Nr. 9/2007
Lauterkeit der Recherche / Respektieren der Privatsphäre

(X. c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Presserates vom 21. März 2007

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Zusammenfassung

Resumé

Riassunto

I. Sachverhalt

A. Im «Tages-Anzeiger» vom 16. November 2006 erschien unter der Rubrik «Aktuell» ein Bericht mit dem Titel «Wie und wo den Jungen der Film riss». In Form von Testimonials berichten sechs Jugendliche, wovon zumindest vier Minderjährige, über ihre Alkoholexzesse. Zu jedem Statement war der in grossem Lettern gesetzte Name, der Wohnort oder Bezirk sowie ein Foto abgedruckt. Einer der Jugendlichen ist der 16-jährige Y. aus Z.

Die fragliche Seite des «Tages-Anzeigers» enthält auf der linken Seite einen von Benjamin Styger verfassten Artikel, der anhand einer Studie der Fachstelle für Alkohol- und Drogenprobleme über die Zunahme des «Kampftrinkens» unter Jugendlichen berichtete. Am Ende des einspaltigen Berichtes wird auf eine «Umfrage gestern Nachmittag in W.» verwiesen, welche aufzeige, dass «Kampftrinken» tatsächlich «in» sei. Auf der rechten Seite wird, ebenfalls einspaltig, unter dem Titel «Saufen bis zum Umfallen» in der Art eines Kommentars, ebenfalls aus der Feder von Benjamin Styger, dargestellt, wie der Autor an der Berufsschule W. Jugendliche sucht, welche bereit sind, über Alkoholexzesse zu berichten und wie er – zu seinem grossen Erstaunen, wie er behauptet – eine halbe Stunde später bereits sechs Erfahrungsberichte besitze. Eben diese Erfahrungsberichte werden im Zentrum der Seite, dominant und eindeutig als Blickfang der ganzen Berichterstattung, in der erwähnten Art dargestellt.

B. Am 23. November 2006 gelangte X., die Mutter des erwähnten Y., mit einer Beschwerde an den Presserat. Darin macht sie geltend, die Berichterstattung verstosse gegen folgende Richtlinien zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»:

– Ziffer 4.5 (Interviews), Ziffer 4.6 (Recherchegespräche), indem Benjamin Styger es unterlassen habe, ihren Sohn darüber zu informieren, dass Interviews im Normalfall autorisiert werden müssen und er zumindest eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen dürfe. Diese Verletzung wiege insofern besonders schwer, als es sich bei den Befragten mehrheitlich um Minderjährige handle.

– Ziffer 7.4 (Kinder) sei verletzt, indem gerade die Offenheit der Befragten zeige, dass Minderjährige die Konsequenzen von Aussagen in der breiten Öffentlichkeit nicht abschätzen könnten, beispielsweise im vorliegenden Fall die Folgen ihrer Äusserungen in der Schule und bei einer Stellensuche.

– Ziffer 7.6 (Namensnennung) sei verletzt, indem das Vorgehen des Journalisten für die Beschwerdeführerin als Elternteil und die Geschwister der Eltern eine Persönlichkeitsverletzung darstelle. Alle Familienangehörigen seien bereits von Fremden, die den Artikel gelesen hätten, darauf angesprochen worden. Die Identifikationsmöglichkeit stelle, auch wenn es sich vorliegend nicht um die Befragung aus Anlass eines Gerichtsverfahrens handle, eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Familienangehörigen dar, zumal jede Veröffentlichung auch später noch über das Internet und Suchdienste wie Google erfragt werden könne.

C. Am 8. Januar 2007 beantragte die vom Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene Redaktion des «Tages-Anzeigers», die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Im Einzelnen wurde Folgendes geltend gemacht:

– Obschon es sich beim fraglichen Text nicht um ein Interview handle und das Gespräch des Journalisten kein Recherchegespräch dargestellt habe, sei es wohl sinnvoll, die Richtlinie 4.6 auf den Fall anzuwenden, weil die Aussage des Sohnes der Beschwerdeführerin als Zitat publiziert worden sei. Der Sohn der Beschwerdeführerin wie auch die anderen Befragten seien sehr wohl darüber informiert gewesen, was das Ziel des Gespräches sei und hätten gewusst, dass die abgegeben Statements in der Regionalbeilage rechtes Zürichseeufer des «Tages-Anzeigers» erscheinen sollten. Der Autor erinnere sich noch daran, dass die jungen Leute sich über die zu erwartenden Reaktionen der Eltern amüsiert hätten. Die junge Generation pflege eben einen wesentlich entspannteren Umgang mit den Medien als die Generation der Eltern.

