Nr. 6/2003
Namensnennung und identifizierbare Abbildung; Stellungnahme vom 31. Januar 2003

Drucken

I. Sachverhalt

A. Gegen mittag des 21. August 2002 teilten die Berner Kantons- und Stadtpolizei in einem Communiqué mit, sie hätten am Vorabend in Köniz einen Mann angehalten. Dieser werde dringend verdächtigt, «etwas» mit den aufsehenerregenden Tötungsdelikten von Anfang August in Bern-Bümpliz und Niederwangen (Tötungsversuch) «zu tun zu haben». Er habe bereits in der ersten Befragung beide Delikte gestanden. «Der 27jährige ledige Mann – es handelt sich um X., Koch – wollte eben in den Kanton Aargau umziehen.» X. habe ausgesagt, «in ihm gebe es eine Ader, die psychisch krank sei. Er schilderte Probleme mit Frauen.» Es bestehe dringender Tatverdacht; Hinweise auf andere Täterschaft gebe es nicht.

B. Am Nachmittag desselben Tages hielten Staatsanwalt, Untersuchungsrichterin und Polizeifunktionäre eine Medienkonferenz ab. Unter anderem ergänzten sie, X. habe andere Übergriffe nicht gestanden, aber aufgrund von Indizien werde weiter ermittelt. Kantonspolizeisprecher Markus Schneider erhoffte sich «mehr Hinweise auf Frauen, die mit X. in Kontakt gekommen seien. Deshalb habe man die Personalien des Mannes bekanntgegeben.» Die Publikation des Robotbildes und der Schriftproben hätten nämlich über 600 Abklärungsaufträge ausgelöst («Berner Zeitung» vom 22. August 2002). Über 100 Männer seien überprüft worden («Der Bund» vom 22. August 2002).

C. Die Medien gingen mit den erhaltenen Informationen überaus unterschiedlich um. Einige typische Positionen in den ersten Ausgaben nach der Medienkonferenz:

– Kurzmeldung ohne Nennung von Vornamen und Namen, ohne Bild: Schweizerische Depeschenagentur, NZZ, Tribune de Genève, Schweizer Radio DRS (erstes Thema im Abend-«Echo der Zeit»);

– Grosse bebilderte Berichte auf Frontseite und Innenseite(n): «Blick», «Berner Zeitung», «Mittellandzeitung», «Tages-Anzeiger» (Kleines Bild neben Roboterbildchen auf Kehrseite);

– Grössere Berichte mit Namen, aber ohne Bild: «Bund», «Schaffhauser Nachrichten», «St. Galler Tagblatt»;

– Fernsehen, SFDRS, Tele Züri: Name mit Initialen, Bild gepixelt.

Eine Schlüsselrolle scheint die Agentur Associated Press gespielt zu haben: Am Nachmittag suchte sie über die Datenbank Google nach X., traf auf «X., Gewinner mehrerer Waffenläufe», holte die off-the-record Bestätigung einer Amtsperson ein und stellte hierauf um auf Namensnennung mit dem Zusatz «bekannter Waffenläufer». Wenig später übermittelte die Bildagentur Keystone die entsprechenden Sportarchivbilder über Internet; erst spätabends bat sie, die Augenpartie abzudecken.

In der Folge gaben verschiedene Medien ihre Zurückhaltung auf, am auffälligsten die «NZZ am Sonntag» im Vergleich zur Werktagsausgabe, die weiterhin auf der Nichtnennung verharrte. Auch SFDRS stellte am 2. Tag von Initialen auf Vollnennung um.

D. Über das grosse Interesse der Öffentlichkeit an der Festnahme von X. und an der Aufklärung der ihm vorgeworfenen Verbrechen hinaus entstand in den Medien eine breite Diskussion und Kontroverse darüber, ob die Namensnennung aufgrund der Medienorientierungen der Strafverfolgungsbehörden berufsethisch gerechtfertigt war oder nicht. Dies veranlasste den Presserat, durch einen durch das Plenum auf dem Korrespondenzweg per 4. Oktober 2002 gefassten Beschluss, den Sachverhalt von sich aus aufzugreifen und der ersten Kammer zur Behandlung zuzuweisen. Der Kammer gehören Peter Studer als Präsident sowie Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli Mazza, Silvana Ianetta, Philip Kübler, Kathrin Lüthi und Edy Salmina an. Silvana Iannetta wurde per 1. Januar 2003 durch Pia Horlacher ersetzt. Die 1. Kammer behandelte den Fall an ihrer Sitzung vom 22. November 2002 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gebietet in Ziffer 7, die Privatsphäre zu respektieren, «sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält fest, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.» Die Richtlinie nennt allerdings auch Ausnahmen von dieser Grundregel :

