Nr. 2/2011
Kommentarfreiheit / Unterschlagung von Informationen

(Eidgenösische Kommission gegen Rassismus c. «SonntagsBlick») Stellungnahme des Presserates vom 3. Februar 20

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I. Sachverhalt

 A. Am 29. August 2010 veröffentlicht der «SonntagsBlick» eine Kolumne von Frank A. Meyer mit dem Titel «Im Namen der Freiheit». Darin äussert sich der Autor zur Debatte rund um eine Empfehlung des Erziehungsrats des Kantons St. Gallen an die Gemeinden, muslimischen Mädchen beim Schulbesuch das Tragen des Kopftuchs zu verbieten. Aufhänger der Kolumne ist eine Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) zu diesem «Kopftuchverbot». Nach Auffassung der EKR verletze die Empfehlung «das Rechtsgleichheitsgebot bezüglich der Religionsausübung».

Eine Aussage der EKR-Stellungnahme sei dabei besonders interessant: «Das Kopftuchverbot, so die Kommission, sei der Angriff ‹auf ein für die Frauen verbindliches religiöses Gebot›.» Mit anderen Worten, folgert der Autor, sei das Gebot also ein Verbot, das Haar frei zu tragen. Das Kopftuch sei kein Symbol der islamischen Lehre wie etwas das christliche Kreuz oder der jüdische Davidsstern, sondern der «öffentlich sichtbare Ausdruck religiöser Unterdrückung von muslimischen Mädchen und Frauen. Der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus kommt das Verdienst zu, dies offiziell festgestellt zu haben – ‹ein für die Frauen verbindliches religiöses Verbot›». Es bedürfe allerdings nicht dieser «Islam-Exegese», um zu wissen, was das Kopftuch bedeute. «Man muss nur hinschauen, wie in der islamischen Welt mit Frauen verfahren wird, die gegen ihre Stigmatisierung durch unterdrückerische Kleidervorschriften verstossen. (…) Wie ist es zu erklären, das irgendjemand vor diesem absolut unbestreitbar brutalen und auch blutigen Hintergrund behaupten kann: Kopftuch und Verschleierung bis hin zur Burka seien legitimiert durch die Religionsfreiheit? Ja sie seien geradezu ein Freiheitsrecht der Frau?»

Zu erklären sei dies «durch die zynische Umwertung unserer Werte: Die Freiheit der Frau wird der Freiheit der islamischen Religion untergeordnet. So erscheint die Unterdrückung der Frau plötzlich als religiöses Freiheitsrecht. (…) Die untergegangene südafrikanische Apartheid für Schwarze ist gleichzusetzen mit der heute geltenden islamischen Apartheid für Frauen. Sie wird auch bei uns praktiziert. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus rechtfertigt diesen Rassismus gegen Frauen – im Namen der Freiheit.»

B. Am 30. September 2010 beschwert sich Georg Kreis namens der EKR beim Schweizer Presserat. Die EKR habe sich am 25. August 2010 in einem Pressecommuniqué zur Empfehlung des St. Galler Erziehungsrats geäussert. Darin halte sie fest, dass das Kopftuch «in den Bereich des religiösen Selbstverständnisses» falle. Im weiteren werde gesagt, dass es «ein für die betroffenen Frauen verbindliches religiöses Gebot sei». Frank A. Meyer, der nach eigenen Aussagen das EKR-Communiqué nie im Original gesehen, sondern sich lediglich auf einen Bericht der NZZ abgestützt habe, zitiere die EKR zweimal verkürzt, in dem er, wie die NZZ, das Wort «betroffene» Frauen nicht referiere. Der Kommentator unterstelle der EKR damit zu Unrecht die Aussage, das Tragen eines Kopftuchs sei für alle muslimischen Frauen ein verbindliches Gebot.

Als Präsident der EKR habe er darauf hin den Abdruck einer Berichtigung gefordert, die klargestellt hätte, dass sich die Aussage der Kommission lediglich auf einen Teil der islamischen Frauen beziehen, nach deren Selbstverständnis dieses Gebot verbindlich sei. Der Abdruck des Texts sei jedoch im letzten Moment von der Chefredaktion gekippt worden.