– Die Beschwerde behaupte zu Recht nicht, dass Zitate von Minderjährigen durch ihre gesetzlichen Vertreter zu autorisieren seien. Entscheidend sei die Urteilsfähigkeit der Befragten. Y. sei 16 Jahre alt und habe in diesem Alter die Gabe, «vernunftgemäss zu handeln und Folgen des eigenen Handelns abzuschätzen». Alle Befragten hätten dem Autor einen «absolut urteilsfähigen Eindruck» gemacht, wobei ihm nicht entgangen sei, dass die Jugendlichen «dem geplanten Beitrag mit einer gewissen Sorglosigkeit entgegenblickten». Das habe aber nicht geheissen, dass sie nicht in der Lage gewesen seien, die Konsequenzen der Publikation abzuschätzen. Der Inhalt eines Statements «könnte allenfalls nach einem besonderen Schutz der Jugendlichen rufen». Es sei «einzuräumen, dass die befragten Jugendlichen sehr ehrliche und sehr persönliche Antworten auf die Frage nach ihrem Umgang mit Alkohol gegeben» hätten. Diese seien aber abgefedert durch den Umstand, dass mehrere Jugendliche befragt worden seien und somit der Einzelne als Teil einer grösseren Gruppe erscheine und zum anderen seien die Antworten mit einem redaktionellen Bericht und insbesondere einem Kommentar versehen worden. Die Richtlinie 7.4 sei deshalb mit diesem Beitrag nicht verletzt worden.

– Ebenso wenig sei die Richtlinie 7.6 verletzt. Der Sohn der Beschwerdeführerin sei urteilsfähig und im Stande, die Konsequenzen der Publikation abzuschätzen. Es sei ihm zu jeder Zeit bewusst gewesen, dass die Veröffentlichung mit dem richtigen Namen und einem Bild erfolgen werde. Die gemäss Richtlinie 7.6 verlangte Einwilligung habe vorgelegen. Auch eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten des Befragten und seiner Angehörigen sei vorliegend nicht gegeben. Dass Familienangehörige von Fremden auf den beanstandeten Artikel angesprochen worden seien, begründe noch keine solche Persönlichkeitsrechtsverletzung.

– Es sei weder Aufgabe des Presserates noch dessen Kompetenz, einem Medium Anweisungen über die Archivierung und Löschung von Beiträgen zu erteilen und deshalb komme eine Entfernung des Beitrages aus den elektronischen Archiven auch nicht in Frage.

– Zur Illustration des Vorgehens, zu verschiedenen Themen Testimonials mit Namensnennung und Fotografie erscheinen zu lassen, legt die Beschwerdegegnerin einen Bericht von «20 Minuten» über negative Erfahrungen mit der Polizei (die Befragten sind von 19 bis 29 Jahre alt, nur eine Befragte ist 16 Jahre alt), eine Befragung von «20 Minuten» zur Frage «Was sagen Sie zur Weihnachtsbeleuchtung an der Bahnhofstrasse?» und eine Google-Recherche bei, gemäss welcher eine gezielte Suche nach dem Namen des Sohnes der Beschwerdeführerin erfolglos blieb.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Claudia Landolt Starck, Andrea Fiedler, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann. Daniel Suter, Mitarbeiter des «Tages-Anzeigers», trat von sich aus in den Ausstand.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. März 2007 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Die Ziffer 4 der «Erklärung» (Lauterkeit der Recherche) untersagt den Journalistinnen und Journalisten, bei der Beschaffung von Informationen, Dokumenten und Bildern unlautere Methoden zu verwenden. Die zugehörige Richtlinie 4.5 (Interview) geht davon aus, dass das journalistische Interview auf einer Vereinbarung zwischen zwei Partnerinnen/Partnern basiert, welche die dafür geltenden Regeln festlegen. Im Normalfall müssen Interviews autorisiert werden. Bei Recherchegesprächen (Richtlinie 4.6) sollten J
ournalistinnen und Journalisten ihre Gesprächspartner über das Ziel des Recherchegesprächs informieren. Medienschaffende dürfen Statements ihrer Gesprächspartner bearbeiten und kürzen, soweit dies die Äusserungen nicht entstellt. Der befragten Person muss bewusst sein, dass sie eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen darf. Der Sinn und Zweck der Autorisierung besteht darin, dem Interviewten die Möglichkeit zu geben, Korrekturen bei der Niederschrift vorzunehmen. Die interviewte Person darf bei der Autorisierung keine wesentlichen Änderungen vornehmen (Veränderungen des Sinnes, Streichung oder Hinzufügung von Fragen). Sie kann aber offensichtliche Irrtümer korrigieren. Auch bei starken Kürzungen soll die interviewte Person ihre Äusserungen im Text wiedererkennen können.

