Nr. 40/2003
Namensnennung / Respektierung der Privatsphäre

(X. c. «Blick» / «Bund») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 28. August 2003

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I. Sachverhalt

A. Am 21. August 2002 teilten die Berner Kantons- und Stadtpolizei in einem Communiqué mit, ein am Vorabend verhafteter Mann werde dringend verdächtigt, etwas mit zwei Tötungsdelikten von Anfang August zu tun zu haben. Beide Taten habe er gestanden. Das Communiqué nannte den vollen Namen und den Beruf des Verhafteten. In der Folge erwies sich, dass der Verhaftete tatsächlich der Täter war, der in der Nacht auf den 1. August in Niederwangen eine Frau erstochen und eine zweite in Bern-Bümpliz lebensgefährlich verletzt hatte. Zuvor hatte er eine Reihe von Entreissdiebstählen begangen. Das Interesse der Medien an diesem Fall war gross und anhaltend. Die Identität des Täters wurde dadurch in der Öffentlichkeit allgemein bekannt und sein Name zu dieser Zeit praktisch von allen Medien genannt. In der Folge sind nur jene Artikel erwähnt, auf die sich die Beschwerde bezieht.

B. Am 16. September 2002 meldete der «Blick» auf seiner Frontseite: «Mitternachts-Mörder: Selbstmord-Versuch in der Zelle». Der Artikel schliesst mit dem Satz: «Auch die Untersuchungsbehörde schweigt und verweist auf eine Medieninformation am Dienstag.»

C. Im Rahmen einer siebenteiligen Serie «Der Mitternachts-Mörder M.E. Seine Taten. Seine Opfer. Sein Leben» erschien im «Blick» vom 22. November 2002 der Beitrag mit dem Titel: «Sein leiblicher Vater: ÐIch möchte M. nie mehr sehen.?» Darin war der Lebensweg von M. E. nachgezeichnet. Ausführlich kam der leibliche Vater zu Wort, dessen Name die Redaktion in Jack B. geändert hatte. Er schilderte die frühe Jugend von M.E., die Familienverhältnisse und die Umstände, die dazu geführt hatten, dass M. und sein Bruder zur Adoption freigegeben wurden. Der Artikel endet mit dem Zitat: «ÐM. hat das Leben fremder Familien zerstört – und damit sein eigenes. Ich könnte an seiner Stelle nicht weiterleben?, zieht Jack B. ein trauriges Fazit seines Gesprächs mit BLICK.»

D. Am 24. November 2002 erhängte sich M.E. in seiner Zelle.

E. Am 18. Dezember 2002 veröffentlichte der «Bund» unter dem Titel «Beim Fall E. Ðunter Druck?» einen Jahresrückblick auf die Arbeit der Berner Kriminalpolizei. In Titel und Text wurde der Name E. neun Mal genannt.

F. Mit Eingabe vom 31. Dezember 2002 erhob der Adoptivvater von M.E. Beschwerde einerseits gegen die Kantonspolizei Bern, andererseits gegen die Zeitungen «Blick» und «Bund». Der Kantonspolizei warf er vor, in ihrer Medienmitteilung vom 21. August 2002 den Namen und Beruf seines Sohnes genannt zu haben.

Beim «Blick» rügte er, die Zeitung habe vom Suizidversuch berichtet (16. September 2002), ohne zuvor die Adoptiveltern zu informieren. Zudem habe der «Blick» im November 2002 eine siebenteilige Artikelserie des «Blicks» über das Leben und die Taten von M.E. veröffentlicht, obwohl der Beschwerdeführer und der Anwalt von M.E. die Ko-Autorin der Serie telefonisch und per E-Mail auf den kritischen Zustand von M.E. hingewiesen hätten.

Dem «Bund» warf der Beschwerdeführer vor, in seinem Artikel vom 18. Dezember 2002 den Namen von M.E. neunmal genannt und damit die Gefühle der Angehörigen verletzt zu haben.

