Nr. 19/2016
Kommentarfreiheit / Sachlich ungerechtfertigte Anschuldigungen

(X. c. «Blick am Abend») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 6. Juni 2016

Drucken

I. Sachverhalt

A. «Blick am Abend.ch» veröffentlichte am 3. April 2015 einen Artikel unter dem Titel «Die 11 grössten Verräter der Geschichte». Der Obertitel lautet: «Sie handelten wie Judas». Autor Leo Wehrli listet darin die elf grössten Verräter der Weltgeschichte, «die für Aufsehen sorgten, Tode verursachten oder ganze Länder zu Fall brachten» auf. Namentlich erwähnt werden: Akechi Mitsuhide, Vidkun Quisling, Brutus, Wang Jingwei, Mordechai Vanunu, Robert Hanssen, Dona Marina, Jane Fonda, Benedict Arnold, Mir Jafar sowie Eveline Widmer Schlumpf.

B. Am 4. April 2015 beschwerte sich X. beim Schweizer Presserat gegen den im «Blick am Abend» veröffentlichten Bericht. Er macht geltend, als Nummer 11 stehe Eveline Widmer-Schlumpf auf der Liste. Dass sie 2007 ihre demokratische Wahl zur Bundesrätin entgegen der Fraktionslinie ihrer damaligen Partei angenommen habe, stelle «Blick am Abend» in eine Reihe mit den Taten des norwegischen Nazi-Kollaborateurs Vidkun Quisling und verschiedenen anderen, historischen Hochverrätern. Der Artikel suggeriere, dass auch Widmer-Schlumpf mit der Annahme ihrer Wahl Verrat begangen habe und dies in einem Ausmass, das es rechtfertige, sie eine der grössten «Verräterinnen» der Geschichte zu nennen. Dieser Vergleich bedeute ausserdem, dass die Annahme der Wahl zur Bundesrätin als «Hochverrat» bezeichnet werden dürfe und diffamiere Eveline Widmer-Schlumpf auf mehrere Arten. Damit verletze der Autor Ziffer 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden: «Erklärung»).

C. In seiner Stellungnahme vom 22. Juni 2015 beantragte Peter Röthlisberger, Chefredaktor von «Blick am Abend», die Beschwerde abzuweisen. Der Artikel «Die 11 grössten Verräter der Weltgeschichte» sei auf der Internet-Site von «blickamabend.ch» am Karfreitag, den 3. April 2015, veröffentlicht worden. Anlass dazu sei die Rolle von Judas Ischariot in der Passionsgeschichte gewesen. Ausgehend von der biblischen Figur liste der Autor weitere Figuren der Weltgeschichte auf, die als Verräter an einem Volk, einer Sache oder an einer Idee gelten könnten und darum Einlass in die Geschichtsbücher gefunden hätten. Es gebe unzählige Personen der älteren und jüngeren Geschichte, die sich für einen Platz in der Aufzählung eignen würden. Jede solche Liste bleibe unvollständig. Es sei nachvollziehbar, dass die vom Beschwerdeführer beanstandete Auswahl – insbesondere die Nennung von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf – sehr subjektiv erscheine. Für den Leser erschliesse sich jedoch klar, dass es sich um keine abschliessende Aufzählung handle. Dazu sei der Text, der den Fall von Widmer-Schlumpf schildert, sehr zurückhaltend formuliert und der Autor bemühe sich um eine objektive Einordnung. «Verrat» sei keine eng definierte, wissenschaftlich streng abgrenzbare Kategorie. Die Grenze sei fliessend, wo Loyalität aufhöre und Verrat beginne. Dazu komme, dass die Spannbreite des Sprachgebrauchs, was als Verrat gelte, extrem weit sei: Ein Ehepartner werde den Seitensprung des anderen als Verrat qualifizieren. Ebenso könne man einen Spion, der Staatsgeheimnisse an Dritte weitergebe, ohne weiteres mit dem gleichen Begriff betiteln. Darum erscheine es schwierig, eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» nachzuvollziehen, wie sie der Beschwerdeführer geltend mache. Dies, weil gar nicht so klar sei, warum die Erwähnung in der Liste überhaupt einer Anschuldigung gleichkommen solle. Dazu liefere die Beschwerdeschrift keinen Anhaltspunkt. Hinzu komme, dass Verrat gemeinhin auch sehr subjektiv empfunden werde. Der Vorwurf der SVP, Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf habe ihre Partei verraten, könne gar nicht objektiviert und damit auch nicht widerlegt werden. Das werde im Text zu Widmer-Schlumpf auch klar herausgearbeitet. Nirgends stehe, dass irgendjemand ausserhalb der SVP diese Sicht teile, insofern könne keine Beanstandung bezüglich Ziffer 7 vorliegen. Den Vorwurf des Verrats an der eigenen Partei habe zudem nicht erst die SVP erhoben. Otto Stich und Willi Ritschard hätten ihre Sozialdemokratische Partei durch die Annahme der Wahl in den Bundesrat ebenso sehr auf eine harte Probe gestellt, die Einschätzung, das sei Verrat, sei damals ebenfalls gegenüber amtierenden Bundesräten erhoben worden. Zudem: Die Redaktion habe nichts getan, um die kritischen Kommentare gegenüber der Liste zu unterdrücken. Nationale und kantonale Politikerinnen und Politiker hätten ihre Sicht unterhalb des Artikels darlegen dürfen. Die Redaktion habe es selbst zugelassen, dass die Kommunikationschefin des Eidgenössischen Finanzdepartements ihre direkte Chefin in einem solchen Kommentar verteidigen und gleichzeitig auch ihre persönliche Kritik am Artikel anbringen konnte. Alle Kommentare seien weiterhin greifbar.