b) Vorliegend hat Y. zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht, die mit dem Autor des beanstandeten Beitrags vereinbarten Rahmenbedingungen der Befragung seien nicht eingehalten worden. Weder er noch die Beschwerdeführerin behaupten, sein Statement sei falsch oder verzerrt wiedergegeben worden. Der «Tages-Anzeiger» macht zudem geltend, die sechs im Bericht zitierten und abgebildeten Jugendlichen seien genau darüber informiert gewesen, wo und wie ihre Aussagen veröffentlicht würden. Es sei ihnen auch klar gewesen, dass die Zitate nicht ohne ihre Einwilligung veröffentlicht werden dürften. Unter diesen Umständen war die Recherche des «Tages-Anzeigers» nicht unlauter und eine Verletzung der Ziffer 4 der «Erklärung» ist dementsprechend zu verneinen.

2. a) Zutreffend ist hingegen und implizit auch von der Beschwerdegegnerin zugestanden, dass die Medien sich im Umgang mit Kindern und Jugendlichen besonderer Sorgfalt und Zurückhaltung zu befleissigen haben. In Bezug auf die von der Beschwerdeführerin weiter als verletzt gerügte Ziffer 7 der «Erklärung» (Respektierung der Privatsphäre) und der diesen zugehörigen Richtlinien 7.4 (Kinder) und 7.6 (Namensnennung) ist entsprechend zu prüfen, ob die Einwilligung von Y. zur Veröffentlichung seines Statements im beanstandeten Medienbericht berufsethisch beachtlich war oder ob der Journalist im Gegenteil von einer Veröffentlichung – zumindest in der gewählten Form – hätte absehen sollen.

b) Der Presserat hat parallel mit der vorliegenden eine weitere Beschwerde behandelt, die die Frage aufwarf, ob ein Radioreporter eine minderjährige Tochter nur mit vorheriger Einwilligung der Eltern kontaktieren und befragen darf. Und er ist dabei zu folgenden Schlüssen gelangt (Stellungnahme 8/2007): Minderjährige sind mit 14 Jahren «in der Regel kognitiv weit genug entwickelt, um eine Lebenssituation realistisch einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Mit der Urteilsfähigkeit erweitert sich auch die Freiheit, eine unabhängige Meinung – allenfalls auch in Medien – äussern zu dürfen, ohne die Eltern um Erlaubnis zu fragen. Die Meinungsäusserungsfreiheit von urteilsfähigen Minderjährigen gibt aber Medienschaffenden noch nicht das Recht, sämtliche Äusserungen von Jugendlichen auch zu veröffentlichen. Medienschaffende haben in der Verwertung von Informationen, die sie von Minderjährigen erhalten, eine erhöhte Verantwortung. Auch urteilsfähige Jugendliche sind oft nicht in der Lage, die Tragweite von Medienberichten realistisch einzuschätzen. Deshalb müssen Medienleute manchmal Jugendliche – gerade bei so heiklen Themen wie Sexualität und Straftaten – vor sich selbst schützen. Bei der Veröffentlichung von Aussagen und Bildern Minderjähriger ist mehr Zurückhaltung zu üben, als wenn es sich um Aussagen von Erwachsenen handelt. Im Einzelfall ist auch die Meinungsäusserungsfreiheit der Jugendlichen gegen die Pflicht der Eltern abzuwägen, für das Wohl ihres Kindes zu sorgen.»