G. Am 19. Januar 2003 ergänzte und präzisierte der Beschwerdeführer seine Eingabe. Die Meldung des «Blicks» über den Suizidversuch verletze seines Erachtens die Richtlinien 7.2 (Personen in Notsituationen), 7.6 (Namensnennung) und 7.9 (Berichterstattung über Suizide) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Richtlinien» genannt).

Bei der siebenteiligen «Blick»-Serie beschränkte der Beschwerdeführer seine Klage auf den Artikel vom 22. November 2002, in dem ein Gespräch mit M.E.s leiblichem Vater wiedergegeben ist. Dieser Betrag verletze die Richtlinien 7.1 (Schutz der Privatsphäre), 7.2 (Personen in Notsituationen) und 7.6 (Namensnennung).

Der «Bund»-Artikel vom 18. Dezember 2002 verstosse ebenfalls gegen die oben genannten Richtlinien 7.2 und 7.6.

H. In seiner Beschwerdeantwort vom 12. Februar 2003 wies der Chefredaktor des «Bunds» darauf hin, dass seine Zeitung in Sachen Namensnennung sehr zurückhaltend sei. Nur ausnahmsweise und bei aussergewöhnlichen Kapitalverbrechen gebe die Zeitung den Namen eines Täters bekannt. Im Fall von M.E. habe der «Bund» aber konsequent darauf verzichtet, ein Bild des Angeschuldigten zu publizieren. Im Artikel vom 18. Dezember 2002 – einem Rückblick des Kripochefs auf das Jahr 2002 – seien der «Fall E.» sechsmal als stehender Begriff und der Name M.E. dreimal im Zusammenhang mit einzelnen Taten von E. genannt worden. Der Beitrag enthalte keine Äusserungen zum Umfeld und den Angehörigen. Aus diesen Gründen beantragte er die Abweisung der Beschwerde.

I. Der Anwalt des «Blicks» stellte mit Schreiben vom 6. März 2003 ebenfalls den Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Zudem stellte er ein Ausstandsbegehren gegen den Präsidenten des Presserats, da dieser in der «Aargauer Zeitung» vom 16. Dezember 2002 die Auffassung vertreten habe, die Nennung des Namens von M.E. sei unzulässig gewesen.

Zu den Vorwürfen gegen die «Blick»-Ausgabe vom 16. September 2002 erklärte der Beschwerdegegner, einzig M.E. selbst wäre legitimiert gewesen, gegen die Meldung von seinem Suizidversuch zu protestieren. Dies habe er aber nicht getan. Der Beschwerdegegner führte eine Stellungnahme des Presserats (8/92) an, in der die Berichterstattung über einen Suizid als zulässig erklärt wurde, wenn er im Zusammenhang mit einem von der Polizei gemeldeten Verbrechen stehe. Zudem habe der frühere Präsident des Presserats 1989 festgehalten, das öffentliche Interesse rechtfertige eine Berichterstattung über Selbstmord im Gefängnis. Der «Blick» habe sich an die in der Stellungnahme 8/92 aufgestellten Schranken gehalten und keine Details über die Art und Weise des Suizidversuchs veröffentlicht.

Hinsichtlich des «Blick»-Artikels vom 22. November 2002 über den leiblichen Vater von M.E. wandte sich der Beschwerdegegner «ausdrücklich gegen die infame Unterstellung, die Serie könnte einen Zusammenhang mit dem Selbstmord M.E.s» haben. Die Privatsphäre des Beschwerdeführer sei nicht verletzt worden, da die Angaben im Artikel offensichtlich von den beiden Informanten – der Adoptivmutter und dem leiblichen Vater – stammten.

K. Das Präsidium des Presserates, bei dem Präsident Peter Studer von sich aus in den Ausstand trat, wies die Beschwerde der 3. Kammer zu. Dieser gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin sowie die Mitglieder Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann an.