D. Am 18. April 2016 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 6. Juni 2016 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gestützt auf Ziffer 7 der «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten gehalten, sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen zu unterlassen. Im Alt-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf betreffenden Abschnitt des Artikels wird festgehalten, Widmer-Schlumpf habe 2007/2008 die Politlandschaft Schweiz aufgewirbelt. Nachdem die Vereinigte Bundesversammlung sie anstelle des amtierenden Christoph Blocher zum Bundesrat gewählt hatte, habe ihre Partei, die SVP, sie vor eine schwierige Wahl gestellt: Falls sie den Posten annehmen sollte, verliere sie jegliche Unterstützung der Partei. Widmer-Schlumpf habe sich davon nicht einschüchtern lassen und die Position angenommen. Hochverrat in den Augen der SVP. Als Reaktion habe sie Widmer-Schlumpf aus der Partei werfen wollen, was sich allerdings juristisch nicht habe umsetzen lassen. Die gesamte SVP Graubünden hätte ausgeschlossen werden müssen. So sei es dann auch passiert. Mit Unterstützung von Dissidenten aus anderen Landesteilen hätten die Ausgestossenen daraufhin die BDP Graubünden und schliesslich die BDP gegründet. Soweit der vom Beschwerdeführer kritisierte Artikel. Darin werden offensichtlich keine sachlich nicht gerechtfertigten Anschuldigungen geäussert, sondern in sachlichem Ton die Ereignisse von 2007/2008 rund um die Wahl von Widmer-Schlumpf wiedergegeben. Aus dem Artikel geht auch klar hervor, dass die Annahme der Wahl für ihre damalige Partei Hochverrat darstellte und es sich dabei nicht um eine allgemeingültige Wertung handelt. Insofern ist der Artikel nicht zu beanstanden.

2. Zu fragen ist aber, ob der Titel «Die 11 grössten Verräter der Geschichte» nicht eine unzulässige Überspitzung darstellt bzw., ob die Bezeichnung Verräter vor der «Erklärung» standhält. Ziffer 2 der «Erklärung» verlangt von Journalisten, dass sie die Freiheit der Information, die sich daraus ergebenden Rechte, die Freiheit des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufs verteidigen. Die zugehörige Richtlinie 2.3 verpflichtet Journalistinnen dazu, darauf zu achten, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann. Aus der Verbindung von Titel und Text zu Eveline Widmer-Schlumpf ergibt sich, dass diese für ihre damalige Partei, die SVP, eine Verräterin war. Diese Wertung ist für die Leserschaft ohne Weiteres erkennbar, sie beruht auf den faktischen Grundlagen, welche ihrer Wahl in den Bundesrat zugrunde lagen, wa
s für den Leser offenliegt. Allerdings nimmt der Titel der Zusammenstellung der «11 grössten Verräter der Geschichte» die Freiheit des Kommentars nach Ansicht des Presserats sehr weitgehend in Anspruch. Inhaltlich sind die Verräter und Verräterinnen, welche die grössten der Geschichte sein sollen, auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Je nach Perspektive gelten einige davon den einen als Verräter, anderen sogar als Heldinnen oder Helden. In den Texten kommt das differenziert zum Ausdruck, der Titel selbst schert jedoch alle über einen – negativen – Leisten. Die Empörung einer weiten Leserschaft über den Einbezug von Widmer-Schlumpf ist deshalb für den Presserat nachvollziehbar. Er löst Unbehagen aus. Im Ergebnis kommt der Presserat jedoch zum Schluss, dass der Titel durch die Kommentarfreiheit gedeckt ist.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «Blick am Abend» hat mit dem Artikel «Die 11 grössten Verräter der Geschichte» Ziffer 7 (Unterlassen sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) und Ziffer 2 (Kommentarfreiheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.