Nr. 46/2005
Namensnennung in Unfallberichterstattung

(X. c. «Blick») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 25. November 2005

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I. Sachverhalt

A. In der Ausgabe vom 10. Mai 2005 berichtete die Zeitung «Blick» unter dem Titel «Hier überlebten 41 Schweizer» über ein Carunglück einer schweizerischen Reisegesellschaft in der Türkei. Im Artikel wurde unter Angabe von Vornamen und Initialen der Nachnamen erwähnt, dass « D. (77) und seine Frau (71) sowie E. hinausgeschleudert und getötet» worden seien. Und weiter: «Das Ehepaar D. hinterlässt zwei Töchter. Die eine, X., ist Präsidentin der Kantonalpartei Y. und engagierte Sozialarbeiterin.»

B. Am 12. Juli 2005 gelangte die anwaltlich vertretene X. an den Presserat und erhob Beschwerde gegen den «Blick» und die beiden Autoren des Artikels, Martin Reichlin und Beat Kraushaar. Sie rügte, mit der Namensnennung sei sie in ihrer Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») verletzt worden. Überdies sei sie nicht Präsidentin der Kantonalpartei Y. sondern lediglich einer lokalen Sektion.

C. In ihrer Beschwerdeantwort vom 19. September 2005 beantragte die ebenfalls anwaltlich vertretene «Blick»-Redaktion», die Beschwerde sei als unbegründet abzuweisen. Zwar sei X. irrtümlicherweise als Präsidentin der Kantonalpartei Y. bezeichnet worden. Aber auch als Präsidentin der Lokalsektion einer politischen Partei und als Nationalratskandidatin und Leserbriefschreiberin habe sie hinzunehmen, dass ihr Name in einem tragischen Zusammenhang genannt werde.

D. Der Presserat wies die Beschwerde der 1. Kammer zu, der Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Katharina Lüthi, Edy Salmina und Francesca Snider (Mitglieder) angehören.

E. Die 1. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 25. November 2005 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Ziffer 7 der «Erklärung» respektieren die Journalistinnen und Journalisten «die Privatsphäre der einzelnen Person, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» gebietet besondere Zurückhaltung bei Personen, «die sich in einer Notsituation befinden oder unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Dies gilt sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Familien und Angehörigen.» Die Richtlinie 8.3 auferlegt den Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt darüber hinaus die Pflicht, immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abwägen (vgl. hierzu auch die Stellungnahmen 12/1999, 25/2000 und 53/2003).

b) Nach der Richtlinie 7.6 ist die Namensnennung in der Medienberichterstattung ausnahmsweise zulässig, wenn sie durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Gemäss langjähriger Praxis des Presserats ist diese Zurückhaltung bei der Namensnennung nicht nur bei der Gerichtsberichterstattung, sondern grundsätzlich bei sämtlichen Medienberichten zu üben. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer ausnahmsweise namentlichen Berichterstattung ist insbesondere dann zu bejahen, wenn die betroffene Person eine wichtige gesellschaftliche Funktion wahrnimmt und der Gegenstand der Berichterstattung damit im Zusammenhang steht (Stellungnahme 7/2005).

2. a) Selbst wenn man davon ausgeht, wie dies «Blick» geltend macht, dass X. aufgrund ihrer Funktionen als Präsidentin einer lokalen Sektion einer politischen Partei, als Kandidatin auf einer Liste bei den Nationalratswahlen 2003 und als offenbar engagierte Leserbriefschreiberin eine (relative) Person des öffentlichen Interesses ist, erscheint ihre Namensnennung im Zusammenhang mit dem Unfalltod ihrer Eltern als offensichtlich ungerechtfertigt. Denn der gemäss der Richtlinie 7.6 erforderliche Zusammenhang zwischen der politischen Tätigkeit der Beschwerdeführerin und dem Gegenstand der Berichterstattung fehlt hier eindeutig. Ein solcher Zusammenhang bzw. ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Namensnennung lässt sich zudem auch sinngemäss nicht mit folgendem vom «Blick» vorgebrachten Argument konstruieren: «Wenn bei einem spektakulären Unfall mit einem Schweizer Reisecar Schweizer Reisende und schweizerisch-ausländische Doppelbürger im Ausland ins Leben kommen und zahlreiche andere verletzt werden, verlässt der Tod der Betroffenen die strikte Privatsphäre der Hinterbliebenen.» Diese Konstellation legitimiert zwar eine (zurückhaltende, auf die Gefühle der Betroffenen Rücksicht nehmende) Berichterstattung über dieses Ereignis, die aber ohne jeglichen Verlust an (wesentlichem) Informationsgewinn für die Leserschaft auch ohne die Nennung des Namens und der Funktion der Beschwerdeführerin hätte auskommen können.

b) Ebenso wenig kann eine namentliche Berichterstattung von Hinterbliebenen eines Unfallopfers damit gerechtfertigt werden, mit der Veröffentlichung einer Todesanzeige werde der Tod durch die Angehörigen des Verstorbenen in der Regel ohnehin zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht. Denn dies entspricht – vorbehältlich von Ausnahmefällen – wohl kaum den Intentionen der Hinterbliebenen. Auch die Veröffentlichung einer Todesanzeige ändert nichts daran, dass der Tod und vor allem dessen genaue Umstände grundsätzlich eine höchstpersönliche Angelegenheit des Verstorbenen und dessen Hinterbliebenen bleiben. Deshalb können die Medien aus der Veröffentlichung einer Todesanzeige weder die Einwilligung der Betroffenen zu einer identifizierenden und inhaltlich über den Inhalt der Todesanzeige hinausgehenden Berichterstattung noch ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer solchen ableiten (Stellungnahme 1/2003).

c) Schliesslich ist den Beschwerdegegnern zwar zuzugestehen, dass sich die Beschwerdeführerin nicht in einer «Notsituation» im Sinne der Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» befand, dass sie insbesondere nicht vom «Blick» persönlich belästigt wurde und dass die Namensnennung im Rahmen einer wertneutralen Schilderung des sozialen Umfelds der Opfer des Car-Unfalls erfolgte. Trotzdem wäre – wie generell bei der Unfallberichterstattung – aber gerade auch in Bezug auf die Namensnennung aus Rücksicht auf den auch vom «Blick» zugestandenen Schock und die Trauer von X. unmittelbar nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern von vornherein besondere Zurückhaltung angebracht gewesen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. «Blick» hat mit der Nennung des Namens und der gesellschaftlichen Funktion der Beschwerdeführerin, die keinerlei Zusammenhang mit dem tragischen Unfalltod ihrer Eltern hatte, die Pflicht zur Respektierung der Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») verletzt.

3. Aus der Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, bei der Berichterstattung über dramatische Ereignisse und Gewalt besonders sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abzuwägen, ist insbesondere auch in Bezug auf Namensnennung und identifizierende Berichterstattung von vornherein ein Gebot zu besonderer Zurückhaltung abzuleiten.