L. Die 3. Kammer beriet die Stellungnahme an zwei Sitzungen vom 15. Mai und 28. August 2003 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Soweit sich die Beschwerde gegen die Medienmitteilung der Berner Kantonspolizei richtet, tritt der Presserat nicht darauf ein. Gemäss Art. 1 seines Geschäftsreglements erstreckt sich die Zuständigkeit des Presserats nur auf das Verhalten der Journalistinnen und Journalisten, vorbehältlich der Verteidigung der Presse- und Informationsfreiheit, hingegen nicht unmittelbar auf die Art und Weise der Informationspraxis von Behörden und weiteren Akteuren, deren Tätigkeit sich direkt oder indirekt auf die Medien auswirkt.

2. Nach Auffassung des Beschwerdeführers verstossen die genannten Artikel des «Bunds» und des «Blicks» gegen die Richtlinien 7.2 und 7.6 zur «Erklärung». Diese beiden Richtlinien sind Präzisierungen der Ziffer 7 der «Erklärung», die Medienschaffende verpflichtet, die Privatsphäre von Personen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die beiden Richtlinien lauten:

– «7.2 (Personen in Notsituationen): Besondere Zurückhaltung ist bei Personen geboten, die sich in einer Notsituation befinden oder unter de
m Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Dies gilt sowohl für die Betroffenen als auch ihre Familien und Angehörigen. Interviews in Spitälern und ähnlichen Institutionen dürfen nur mit Einwilligung der Verantwortlichen realisiert werden.»

– «7.6 (Namensnennung): In Anwendung der vorgenannten Bestimmung (7.5 Unschuldsvermutung) veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden. Ausnahmen von dieser Grundregel sind zulässig:

– wenn dies durch ein überwiegendes öf-fentliches Interesse gerechtfertigt ist;

– wenn die betroffene Person mit einem politi-schen Amt oder einer staat-lichen Funktion betraut ist und wenn sie beschuldigt wird, damit unver-einbare Handlungen begangen zu haben;

– wenn eine Person in der Öffent-lichkeit allgemein bekannt ist; diese Ausnahme ist mit Zurückhaltung anzuwenden; zudem müssen die vorgeworfenen Handlungen im Zusammenhang mit der Bekanntheit stehen.

– wenn die betroffene Person ihren Namen im Zusammenhang mit dem Verfahren selber öffentlich macht oder ausdrücklich in die Veröf-fentlichung einwilligt;

– sowie wenn die Namensnennung notwendig ist, um eine für Dritte nachteilige Verwechslung zu vermeiden.»

3. Zur Namensnennung und der Veröffentlichung von Fotos im Fall M.E. hat sich der Presserat in seiner Stellungnahme 6/2003 vom 31. Januar 2003 ausführlich geäussert. In Ziffer 5 der Feststellungen heisst es: «Die Medien hätten unmittelbar nach der Verhaftung von M.E. besser auf die Namensnennung verzichtet und sich auf die Nennung der Initialen beschränkt. Denn die Nennung des vollen Namens war weder zur Vermeidung von Verwechslungen noch zur Beruhigung der Bevölkerung zwingend erforderlich. (…) Nachdem aber ein erheblicher Teil der Medien den Namen breit genannt hatte, war der Name M.E. in der Öffentlichkeit derart bekannt geworden, dass eine weitere identifizierende Berichterstattung – vorbehältlich deren Art und Weise – kaum mehr erheblichen zusätzlichen Schaden stiften konnte.»

4. Wenn der «Bund» in seiner Ausgabe vom 18. Dezember 2002 – vier Monate, nachdem der Name von M.E. erstmals in fast allen Medien genannt worden war – in einem Jahresrückblick des Kripochefs in einem einzigen Artikel neun Mal von M.E. oder dem Fall E. schrieb, dann mochte das journalistisch etwas redundant sein, doch entstand dadurch kein zusätzlicher Schaden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Taten und der Name von M.E. noch in so frischer Erinnerung, dass keine vernarbten Wunden neu aufgerissen werden konnten. Auch der erst einen Monat zurückliegende Suizid von M.E. schuf keinen Grund, der es verboten hätte, den Namen zu nennen. Ebenso wenig verstiess der Artikel gegen die Richtlinie 7.2, die Angehörige vor pietätloser direkter Zudringlichkeit durch Medienschaffende schützen soll. Darum ist die Beschwerde gegen den «Bund» abzuweisen.