– Überwiegendes öffentliches Interesse (inhaltlich unbestimmte «Generalklausel»); – Nennung eines politischen oder amtlichen Funktionsträgers, soweit das Delikt einen Bezug zu dieser Funktion hat; – Gefahr von Verwechslungen, falls der Name nicht genannt wird; – Wenn die Person bereits allgemein bekannt ist – wobei meist die Medien im konkreten Fall für die Bekanntheit gesorgt haben, weshalb diese Ausnahme mit besonderer Zurückhaltung anzuwenden ist; – Ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen.

Schliesslich bekräftigt die Richtlinie 7.5 zur «Erklärung», dass bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen ist. «Nach einer eventuellen Verurteilung haben Journalistinnen und Journalisten auf die Familie und die Angehörigen der / des Verurteilten, wie auch auf die Resozialisierungschancen Rücksicht zu nehmen.»

2. Der Presserat hatte sich in seiner bisherigen Praxis oft mit der Problematik der Namensnennung und der identifizierenden Berichterstattung zu befassen:

In der grundlegenden Stellungnahme 7/94 i.S. Namensnennung hielt der Presserat fest: «Der Schutz der Privatsphäre des Angeschuldigten und seiner Angehörigen erfordert grösste Zurückhaltung bei der Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren mit Einschluss des Urteils. Der Namen eines Beschuldigten oder Verurteilten darf – Ausnahmen vorbehalten – nicht veröffentlicht werden, und die Umschreibung durch den Berichterstatter darf eine Identifikation nicht erlauben. Abweichend vom Grundsatz der Wahrung der Anonymität darf der Name des Betroffenen genannt werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Ein solches ist insbesondere dann gegeben, wenn der Betroffene mit einem politischen Amt oder einer staatlichen Funktion betraut ist und wenn er beschuldigt wird, damit unvereinbare Handlungen begangen zu haben; wenn eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist (diese Ausnahme ist mit Zurückhaltung anzuwenden); wenn der Betroffene seinen Namen im Zusammenhang mit dem Verfahren selber öffentlich macht oder ausdrücklich in die Veröffentlichung einwilligt sowie wenn die Namensnennung notwendig ist, um eine für einen Dritten nachteilige Verwechslung zu vermeiden.»

In der darauffolgenden Stellungnahme 8/94 ergänzte der Presserat: «Es liegt im öffentlichen Interesse, mitzuteilen, dass ein Mord aufgeklärt und der Täter verhaftet wurde. Ungeachtet der Verwerflichkeit und Abscheulichkeit einer Tat haben aber auch ein mutmasslicher Täter und seine indirekt betroffenen Angehörigen ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. Selbst wenn Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall einen Namen zur Publikation freigeben, entbindet dies Medienschaffende nicht von der Pflicht, ihrerseits nach berufsethischen Kriterien zu prüfen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist.» Diesen Vorrang medienethischer Überlegungen ungeachtet der Informationspraxis von Behörden bestätigte der Presserat in einer Stellungnahme (7/99 i.S. Affäre L.) zur Medienberichterstattung über eine insbesondere in der Westschweiz stark beachteten Entführungsaffäre. Allerdings könnten die Umstände der Identifikation eines mutmasslichen Täters durch die Behörden jegliche Zurückhaltung der Medien als nutzlos erscheinen lassen. Im konkreten Fall wurden die Namen der Tatbeteiligten anlässlich einer vom Fernsehen direkt übertragenen Medienkonferenz der Strafverfolgungsbehörden genannt. < /p>

Zur identifizierenden Berichterstattung über Personen des öffentlichen Lebens hat der Presserat in ständiger Praxis festgehalten:

Ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung besteht insbesondere bei Personen des öffentlichen Lebens, sofern die zu veröffentlichenden Informationen für deren Stellung in der Öffentlichkeit von Bedeutung sind. (1/94 i.S. T. / Télévision suisse romande; 1/95 M. c. «L’Hebdo»). So sei die Namensnennung zulässig, wenn gegen einen höheren Justizbeamten schwerwiegende und konkrete strafrechtliche Vorwürfe erhoben werden, die in einem direkten Zusammenhang mit seinem Amt stehen und die das gute und unabhängige Funktionieren der Justiz in Frage stellen (Stellungnahme 6/99 i.S. X. c. «Blick» / «SonntagsZeitung») Die Stellungnahme 14/97 i.S. X. c. «SonntagsBlick» stellte klar, dass eine Namensnennung nicht nur bei staatlichen Funktionen und politischen Ämtern, sondern generell bei gesellschaftlich wichtigen Funktionen ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann. Grundlegend war auch die Stellungnahme 36/01 i.S. M. / «Blick» / «SonntagsBlick»: «Die Berichterstattung über das private Umfeld von Politikerinnen und Politikern ist umso eher zulässig, je wichtiger die Funktion ist, um die es geht und je prominenter der betroffene Angehörige ist. Eine Berichterstattung über private Belange gegen den Willen der Betroffenen ist jedoch nicht zu rechtfertigen, wenn keinerlei Zusammenhang zur politischen Funktion besteht.»

3. Weshalb haben Polizei und Untersuchungsbehörden den Namen genannt? Im Gespräch führte der Informationschef der Kantonspolizei, Markus Schneider, gegenüber dem Presseratspräsidenten folgende Gründe an:

Das bernische Strafverfahren als gesetzliche Grundlage erlaube Namensnennung durch die Untersuchungsbehörde ausnahmsweise bei schweren Straftaten, wenn dies die Ergreifung dringend Verdächtiger fördere; der Staatsanwalt müsse zustimmen. Unter Ergreifung sei der Abschluss der Ermittlungen dank Fahndung, mit Hilfe von Opfern und Zeugen, zu verstehen. Hier habe es Anhaltspunkte für weitere Taten über das Geständnis hinaus gegeben. Übrigens sei die Privatsphäre von X. durch die Robotbildfahndung ohnehin schon geritzt gewesen. Wegen der hunderte von Hinweisen aus dem Publikum habe man die Ermittlungen auf X. kanalisieren wollen; im Zielbereich seien Briefe mit der Unterschrift von X. gefunden worden, die X. jeweils den von ihm angesprochenen Frauen geschrieben habe. Deshalb sei die Fahndungspräzisierung via Communiqué und Medien sinnvoll gewesen. Zudem hätte die Polizei eine dreistellige Zahl von Männern, auf die eingegangene Hinweise gepasst hätten, kontaktieren müssen. Via Communiqué und Medienkonferenz sei es möglich gewesen, sie alle und auch die Anzeigesteller zu informieren, fast ohne Verwechslungen zu riskieren.

4. a) Die Diskussion in den Medien zeitigte hauptsächlich folgende Argumente pro Namensnennung und Bebilderung:

Die Polizei lieferte den Namen und forderte implizit zur Verbreitung des Namens auf. X. war eine «bekannte Sportlerpersönlichkeit». Die Ermittlungen liefen weiter. Die Bevölkerung, die in Angst und Schrecken geraten war und sich an der Fahndung mit Hinweisen ausserordentlich rege beteiligt hatte, verdiente vor allem in der Region volle Information. Der Täter habe die beiden Tötungsdelikte sogleich gestanden, so dass die Unschuldsvermutung weitestgehend entfallen sei.

b) Demgegenüber machten Fürsprecher berufsethisch motivierter Zurückhaltung geltend:

Es sei kein überwiegendes Interesse dafür ersichtlich, den mutmasslichen Täter zu identifizieren. Die Bekanntheit des Waffenläufers rechtfertige die Namensnennung jedenfalls nicht, denn sie habe nichts mit dem Delikt zu tun. Zudem bestehe keine Verwechslungsgefahr. Andere Verdächtige seien nicht öffentlich ausgestellt worden. Die Unschuldsvermutung und der Schutz der Angehörigen hätten vorzugehen. Orientierungspunkt der Medienschaffenden seien die berufsethischen Standards, nicht die behördlichen Vorgaben.