Er bitte den Presserat zu prüfen, ob der «SonntagsBlick» mit der Weglassung nicht die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Unterschlagung von Informationen) verletzt habe. Und falls der Kolumnist, indem er sich auf die NZZ stützte, keine beabsichtigte Unterlassung begangen habe, stelle sich die Frage, ob die Zeitung nicht wenigstens nachträglich verpflichtet gewesen wäre, eine Berichtigung zu veröffentlichen (Ziffer 5 der «Erklärung»).

C. Am 16. November 2010 weist die anwaltlich vertretene Redaktion «SonntagsBlick» die Beschwerde als unbegründet zurück. Bei der Beschwerde gehe es um ein einziges Wort. «Die Sache», um die es gehe, sei «von diesem Wort völlig unabhängig». Beschwerdegrund sei vielmehr der Ärger von Georg Kreis über Frank A. Meyers Kommentar und dessen Interpretation. Unverständlich sei auch, weshalb nur vom «SonntagsBlick» eine Korrektur verlangt werde, nicht aber von der NZZ, die «den gleichen lässlichen Fehler begangen» habe wie der «SonntagsBlick».

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Jan Grüebler, Claudia Landolt Starck, Peter Liatowitsch, Markus Locher, Daniel Suter und Max Trossmann.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 3. Februar 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg.

 

II. Erwägungen

1. a) In seiner Praxis zur Kommentarfreiheit (Ziffer 2 der «Erklärung) betont der Presserat den grossen Freiraum des Kommentars. Allerdings sollten sich in einem Kommentar geäusserte Meinungen besonders auch dann durch Fairness auszeichnen, wenn Einschätzungen von Personen bzw. deren Fähigkeiten wiedergegeben werden (Stellungnahme 3/1998). Gerade bei pointierter Kritik sind die Medienschaffenden verpflichtet, dem Publikum die den negativen Wertungen zugrundeliegenden sachlichen Grundlagen mitzuliefern (29/2001).

b) Im weit auszulegenden Rahmen der Kommentarfreiheit ist es dem «SonntagsBlick» völlig unbenommen, die Haltung der Beschwerdeführerin zum St. Galler «Kopftuchverbot» scharf zu kritisieren und ihr vorzuwerfen, sie gewichte die Religionsfreiheit derart unverhältnismässig, dass dabei die individuelle Freiheit der Frau auf der Strecke bleibe. Näher zu prüfen ist hingegen, ob der Kommentator der Leserschaft die seiner harschen Kritik zugrundeliegenden Fakten – die Haltung der EKR, wie sie in der Medienmitteilung vom 25. August 2010 zum Ausdruck kommt – korrekt dargelegt hat.

c) Unbestritten ist dabei, dass sich Frank A. Meyer nicht direkt auf das Pressecommuniqué der Beschwerdeführerin, sondern auf einen NZZ-Artikel vom 26. August 2010 stützt. Bereits die NZZ verkürzt das Zitat, wonach das Tragens eines Kopftuchs «ein für die betroffenen Frauen verbindliches religiöses Gebot sei» um das Wort «betroffenen». Diese Kürzung ändert den Sinn der beanstandeten Kolumne nach Auffassung des Presserates allerdings nicht wesentlich. Denn auch wenn man das im Text des «SonntagsBlick» zweimal wiedergegebene Zitat um das Wort «betroffenen» ergänzt, ändert dies nichts an der Behauptung des Kolumnisten, wonach die EKR «offiziell festgestellt» habe, das Tragen eines Kopftuchs sei im Islam ein für alle Frauen verbindliches religiöses Gebot.

d) Problematisch ist deshalb nicht die Kürzung des Zitats, sondern vielmehr dessen isolierte Wiedergabe und verallgemeinernde Umdeutung in einem veränderten Kontext. Denn sowohl bei Konsultation des Pressecommuniqués vom 25. August als auch des NZZ-Artikels vom 26. August 2010 kommt der Presserat zum Schluss, dass Frank A. Meyer die Haltung der EKR entstellt wiedergibt.

