blick» systematisch das private Umfeld des Verunfallten durchleuchtet, WG-Kollegen, Arbeitgeber und Eltern kontaktiert hat, in der Summe als unverhältnismässig und übersteigt deshalb nach Auffassung des Presserats das berufsethisch Zulässige. Zumal die Publikation des mageren Rechercheergebnisses wie oben ausgeführt nicht im öffentlichen Interesse lag, sondern bloss die öffentliche Neugier befriedigte und dazu diente, den Verunfallten und seine Angehörigen an den Pranger zu stellen. Entsprechend wäre «Blick» zumindest verpflichtet gewesen, vor der Veröffentlichung der Informationen über das private Umfeld des Verunfallten nochmals sorgfältig zwischen Schutz der Privatsphäre der Betroffenen und dem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung abzuwägen.

3. a) Der Beschwerdeführer sieht darüber hinaus auch die Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde, Opferschutz) verletzt. «Blick» respektiere mit seiner Vorgehensweise und der wiederholten Verwendung der Bezeichnung «Petarden-Trottel» weder das Leid des Verunfallten noch dasjenige seiner Angehörigen.

b) Der Presserat weist in seinen Stellungnahmen zum Diskriminierungsverbot und zur Menschenwürde (vgl. zuletzt die Stellungnahme 47/2011 mit weiteren Hinweisen) konstant darauf hin, dass die abwertende Äusserung gegen eine Gruppe oder ein Individuum eine Mindestintensität erreichen muss, um als herabwürdigend oder diskriminierend zu gelten. Nur dann verletzt sie Ziffer 8 der «Erklärung».

c) Auch wenn die «Blick»-Kampagne in ungerechtfertigter Weise Privates an die Öffentlichzeit zerrt, verletzt sie damit nicht automatisch auch die Menschenwürde des Verunfallten und seiner Angehörigen. Die Bezeichnung «Petarden-Trottel» ist zwar für den Betroffenen hart, sie bewegt sich aber innerhalb der Kommentarfreiheit, der ein grosser Freiraum zuzugestehen ist. Der Verunfallte wird weder durch diese Bezeichnung noch durch den Hinweis auf die möglicherweise drastischen wirtschaftlichen und sozialen Folgen seines Verhaltens in seinem Menschsein herabgesetzt. Und ebenso wenig hat «Blick» in sensationalistischer Weise Bilder veröffentlicht, welche im Sinne der Richtlinien 8.3 und 8.5 zur «Erklärung» die Menschenwürde des Opfers und seiner Angehörigen missachten.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick» und «Blick.ch» haben mit der vom 7. bis am 10. November 2010 erfolgten Veröffentlichung der Artikelserie über einen Unfall, bei dem eine Knallpetarde in den Händen eines Fans explodierte, die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Privatsphäre; Identifizierung) verletzt.

3. «Blick» und «Blick.ch» haben die Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde, Opferschutz) nicht verletzt.