5. Der Presserat sieht keine Veranlassung, aufgrund des Falles X. von seiner bisherigen, restriktiven Praxis i.S. Namensnennung abzuweichen. Dies hat bei Personen, die nicht dem öffentlichen Leben zuzurechnen sind, zur Folge, dass eine Namensnennung kaum je gerechtfertigt ist. Daraus lässt sich vorliegend nun aber nicht bereits der Umkehrschluss ziehen, dass eine Namensnennung bei Mischa Ebener berufsethisch nur dann gerechtfertigt gewesen wäre, wenn zwischen den ihm vorgeworfenen Delikten und seiner Tätigkeit als Waffenläufer ein enger Zusammenhang bestanden hätte. Im Gegenteil deutet zumindest die kontrovers geführte Diskussion in den Medien darauf hin, dass es sich um einen Grenzfall handelt, zu dem auch die Berufsethik nicht ohne weiteres immer eindeutige Antworten liefern kann.

Deshalb wägt der Presserat nachfolgend zuerst das in Richtlinie 7.6 formulierte Namensnennungsverbot sorgfältig gegen die explizit angeführten Ausnahmen und dann gegen die Generalklausel des «überwiegenden öffentlichen Interesses» ab. Daraus ergibt sich, ob eine identifizierende Berichterstattung im konkreten Fall gerechtfertigt war oder nicht.

6. a) Von den in Richtlinie 7.6 explizit genannten Ausnahmen waren diejenigen der Einwilligung von X.(im Zeitraum der Verhaftung) oder einer allgemeinen Bekanntheit über den kleinen Kreis der Freunde des Waffenlaufsports hinaus offensichtlich nicht gegeben.

b) Näher zu prüfen bleiben damit zunächst zwei weitere Ausnahmen: Die einer relativen Bekanntheit des Waffenläufers X.; und die einer dank Namensnennung behobenen Gefahr der Verwechslung mit andern Verdächtigen. Auch diese beiden Ausnahmen sind bei näherer Betrachtung nicht erfüllt. Denn offensichtlich besteht kein Zusammenhang der X. vorgeworfenen Delikte mit seiner Tätigkeit als Waffenläufer. Das Argument der Verwechslungsgefahr hat vor allem die Polizei, nicht aber eine der eine Namensnennung befürwortenden Medienredaktionen vorgebracht. Die Polizei behauptete, dass via Communiqué und Medienkonferenz eine dreistellige Zahl von angezeigten Männern, die aufgrund von Hinweisen in die Ermittlungen einbezogen worden seien, sowie die entsprechenden Anzeigesteller unmittelbar informiert werden konnten – und erst noch ohne Verwechslungsgefahr. Auch wenn diese Argumentation aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden nachvollziehbar erscheint, ist ihr unter medienethischen Gesichtspunkten entgegenzuhalten: «Verwechslungsgefahr» im Sinne von Richtlinie 7.6 meint nur eine unmittelbar durch Medienberichterstattung bewirkte Verwechslungsgefahr bei einem grösseren Publikum, nicht dagegen mögliche Missverständnisse im unmittelbaren Umfeld der polizeilichen Ermittlungen. Letztere sind grundsätzlich durch direkte Kommunikation der Polizei zu lösen. Wie bereits erwähnt gab es hingegen keine anderen Tatverdächtigen, die aufgrund der Medienberichterstattung bei einem Verzicht auf die Nennung von X. in der Öffentlichkeit verdächtigt worden wären.

7. Damit bleibt noch eine letzte Frage zu beantworten: Erscheint die Namensnennung ausserhalb der expliziten Ausnahmefälle in Richtlinie 7.6 wegen der Generalklausel des überwiegenden öffentlichen Interesses nachträglich als gerechtfertigt?