5. Der Beschwerdeführer rügt, dass der «Blick» am 16. September 2002 über den Suizidversuch von M.E. berichtete. Richtlinie 7.9 der «Erklärung» schreibt Massenmedien «grösste Zurückhaltung» bei der Berichterstattung über Suizide vor. Gleiches gilt in noch verstärktem Masse über Suizidversuche. Als Beispiel, wo ausnahmsweise über Suizide berichtet werden dürfe, nennt die Richtlinie: « (…) wenn sie (die Suizide) im Zusammenhang mit einem von der Polizei gemeldeten Verbrechen stehen». Dieses Kriterium war bei M.E. gegeben. Darum durfte der «Blick» über den Suizidversuch berichten. In diesem Punkt ist die Beschwerde abzuweisen.

6. Schliesslich richtet sich die Beschwerde gegen einen Artikel aus der «Blick»-Serie über das Leben und die Verbrechen von M.E.: gegen den am 22. November 2002 erschienenen Beitrag mit dem Titel «Sein leiblicher Vater: ÐIch möchte M. nie mehr sehen?». Die Zeitung präsentiert darin sehr intime Details über die Herkunftsfamilie von M.E. Zum Teil sind es direkte Zitate des leiblichen Vaters, der 23 Jahre zuvor M.E. und seinen Bruder zur Adoption freigegeben hatte. Der Artikel endet mit der Passage «ÐM. hat das Leben fremder Familien zerstört – und damit auch sein eigenes. Ich könnte an seiner Stelle nicht weiterleben?, zieht Jack B. ein trauriges Fazit seines Gespräches mit BLICK.»

Die Aussagen des Vaters dringen eindeutig in die Intimsphäre von M.E., und sekundär in die Privatsphäre des Beschwerdeführers. Der Artikel erschien zwei Monate nach dem Suizidversuch von M.E. – die Autoren wussten also um die Labilität und die Selbstgefährdung von M.E. Sie hätten ein allfälliges öffentliches Informationsinteresse gegen die Suizidgefahr abwägen müssen. Nun enthalten die Hintergründe einer 23 Jahre zurückliegenden Adoption kaum Tatsachen, welche die Zeitung aus Gründen der Informationspflicht ihren Leserinnen und Lesern mitzuteilen hätte. Geradezu fahrlässig war es unter den gegebenen Voraussetzungen, den Artikel mit einem Zitat enden zu lassen, welches als Aufforderung zum Suizid verstanden werden konnte. Auch wenn der Presserat den Artikel ausdrücklich nicht in einen kausalen Zusammenhang mit dem zwei Tage später erfolgten Suizid von M.E. stellt, so ist doch festzuhalten, dass der Text die Intimsphäre von M.E. und die Privatsphäre des Beschwerdeführers im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, soweit der Presserat darauf eintritt.

2. Obschon ursprünglich kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Bekanntmachung des Namens von M.E. bestand, hat der «Bund» in seiner Ausgabe vom 18. Dezember 2002 nicht gegen die berufsethischen Pflichten verstossen, als er den bereits von praktisch allen Medien veröffentlichten Namen von M.E. mehrfach nannte. Deshalb weist der Presserat die Beschwerde gegen den «Bund» ab.

3. Die Meldung vom Suizidversuch von M.E. im «Blick» vom 16. September 2002 verstiess nicht gegen eine in der «Erklärung» aufgeführte Berufspflicht. In diesem Punkt wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Der im «Blick» vom 22. November 2002 erschienene Beitrag über den leiblichen Vater und die Vorgeschichte der Adoption von M.E. verletzte einerseits die Intimsphäre von M.E. und andererseits die Privatsphäre des Beschwerdeführers im Sinne von Ziffer 7 der «Erklärung». Ein überwiegendes öffentliches Interesse an den dort ausgebreiteten Tatsachen und Zitaten bestand nicht. Deshalb heisst der Presserat die Beschwerde in diesem Punkt gut.