Im Pressecommuniqué heisst es nämlich: «Die EKR sieht in dem (…) angestrebten Kopftuchverbot für Schülerinnen eine gegen die muslimische Minderheit gerichtete Aktion und hält diese darum für unstatthaft.» Das Kopftuch falle in den Bereich des religiösen Selbstverständnisses. Ein Kopftuchverbot sei zwar gemäss einem Bundesgerichtsentscheid von 1997 für Lehrerinnen vertretbar, «nicht aber (…) für Schülerinnen und Arbeitnehmerinnen. Dieses ist nicht nur ein Angriff auf ein für die betroffenen Frauen
verbindliches religiöses Gebot, es verletzt auch das Prinzip der Gleichbehandlung, weil es nicht analog für andere Religionsgemeinschaften gilt.» Ein Kopftuchverbot fördere die Integration nicht, sondern hemme diese im Gegenteil. Konstruktive Integration ziele nicht auf die Auslöschung von Unterscheidungsmerkmalen.

Mit anderen Worten kann entgegen der Behauptung des Kolumnisten keine Rede davon sein, dass die Beschwerdeführerin in ihrer Stellungnahme den Standpunkt vertreten hätte, das Kopftuch sei ein religiöses Gebot, das für alle Musliminnen verbindlich ist. Ebenso wenig ist eine derart verallgemeinernde Aussage dem Bericht der NZZ vom 26. August 2010 («Kopftuch verletzt Gleichheitsgebot») zu entnehmen. Dieser gibt die Haltung der EKR – trotz Weglassung des Wortes «betroffenen» im umstrittenen Zitat – im Gegensatz zum «SonntagsBlick» vielmehr differenziert wieder. Dem Text ist zu entnehmen, dass das Kopftuchgebot nach Auffassung der EKR zu einer Ungleichbehandlung der Religionen in Bezug auf die Freiheit der Religionsausübung führt, dass sie die Einschränkung des Tragens von Kopftüchern zwar für Lehrerinnen, nicht aber für Schülerinnen und Arbeitnehmerinnen für vertretbar halte und dass sie ein solches Verbot als integrationsbehindernd ansehe.

Darüber hinaus wäre es dem Kolumnisten ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen, die auf der Website des Bundes einfach auffindbare Medienmitteilung der Beschwerdeführerin zu konsultieren. Zumal er der Leserschaft nicht offen legt, dass sich das Zitat lediglich auf eine Sekundärquelle stützt. Mithin ist die Beschwerde in Bezug auf die geltend gemachte Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» (Entstellung von Informationen) gutzuheissen.

2. Gibt der Kommentar des «SonntagsBlick» vom 29. August 2010 die ihm zugrundeliegenden Fakten entstellt wieder, wäre die Redaktion verpflichtet gewesen, eine Berichtigung zu veröffentlichen. Gemäss der Richtlinie 5.1 sind Medienschaffende verpflichtet, die Berichtigungspflicht «unverzüglich» von sich aus wahrzunehmen. Deshalb spielt es keine Rolle, ob die EKR eine ausdrückliche Berichtigung verlangt hat. Spätestens mit der Zustellung des berichtigenden Textes von Georg Kreis hatte die Redaktion von ihrem Fehler Kenntnis. Ob daneben auch die NZZ eine Berichtigung veröffentlichte, soweit sie dazu überhaupt verpflichtet war, hat auf die Berichtigungspflicht des «SonntagsBlick» keinen Einfluss.

 

III. Feststellungen

 1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Der «SonntagsBlick» hat mit der entstellenden Wiedergabe und Umdeutung eines Zitats aus einer Stellungnahme der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus im Kommentar «Im Namen der Freiheit» in der Ausgabe vom 29. August 2010 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Entstellung von Informationen) verletzt.

3. Weil die Redaktion es unterliess, die entstellende Information zu berichtigen, hat sie zudem die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigung) verletzt.