a) Gemäss der Präambel der «Erklärung» sichern die Journalistinnen und Journalisten «den gesellschaftlich notwendigen Diskurs». Aus dieser Verpflichtung leiten sich ihre Pflichten und Rechte ab. Die Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit hat den Vorrang vor jeder anderen, insbesondere vor ihrer Verantwortlichkeit gegenüber staatlichen Organen. In diesem Sinne besagt die oben in Ziffer 2 erwähnte Haltung des Presserates, dass die Medienschaffenden ungeachtet der von einer Behörde erhaltenen Information immer nach medienethischen Kriterien abzuwägen haben, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist (zur Frage der Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten von Behörden vgl. die Stellungnahme
23/00 i.S. G. c. A.). Zwar ist das polizeiliche, öffentliche Interesse an einer Aufklärung weiterer Delikte für die Medien keineswegs irrelevant. Für sich allein wiegt es aber nicht derart schwer, dass die ihm entgegenstehenden Interessen, der Schutz der Privatsphäre eines Tatverdächtigen und seiner Angehörigen sowie die Unschuldsvermutung, zwingend hätten zurückstehen müssen. Zumal unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit für die weiteren Ermittlungen – und wohl auch zur Vermeidung der oben diskutierten Verwechslungsgefahr – eine Nennung der Initialen genügt hätte. b) Ein überwiegendes öffentliches Interesse, das ausnahmsweise eine identifizierende Berichterstattung rechtfertigen könnte, liesse sich weiter eventuell darauf abstützen, dass die Bevölkerung im Raum Bern im Vorfeld der Anhaltung und Verhaftung von X. grossen Anteil nahm und zum Teil verängstigt war. Es kann Aufgabe der Journalistinnen und Journalisten sein, die Öffentlichkeit vor einer Gefahr zu warnen (Stellungnahmen X. c. «Berner Zeitung» und A. c. «Schweizer Illustrierte», beide vom 20. Februar 1991). Genau so mag es unter Umständen im medienethisch definierten öffentlichen Interesse liegen, eine Entwarnung gegenüber einer beseitigten öffentlichen Gefahr bekannt zu geben. Für die Namensnennung insbesondere in den Berner Medien sprach deshalb grundsätzlich, dass mit der konkreten Be-Nennung des Täters die Bevölkerung beruhigt werden konnte. Die Abwägung dieser an sich schützenswerten Intention mit den entgegenstehenden Interessen insbesondere der Angehörigen des Tatverdächtigen ergibt jedoch wiederum: Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit hätte bereits die Nennung der Initialen des Verhafteten zur Beruhigung beigetragen.

c) Schliesslich liesse sich argumentieren, die Namensnennung lasse sich ausnahmsweise bei besonders schweren Verbrechen und dann rechtfertigen, wenn ein mutmasslicher Verbrecher bereits zuvor zu einer Chiffre für den vom Film vorgezeichneten Typus des psychisch gestörten Serienkillers geworden ist (Beispiel: «Das Schweigen der Lämmer»). In diesem Sinne hat der Deutsche Presserat eine Beschwerde gegen eine Namensnennung mit dem Argument abgewiesen, bei der Tat habe es sich um ein schweres Verbrechen gehandelt, dessen Aufklärung in der Öffentlichkeit auf grosses Interesse gestossen sei (Jahrbuch 2001, S. 270). Diese Abwägung vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil das Interesse einer grossen Öffentlichkeit nicht mit einem öffentlichen Interesse zu verwechseln ist (Stellungnahme 62/02 i.S. Borer-Fielding / «Blick» / «SonntagsBlick»).

Schon eher scheint eine andere Überlegung bedenkenswert: Je schwerer eine Verstoss gegen die öffentliche (strafrechtliche) Ordnung zu bewerten ist, umso eher erscheint ein Eingriff in die Privatsphäre eines mutmasslichen Täters gerechtfertigt. Doch führt auch diese Überlegung letztlich zu keinem anderen Ergebnis, weil in der Regel bei sog. Kapitalverbrechen auch die öffentliche Aufmerksamkeit entsprechend grösser sein wird und damit auch die beim Betroffenen – und insbesondere seinen Angehörigen – durch eine identifizierende Berichterstattung verursachte Verletzung der Privatsphäre. Zurückhaltung erscheint deshalb selbst bei der Berichterstattung über Kapitalverbrechen zumindest dann geboten, wenn der Verdächtige und seine Angehörigen im Verbreitungsgebiet eines Mediums leben. Umgekehrt mutet eine zurückhaltende Praxis wenig sinnvoll an, wenn Schweizer Medien über Kapitalverbrechen berichten, bei denen die Namen von Tatverdächtigen von in der Schweiz beachteten ausländischen Medien bereits breit genannt worden sind.

8. Auch wenn der Presserat bei diesem schwierigen Grenzfall aufgrund einer Gesamtabwägung der gegenläufigen Interessen im Fall X. zum Schluss kommt, dass die Medien unmittelbar nach der Verhaftung im Zweifel besser auf Namensnennung verzichtet hätten, erschiene es aber realitätsfremd, diese Position auch für die darauffolgende Berichterstattung aufrechtzuerhalten. Nachdem ein erheblicher Teil der Medien den Namen bereits genannt hatte, war X. in der Öffentlichkeit derart bekannt geworden, dass eine weitere identifizierende Berichterstattung kaum mehr erheblichen zusätzlichen Schaden stiften konnte. Nicht untersuchen will der Presserat hier, ob und wie weit die Art der Darstellung (biografische Serien, «Exklusivinterviews» aus dem Gefängnis usw.) ethische Grundsätze verletzte.