c) Entsprechend war – wie in Erwägung 1 ausgeführt – nicht die Befragung der Jugendlichen im Lehrlingsalter problematisch, sondern vielmehr, was der «Tages-Anzeiger» daraus gemacht hat. Zurückhaltung ist auch (und das zeigt sich vielleicht gerade hier) im Zusammenhang mit dem sprichwörtlichen «jugendlichen Übermut» geboten. Auch der berichtende Journalist wurde sich, wie er selbst schreibt, der Tatsache bewusst, dass die befragten Jugendlichen teilweise durchaus mit dem Umstand kokettierten, dass ihre Aussagen bei den Eltern und sonstigen Angehörigen für Aufregung sorgen würden. Gerade weil aber Thema und Art der Befragung offenbar diese Lust zu schüren geeignet waren, «enfant terrible» zu spielen, vielleicht auch sich seiner jugendlichen Schandtaten zu rühmen, wäre hier ganz besondere Rücksichtnahme und Zurückhaltung geboten gewesen. Die Aufgabe des recherchierenden Journalisten hätte darin bestanden, Jugendliche, die ihm freimütig Auskunft gaben, von sich aus und auch ungefragt davor zu schützen, durch eine unnötige Identifikation mögliche Nachteile zu erfahren, die sie im Augenblick des Interviews abzuschätzen gar nicht in der Lage waren, der Journalist aber, aus seiner Lebens- und Berufserfahrung, durchaus hätte erfassen müssen. Die namentliche, identifizierende Wiedergabe ist auch bei Statements urteilsfähiger Jugendlicher möglich, hängt allerdings davon ab, wie heikel eine Aussage/ein Thema ist. Zwar wiegt das Odium eines früheren Alkoholexzesses gesellschaftlich wesentlich weniger schwer als die Eröffnung, Kind einer verurteilten Mörderin zu sein (Stellungnahme 26/2002). Dennoch war der Journalist bei einer sorgfältigen Abwägung der Interessen auch hier verpflichtet, das Wohl des Jugendlichen über dessen kurzfristigen Wunsch zustellen, mit seinem öffentlichen Bekenntnis zu einem «Filmriss» anzugeben und seine Eltern zu provozieren. Zumal der «Tages-Anzeiger» bei dieser Abwägung auch hätte berücksichtigen müssen, dass die sechs abgedruckten Testimonials nicht weniger eindrücklich oder repräsentativ gewesen wären, wenn sie ohne Fotografie, Namensnennung und Ortsangabe publiziert worden wären. Oder man hätte sie zumindest so verfremden können, dass bei gleichem Informationsgehalt ein Rückschluss auf die konkreten Personen nicht mehr möglich war. Mit der Veröffentlichung des Statements von Y. mit Bild und Namensnennung hat der «Tages-Anzeiger» deshalb die Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt.

d) An diesem Befund ändern für den Presserat auch die von der Beschwerdegegnerin ins Feld geführten Vergleichsbeispiele aus «20 Minuten» nichts. Bei der Umfrage zur Weihnachtsbeleuchtung ging es um ein wesentlich weniger heikles Thema, währenddem bei der Umfrage zu negativen Erfahrungen mit der Polizei mit Ausnahme eines 16-jährigen Mädchens – das aber nicht von eigenen Erfahrungen, sondern von solchen eines Kollegen berichtete – sich nur Erwachsene äusserten. Bei beiden Fällen bestand damit kaum die Gefahr, dass die befragten Personen mit ihren Äusserungen und Schilderungen sich selbst unbedacht in ein negatives Licht hätten stellen können.

III. Feststellungen

1. Der Artikel des «Tages-Anzeigers» vom 16. November 2006 «Wie und wo den Jungen der Film riss» verletzt die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Journalistinnen und Journalisten dürfen zwar einen 16-jährigen urteilsfähigen Jugendlichen auch ohne Einwilligung der Eltern zu aktuellen Themen befragen. Der Autor des Berichts wäre jedoch verpflichtet gewesen, den jugendlichen Sohn der Beschwerdeführerin trotz dessen Einwilligung vor einer ihn identifizierenden Berichterstattung zu einem heiklen Thema zu schützen.

2. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. Der «Tages-Anzeiger» hat die Ziffer 4 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Lauterkeit der Recherche) nicht verletzt.

Zusammenfassung

Resumé

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