9. Abschliessend ergänzt der Presserat in Bezug auf die Richtlinie 7.5 , dass es unter medienethischen Gesichtspunkten für die Frage der Namensnennung nicht massgebend sein kann, ob X. strafrechtlich auf die Unschuldsvermutung verzichtete, indem er sogleich zwei Haupttaten zugab. Denn der Grundsatz der Anonymisierung der (Gerichts-)Berichterstattung gilt ungeachtet davon, ob ein Geständnis oder gar eine rechtskräftige Verurteilung vorliegt. Unter dem Gesichtspunkt der Richtlinie 7.5 sind die Journalistinnen und Journalisten hingegen – auch wenn ein Tatverdächtiger gestanden hat – verpflichtet, dessen Stand im Strafverfahren nicht durch eine unfaire Berichterstattung zu verschlechtern. Dies kann sie jedoch nicht daran hindern, wesentliche Fakten (z.B. ein Geständnis) zu nennen, so lange für das Publikum der Stand des Verfahrens ersichtlich ist (Stellungnahme 6/00 i.S. G. c. «Cash»).

III. Feststellungen

1. Die bloss relative Bekanntheit eines Waffenläufers innerhalb der durch die Anhänger dieses Sport gebildeten Teilöffentlichkeit vermag für sich allein eine identifizierende Berichterstattung nicht zu rechtfertigen, wenn kein Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Berichterstattung und dem Grund der relativen Bekanntheit besteht.

2. Die Nennung des Namens eines Tätverdächtigen ist ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn dadurch bei einem breiten Publikum durch vorangehende Medienberichte möglicherweise verursachte Verwechslungen und falsche Verdächtigungen vermieden werden können. Die Voraussetzungen der Namensnennung sind hingegen nicht erfüllt, wenn Verwechslungen einzig in unmittelbaren Umfeld der von umfangreichen polizeilichen Ermittlungen Betroffenen drohen.

3. Die Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» enthält keine abschliessende Aufzählung der Gründe, die ausnahmsweise eine identifizierende Berichterstattung zu rechtfertigen vermögen. Sofern im Einzelfall keine dieser genannten Ausnahmen zutrifft, muss eine Gesamtabwägung der entgegenstehenden Interessen ergeben, ob dennoch das öffentliche Interesse an einer Namensnennung überwiegt.

4. Ein überwiegendes Interesse an einer Namensnennung lässt sich im Einzelfall unter Umständen auch darauf abstützen, dass eine identifizierende Berichterstattung der Aufklärung weiterer Verbrechen dient und / oder die Bevölkerung beruhigen kann. Hingegen stellt die Schwere eines Verbrechens für sich allein kein genügendes Kriterium dar, um eine identifizierende Berichterstattung zu rechtfertigen. Denn aufgrund des erhöhten Interesses der Öffentlichkeit an Berichten über schwere Verbrechen wird hier die Privatsphäre von Tatverdächtigen und Angehörigen regelmässig auch intensiver beeinträchtigt. Eine Zurückhaltung bei der Namensnennung in Berichten über Kapitalverbrechen macht jedoch dann wenig Sinn, wenn die Namen von auch in der Schweiz beachteten ausländischen Medien bereits breit genannt worden sind.

5. Die Medien hätten unmittelbar nach der Verhaftung von X. besser auf die Namensnennung verzichtet und sich auf die Nennung der Initialen beschränkt. Denn die Nennung des vollen Namens war weder zur Vermeidung von Verwechslungen noch zur Beruhigung der Bevölkerung zwingend erforderlich. Der Tatverdächtige war als Waffenläufer nur relativ bekannt, und die ihm vorgeworfenen Taten standen nicht im Zusammenhang mit dem Grund dieser Bekanntheit. Ebensowenig überwog das öffentliche Interesse an der Aufklärung weiterer Straftaten das Interesse des Tatverdächtigen und insbesondere seiner Angehörigen am Schutz ihrer Privatsphäre. Nachdem aber ein erheblicher Tei
l der Medien den Namen breit genannt hatte, war der Name X. in der Öffentlichkeit derart bekannt geworden, dass eine weitere identifizierende Berichterstattung – vorbehältlich deren Art und Weise – kaum mehr erheblichen zusätzlichen Schaden stiften konnte.